08. April 2024
Die GDL hat mit der 35-Stunden-Woche einen großen Erfolg errungen. Doch dem Tarifvertrag sind einige Stolperfallen eingeschrieben, auch gilt er nur für einen kleinen Teil der Bahn-Belegschaft. Künftigen Arbeitskämpfen bleibt viel zu tun.
Claus Weselsky bei einer Pressekonferenz am 4. März 2024.
Am 26. März endete einer der längsten Arbeitskämpfe bei der Eisenbahn in Deutschland. Durch mehrere Warn- und Erzwingungsstreiks zwischen November 2023 und Anfang März 2024 trotzte die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) der Deutschen Bahn AG eine Tarifvereinbarung zur Einführung der 35 Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich ab.
Damit ist der GDL gelungen, was zuvor nur die IG Metall und die IG Druck und Papier (heute ver.di) für wenige Industriebranchen erreicht hatten. Das ist ein großer, aber dummerweise nur symbolischer Erfolg.
»Die Arbeitgeberseite hat einige Stolperfallen in den Tarifvertrag hinein verhandelt, die in der Öffentlichkeit überhaupt nicht als solche wahrgenommen oder dargestellt wurden.«
Kämpfe um Arbeitszeitverkürzungen sind tief in der DNA aller Gewerkschaften angelegt. Das beste Beispiel ist der Kampf um den Achtstundentag, der in den 1.-Mai-Kundgebungen seine weltweite Manifestation fand. Arbeitszeitverkürzungen sollen die Arbeitsbedingungen verbessern, aber sie dürfen die Beschäftigten nicht ökonomisch ruinieren.
Die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche besaß zusätzlich eine arbeitsmarktpolitische Komponente. Die große IG Metall und die kleine IG Druck und Papier wollten mittels Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze in ihren Branchen sichern und der Massenarbeitslosigkeit entgegenwirken. Als dann 1978/79 38.000 nordrhein-westfälische Stahlarbeiter für eine 35-Stunden-Woche streikten, wurde jedoch deutlich, dass die gesamte Arbeitgeberschaft – nicht nur die Stahlbarone – die damalige 40-Stunden-Woche als Untergrenze mit Zähnen und Klauen verteidigen würde. Dabei hatte sie auch diese erst Mitte der 1960er nach harten Streiks akzeptiert.
Die Stahlarbeiter scheiterten 1979, erst fünf Jahre später kam es erneut zu großen Streiks in der Druck- und der Metallindustrie. Diesmal gelang eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 38,5 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. Auch wenn die Arbeitgeberseite beteuerte, dies sei kein Schritt Richtung 35-Stunden-Woche, war doch erstmals die 40-Stunden-Mauer durchbrochen worden. Den Preis, den die Gewerkschaften damals zahlen mussten, war die Flexibilisierung der Arbeitszeiten.
Erst 1990 konnten die ersten Tarifvereinbarungen in der Druckindustrie sowie der Metall- und Elektroindustrie geschlossen werden, die jeweils die stufenweise Reduzierung bis auf 35 Wochenstunden bis zum Jahr 1995 vorsahen. Auch der jüngste 35-Stunden-Erfolg der IG Metall für die ostdeutschen Betriebe der Siemens Energy Global – ohne großes Tamtam und ohne Streik durchgesetzt – sieht wieder eine stufenweise Reduzierung vor, diesmal über drei Jahre bis 2025.
Ob die Einführung der 35-Stunden-Woche bei der Deutschen Bahn einen arbeitsmarktpolitischen Effekt haben wird, weil sie den Lokführer-Beruf attraktiver macht, steht in den Sternen. Ebenso ist fraglich, ob sie auch in der betrieblichen Praxis zur Entlastung der Beschäftigten führen wird. Denn die Arbeitgeberseite hat einige Stolperfallen in den Tarifvertrag hinein verhandelt, die in der Öffentlichkeit überhaupt nicht als solche wahrgenommen oder dargestellt wurden.
Am Abend des 25. März teilte der Vorsitzende der GDL, Claus Weselsky, der Presse einseitig das Ende des fast fünfmonatigen Tarifkonflikts mit. Die Deutsche Bahn bestätigte auf Nachfrage. Diese ungewöhnliche Informationspolitik – üblicherweise verkünden die Tarifpartner nach erfolgreichen Verhandlungen gemeinsam ihre Einigung – spiegelt die seltsame Art und Weise wider, in der beide Seiten diese Tarifauseinandersetzung geführt hatten.
