06. November 2021
FDP und Grüne wollen in der Ampelkoalition die Bahn zerschlagen. Statt mehr Privatisierungen brauchen wir Mobilität in öffentlicher Hand.
Neoliberale Pläne für die Deutsche Bahn
Bereits während der Koalitionsverhandlungen schlägt das politische Zentrum rund um die neue Ampelkoalition zurück. Am Donnerstag berichtete der Spiegel über die alarmierenden verkehrspolitischen Pläne von FDP und Grünen: In den Koalitionsgesprächen zur Ampelkoalition treiben die Parteien gemeinsame Pläne zur Zerschlagung der Deutschen Bahn voran. Dieses Vorhaben wäre der nächste Schritt, um die öffentliche Mobilität in Deutschland dem organisierten Verfall preiszugeben. Um eine tiefgreifende, soziale Mobilitätswende zu ermöglichen, müsste die Bahn vergesellschaftet werden. Dazu braucht es eine linke Mobilitätsoffensive.
Derzeit werden Medienberichten zufolge zwei Modelle diskutiert, die unterschiedlich radikale Privatisierungsreformen vorsehen. Nach beiden Vorschlägen soll der Zugbetrieb in ein eigenes Unternehmen ausgekoppelt und somit von der Bahngesellschaft DB Netze getrennt werden. Diese organisiert das Schienennetz, die Bahnhofsinfrastruktur und die Energieversorgung. In der gemäßigten Zerschlagungsvariante soll eine Holding-Gesellschaft entstehen, in der die Infrastruktur separat vom Zugbetrieb organisiert ist. So bliebe die Konzerneinheit der Deutschen Bahn zumindest formal erhalten. In der radikaleren Zerschlagungsvariante würde der gesamte Infrastrukturbereich in eine gemeinwohlorientierte, öffentliche Gesellschaft übertragen. Der Organisationsbereich der Bahn würde dann nur noch den Regional-, Fern- und Güterverkehr umfassen.
Die Argumente, mit denen FDP und Grüne für ihre Privatisierungspläne werben, unterscheiden sich vor allem in der Art und Weise der Präsentation. Die Grünen behaupten, mit diesem Vorhaben die Funktionsfähigkeit der Bahn verbessern zu wollen. So sollen höhere Passagierzahlen erzielt und Klimaschutz vorangetrieben werden. Die Pläne zur Abkopplung von Schienennetz und Bahnbetrieb sind schon länger Teil des Bahnkonzepts der Grünen. Dieses sieht vor, die Organisationsform der Aktiengesellschaft nicht länger beizubehalten. Die Partei will das Schienennetz in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführen und von der Gewinnerzielungsmaxime abrücken.
Schön und gut, könnte man meinen. Das Konzept fordert jedoch auch die Abkopplung von Schienennetz und Zugverkehr, mit der mehr Wettbewerb auf der Schiene einhergehen soll. Das hätte fatale Folgen für den Bahnverkehr. Die FDP gibt vor, durch die Trennung der Organisationsbereiche Schulden der Deutschen Bahn tilgen zu wollen, die infolge der Corona-Krise und Misswirtschaft mittlerweile auf über 30 Milliarden Euro angewachsen sind. Dazu soll der profitable Logistikkonzern DB Schenker verscherbelt werden.
In der Sache sind sich beide Parteien jedoch einig: Die Deutsche Bahn soll zerschlagen werden. Statt das Bahnnetz und den Zugverkehr zu einem brauchbaren öffentlichen Mobilitätsnetz auszubauen, wird weiter privatisiert. Nicht mehr Investitionen und tatsächliche Ausbaupläne sollen es in Sachen Mobilität und Klimaschutz richten, sondern mehr Wettbewerb.