Die GDL war gleich nach Auslaufen des bisherigen Tarifvertrags am 1. November 2023 in die Vollen gegangen. Noch während der ersten Verhandlungsgespräche – die Deutsche Bahn unterbreitete zwar ein relativ ansehnliches monetäres Angebot, doch nichts in Bezug auf die geforderte Arbeitszeitverkürzung – kam es zu Warnstreiks, woraufhin die Bahn die Verhandlungen abbrach. Am 17. November rief die GDL ihre Mitglieder zur Urabstimmung auf. Noch während diese lief, führte die Gewerkschaft vom 7. bis 9. Dezember einen weiteren Warnstreik durch. Das Ergebnis der Urabstimmung gab sie am 19. Dezember bekannt: 97 Prozent stimmten für Streik.
»Die Tarifvereinbarung gilt lediglich für die etwa 10.000 Beschäftigten in den achtzehn Wahlbetrieben der Deutschen Bahn AG, in denen die GDL die Mehrheit der Mitglieder organisiert.«
Eine Zeitlang ließ die GDL die Öffentlichkeit im Unklaren darüber, ob sie zu Weihnachten streiken würde, was dann aber nicht geschah. Aus Rücksicht auf den eigenen Dachverband verzichtete die GDL auch auf Streiks während der Jahrestagung des Deutschen Beamtenbunds (DBB) vom 7. bis 9. Januar 2024. Ihr mehrtägiger Streik sollte erst am 10. Januar beginnen. Jetzt tat die Deutsche Bahn etwas, womit sie schon mehrmals gescheitert war: Sie rief die Arbeitsgerichte an, damit diese die Streiks untersagen – erneut ohne Erfolg.
Die GDL streikte munter weiter und schaffte es, mit mehreren privaten Eisenbahnunternehmen Tarifverträge zur Einführung der 35-Stunden-Woche abzuschließen. Was sie geflissentlich der Öffentlichkeit verschwieg, war deren Bedingung: Die Verträge würden nur wirksam werden, wenn die Deutsche Bahn ebenfalls bei der 35-Stunden-Woche nachgab.
Im Februar verhandelten beide Seiten wieder – wochenlang. Eine Mediation mit den CDU-Politikern Daniel Günther und Thomas de Maizière wurde eingeleitet und Stillschweigen über die Verhandlungen bis zum 3. März vereinbart. Dann brach Weselsky die Gespräche unvermittelt ab, was wiederum die Deutsche Bahn bereits am 29. Februar öffentlich machte. Am 4. März drohte Weselsky mit »Wellenstreiks«, die nur noch kurzfristig angekündigt würden. Ein solches Vorgehen erschwert das Erstellen von Notfahrplänen. Das wiederum provozierte die Mediatoren, den Kern ihres Vorschlags – die Einführung einer 36-Stunden-Woche in zwei Schritten bis 2028 – am 5. März zu veröffentlichen.
Dennoch begann am 6. März erneut ein zweitägiger Streik. Aufgrund des bekanntgewordenen Mediationsvorschlags nahm die Akzeptanz der Streikmaßnahmen in der Öffentlichkeit langsam ab. Die Bahn bot erneute Verhandlungen an, die GDL forderte ein neues, schriftliches Angebot. So kam es am 10. März zum sechsten, nur kurzfristig angekündigten Streik. Auch gegen diesen wollte die Deutsche Bahn gerichtlich vorgehen und scheiterte abermals, diesmal sogar in zweiter Instanz. Ab Mitte März wurde dann doch wieder verhandelt und am 25. März verkündete die GDL die Einigung im Tarifstreit. Doch was genau wurde da ausgehandelt?
Neben monetären Leistungen (dieser Teil des Tarifvertrags läuft bis Dezember 2025) wurde für Beschäftigte im Schichtdienst eine Option zur Arbeitszeitverkürzung vereinbart. Im Jahr 2026 sinkt die Wochenarbeitszeit (die Deutsche Bahn spricht von Referenzarbeitszeit) von derzeit 38 Stunden auf 37 Stunden, ein Jahr später auf 36 Stunden und 2028 auf 35,5 Stunden, um 2029 endlich 35 Stunden zu erreichen. Das alles geschieht ohne Entgeltkürzung.
Auch dass die Wochenarbeitszeit nur stufenweise verkürzt wird, bricht dem Erfolg keinen Zacken aus der Krone. Problematisch ist jedoch, dass die stufenweise Absenkung bei der Deutschen Bahn nur im Jahr 2026 automatisch geschieht (also von 38 auf 37 Stunden). Die folgenden Zeitabsenkungen bis auf 35 Stunden im Jahr 2029 müssen die Beschäftigten selbst einfordern.
Das könnte sich als Stolperfalle herausstellen, denn tun sie es nicht oder nicht rechtzeitig, bleibt ihre Arbeitszeit unverändert. Alle, die schon einmal in einem Betrieb gearbeitet haben, in dem Personalknappheit herrscht – und bei der Deutschen Bahn herrscht sogar Personalmangel – können sich leicht vorstellen, welchen Druck Führungskräfte dort auf ihre Untergebenen ausüben können, damit diese die Arbeitszeitverkürzung nicht einfordern.
»Auf die EVG, die als Einheitsgewerkschaft weit mehr Beschäftigte bei der Deutschen Bahn organisiert als die GDL, kommt eine Menge Arbeit zu.«
Gleichzeitig sollen sie nach Wunsch sogar mehr arbeiten können (bis zu 40 Wochenstunden), wobei sie pro zusätzlicher Stunde 2,7 Prozent mehr Lohn erhalten. Die Deutsche Bahn spricht dabei von einem »Optionsmodel zur individuellen Wochenarbeitszeit«. Man muss das jedoch eher als einen Abbau kollektiver Gleichheit im Betrieb verstehen, nach dem Motto: »Jeder wird sich selbst der Nächste sein.«
Wenn Beschäftigte zum Beispiel eine Absenkstufe überspringen, aber die nächste wieder voll in Anspruch nehmen wollen, dann werden sich diese zusätzlichen 2,7 Prozent als ein Schneewittchen-Apfel herausstellen – hübsch anzusehen, aber vergiftet. Die Arbeitszeitverkürzung führt plötzlich zur Entgeltkürzung um genau diesen Betrag.
Bei der jetzt abgeschlossenen Tarifvereinbarung handelt es sich in Wahrheit nicht um einen einzigen Tarifvertrag, sondern um achtzehn Stück. Sie gilt lediglich für die etwa 10.000 Beschäftigten in den achtzehn Wahlbetrieben der Deutschen Bahn AG, in denen die GDL die Mehrheit der Mitglieder organisiert. Demgegenüber kommen etwa 180.000 des Gesamtkonzerns in den Genuss von Tarifverträgen, die die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) abgeschlossen hat.
In den »GDL-Betrieben« arbeiten sowohl Beschäftigte im Schichtdienst (Lokführerinnen, Zugbegleiter und so weiter) als auch solche im Normaldienst. Beide kommen in den Genuss der Geldzahlungen, doch nur für erstere gelten auch die neuen Arbeitszeitregeln. Hier zeigt sich schmerzlich, dass die GDL nur eine Spartengewerkschaft ist. Das Wohl ihrer Klientel liegt ihr am Herzen, das der Anderen nicht.
Diese Anderen verlieren durch die Tarifvereinbarung substantiell: Bisher galt ein Tarif-Wahlmodell, das die EVG im Jahr 2016 abgeschlossen hatte und den Beschäftigten freistellte, ob sie die ausgehandelten Tariferhöhungen in Form von Geld, einer Stunde weniger Wochenarbeitszeit oder sechs zusätzlichen Urlaubstage in Anspruch nehmen wollen.
2018 handelte die EVG erneut eine solche Vereinbarung aus. Die meisten Beschäftigten entschieden sich für mehr Urlaub und erhielten so 12 zusätzliche Tage Erholung. Die Deutsche Bahn hatte diese Vereinbarung auch den Beschäftigten in den GDL-Betrieben zugestanden, aber nun dort aufgekündigt – quasi als Gegenfinanzierung der stufenweisen Absenkung der Wochenarbeitszeit. Ab 2026 verlieren die »Urlauber« in den GDL-Betrieben ihren zusätzlichen Urlaubsanspruch.
Die GDL hat mit der Einführung der 35-Stunden-Woche bei der Deutschen Bahn einen symbolischen Erfolg eingefahren, aber einige Beschäftigte stehen jetzt vor einem tariflichen Scherbenhaufen. Auf die EVG, die als Einheitsgewerkschaft weit mehr Beschäftigte bei der Deutschen Bahn organisiert als die GDL, kommt deshalb eine Menge Arbeit zu. Ihre nächste Tarifrunde beginnt schon im April 2025.
Günter Regneri verdient derzeit seinen Lebensunterhalt als Lokführer einer Werkbahn. Für diese fährt er Güterzüge durch die Lausitz. Der studierte Historiker hat ein neunzig Jahre altes Manuskript von Max Beer redigiert und im Brumaire Verlag als Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten 1932 herausgegeben. Er ist Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.