Die Trennung von Netzbetrieb und Zugverkehr ist eine schlechte Idee. Durch mehr Wettbewerb auf der Schiene entstehen nicht etwa mehr Synergien für bessere Taktungen, den Ausbau des Bahnnetzes oder Preissenkungen. Denn unter dem scharfen Konkurrenzdruck, der über die Privatisierung erzeugt wird, verlaufen die Interessen der Netzbetreiber und der Verkehrsunternehmen, die den Zugbetrieb übernehmen, gegeneinander.
Um einen eng getakteten, funktionalen Zugverkehr zu ermöglichen, müssen Netz und Zugbetrieb im Akkord arbeiten. Das ist gerade in integrierten Betrieben wie der Schweizer SBB der Fall. Der Netzbetrieb und notwendige Ausbau des Bahnnetzes verursachen in erster Linie Kosten. Befinden sich Schienennetz und Zugbetrieb in der gleichen Organisationseinheit, kann im Anschluss an den Ausbau jeder weitere Zug, der fahren und somit Passagiere befördern kann, zur Deckung dieser Kosten beitragen und Investitionen ausgleichen. Ein Netzunternehmen dagegen, das vom Zugverkehr abgekoppelt ist, hat einzig das Interesse, ein möglichst günstiges Netz zu betreiben. Größere Investitionen werden so eher verhindert als befördert.
Die Lage bei den Unternehmen, die nur den Zugverkehr betreiben, sieht ähnlich aus: Um das Bahnnetz nutzen zu dürfen, müssen private Unternehmen Trassengebühren zahlen. Das sind zusätzliche Kosten, die der Zugverkehr kompensieren muss. Zahlen sich die Einnahmen im Verhältnis zu den Trassengebühren nicht aus, wird das Unternehmen keine weiteren Züge fahren lassen. Dieser Rechnung folgend hat die DB AG beispielsweise die Nachtzüge abgeschafft, die heute so dringend gebraucht werden. Unter dem Druck der Kostenoptimierung führt das getrennte Betreiben von Netz und Zugverkehr also zu einem Stillstand in beiden Bereichen.
Die Kosten für die Infrastruktur werden so verstaatlicht, die Einnahmen aus dem Zugverkehr jedoch privatisiert. Dort, wo bereits Wettbewerb auf einigen Strecken herrscht, sind die Ergebnisse eindeutig: Fahrpläne sind schlecht aufeinander abgestimmt oder kollidieren, einheitliche Tickets kann man häufig gar nicht erwerben und der Preiswettbewerb wird auf dem Rücken der Beschäftigten der Konzerne ausgetragen.
Diesen Einwänden mögen manche entgegenhalten, dass die Bahninfrastruktur in Deutschland heute ohnehin marode und unzureichend, die Taktung zu schlecht und die Preise zu hoch seien. Natürlich trifft diese Kritik die Schmerzpunkte im deutschen Bahnsystem. Blendet sie jedoch die Vorläufer der heutigen Misere aus, geht die Kritik gänzlich fehl. Denn die katastrophale Situation der Bahn in Deutschland ist nicht naturgegeben, sondern politisch kalkuliert.
Die heutigen Missstände bei der Bahn haben ihren Ausgangspunkt in der Bahnreform von 1994. Im Rahmen dieses Privatisierungsprojekts fusionierten die beiden deutschen Bahnsysteme zu einer Aktiengesellschaft. In der Folge war die DB AG vor allem auf Gewinnmaximierung ausgerichtet. Investitionen in Infrastruktur wurden als zu teuer erachtet und zurückgefahren. Statt sie für die öffentliche Mobilität im 21. Jahrhundert nutzbar zu machen, wurden Anlagen und Grundstücke verkauft und Infrastruktur dem Verfall preisgegeben. Seit 1994 wurde das Schienennetz um 17 Prozent verkürzt. Immer mehr Städte wurden vom Fernverkehr abgehängt. Zudem wurden Weichen gekappt. Verspätungen bei einem Zug sorgen deshalb heute dafür, dass auf der betroffenen Strecke alle nachfolgenden Züge ebenfalls Verspätungen anhäufen.
Weil der Fernverkehr eigenwirtschaftlich sein sollte, der Bund dafür also kein Geld gab, wurden regelmäßig die Fahrpreise, Trassenpreise und Stationsentgelte erhöht. Auch Arbeitsplätze wurden systematisch abgebaut. Die Zahl der Beschäftigten hat sich im Laufe der Jahrzehnte fast halbiert. Bund und Bahn trafen zudem die Vereinbarung, dass die DB nur für kleine Reparaturen aufkommen muss, während größere Summen vom Bund übernommen werden. So lohnte es sich mehr, dem Verfall des Systems zuzusehen, anstatt ihn aufzuhalten.
Im Zuge der Bahnreform wurde die Zuständigkeit für den Schienenpersonennahverkehr an die Länder übertragen. Infolgedessen wurden beim Regionalverkehr bereits einzelne Strecken ausgeschrieben und privaten Betreibern übertragen, deren Angebote die Deutsche Bahn unterboten. Wenig überraschend waren diese Angebote häufig zu knapp kalkuliert. Deshalb musste kürzlich Abellio, Tochterkonzern der Abellio Transport Holding aus Utrecht, als erster privater Betreiber im Regionalverkehr ein Schutzschirmverfahren beantragen. Um den Betrieb der Bahnen aufrecht zu erhalten, waren finanzielle Zugeständnisse notwendig. In Reaktion darauf wurden Rufe nach der Rückkehr zur Staatsbahn laut.
Aus der Geschichte heraus wird deutlich: Die grünlich-gelben Zerschlagungspläne stinken zum Himmel. Denn offenkundig regelt der Markt weder den Ausbau des Bahnverkehrs von selbst noch sichert er funktionierenden Zugverkehr. Die Privatisierung der Bahn und des Regionalverkehrs schafft vor allem einen Haufen neuer Probleme.
Ohne tiefgreifende Veränderungen befindet sich das deutsche Verkehrssystem in der Sackgasse. Es braucht eine wirkliche Verkehrswende hin zu kostengünstiger öffentlicher Mobilität für alle. Das bedeutet, dass sich im System Bahn einiges grundsätzlich muss.
Die notwendigen Veränderungen liegen auf der Hand. Mehr Verkehr muss auf die Schiene verlagert werden. Das wird nur durch einen massiven Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs gelingen. Stillgelegte Bahnstrecken, Überholgleise, Weichen und Gleisanschlüsse müssen reaktiviert und die Bahn besser, zuverlässiger und für alle leistbar werden. Alle Strecken müssen auf Strombetrieb umgestellt werden. Es braucht ein europäisches Nachtzugnetz. Hinzu kommen bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für die Beschäftigten. Ein groß angelegtes Mobilitätsprojekt könnte nicht nur einen Kurswechsel im Klimaschutz einleiten, sondern auch Tausende Jobs schaffen. Eine bedarfsgerechte und entsprechend finanzierte Bahn – das wäre doch was.
Doch solange die Bahn auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, wird das nicht gelingen. Es ist deshalb höchste Zeit, die Vergesellschaftung der Bahn wieder auf die Agenda zu setzen. Durch Überführung der Bahn in eine Anstalt öffentlichen Rechts könnte sie vor Reprivatisierung geschützt, die Mehrung des Gemeinguts könnte als Ziel der AöR verankert werden und demokratische Kontrolle und Transparenz ließen sich ausweiten. Die Umwandlung der DB AG in eine Bürgerbahn (der Name dürfte ruhig noch etwas sexier sein) könnte öffentlichen Wohlstand schaffen, statt Infrastruktur zur verscherbeln. Das würde die Lebensqualität von Millionen Menschen in Deutschland verbessern und Teilhabe für alle schaffen, statt immer mehr Städte, Regionen und Menschen buchstäblich abzuhängen. So ein Mobilitätsprojekt ist für die sozialistische Linke vielversprechend und könnte sogar Mehrheiten gewinnen.
Franziska Heinisch ist Kolumnistin bei JACOBIN.