23. November 2025
In Belgien haben die Gewerkschaften den Sozialstaat besser verteidigt als in den meisten anderen europäischen Ländern. Jetzt soll ein dreitägiger Streik die neuesten Kürzungspläne verhindern.<b></b>

Gewerkschafter marschieren durch Brüssel während eines Generalstreiks gegen die Kürzungspläne der belgischen Regierung, 14. Oktober 2025.
Im vergangenen Monat waren die Straßen von Brüssel rot, grün und blau gefärbt. Bei einer Großdemonstration am 14. Oktober folgten 140.000 Arbeiter dem Aufruf der drei belgischen Gewerkschaftsverbände – sozialistisch, christlich und liberal –, gegen die Kürzungen der rechten Regierung bei Löhnen, Renten und öffentlichen Dienstleistungen zu demonstrieren. Es war die größte Demonstration des Landes im 21. Jahrhundert.
Es war auch die zwölfte Massenmobilisierung seit dem Amtsantritt der Regierung, die wegen der Farben der Koalitionsparteien den Spitznamen »Arizona« trägt, nach den Wahlen von 2024. Die belgische Arbeiterbewegung hat damit – trotz struktureller wirtschaftlicher Veränderungen und jahrzehntelanger neoliberaler Angriffe – bewiesen, dass sie die Macht hat, eine Massenbewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu mobilisieren, um soziale Rechte, Lebensstandards und eine gerechte Besteuerung zu verteidigen.
Seit Anfang 2025 haben die militanten Gewerkschaften Belgiens ihre Mobilisierungen zunehmend eskaliert, darunter ein Streik von 30.000 Lehrern und Lehrerinnen im Januar, eine zentrale Demonstration mit 100.000 Teilnehmern in Brüssel im Februar, ein Generalstreik im März, mehrere regionale und sektorale Aktionen vor dem Sommer und die zentrale Demonstration mit 140.000 Teilnehmern im Oktober.
Nun folgt eine weitere historische Eskalation: Von Montag bis Mittwoch dieser Woche wird die Arbeiterbewegung ihre üblichen eintägigen Aktionen auf einen dreitägigen Streik ausweiten, da sich die politische Dynamik vor Weihnachten auf einen Showdown zubewegt. Ein Streik im Transportwesen am Montag wird sich am Dienstag zu einem Streik im öffentlichen Dienst ausweiten und am Mittwoch in einem Generalstreik mit Streikposten im ganzen Land gipfeln.
Bis jetzt haben weder die Regierung noch die Gewerkschaften nachgegeben – auch weil sehr viel auf dem Spiel steht. Im Grunde versucht die Regierung, das nach wie vor starke belgische Sozialmodell umzustrukturieren, das die Gewerkschaften im Laufe des letzten Jahrhunderts errungen und verteidigt haben. Mit den Mobilisierungen in diesem Jahr ist es ihnen gelungen, Teile der Regierungsagenda zu blockieren und damit zu zeigen, dass die organisierte Arbeiterschaft noch immer Einfluss hat. Das belgische Modell, das sich im Vergleich zu seinen europäischen Pendants bisher recht gut behauptet hat, soll umstrukturiert und geschwächt werden. Deshalb steht so viel auf dem Spiel.
Aber wird diese nächste Eskalation fast ein Jahr nach der Machtübernahme der »Arizona«-Koalition ausreichen, um die Pläne der Regierung zu durchkreuzen?
Als weiteres Beispiel für den allgemeinen Rechtsruck in Europa gewannen bei den Wahlen in Belgien im vergangenen Jahr rechte Kräfte sowohl nördlich als auch südlich der Sprachgrenze die Mehrheit. Die größten Regierungsparteien sind die flämisch-nationalistische N-VA und die nicht mehr ganz so liberale wallonische MR, unterstützt von den zentristischen Kräften Open VLD und Les Engagés sowie der flämischen sozialdemokratischen Vooruit. Sie hielten das flämische Äquivalent der AfD, den aufstrebenden rechtsextremen Vlaams Belang, von der Macht fern und bildeten Koalitionen auf regionaler und föderaler Ebene. Bis dato hatten selbst unter föderalen Rechtsregierungen linke Kräfte im französischsprachigen Süden, insbesondere die Mitte-Links-Sozialisten, die Mehrheit in der Regionalregierung inne.
Angetrieben durch den Fokus der EU-Politik auf »Wettbewerbsfähigkeit« und das Defizitabbauverfahren der Europäischen Kommission zur Durchsetzung der Haushaltsdisziplin schlug die belgische Regierung nun umfassende neoliberale Reformen der Arbeitsgesetzgebung, der Renten und der Arbeitslosenversicherung vor. Während diese Maßnahmen auf die Kaufkraft der Arbeiterinnen abzielen, diskutierte die Koalition zudem Gesetze gegen Proteste und die Einführung von Transparenzvorschriften für die Streikfonds der Gewerkschaften. All dies dient dazu, den Widerstand der Arbeitnehmer zu schwächen – ein Drehbuch, das wir aus Finnland, Frankreich und Italien kennen.
»Während dieser ganzen Streikwelle gelang es der belgischen Arbeiterbewegung, eine Einheitsfront über die drei Gewerkschaftsbünde, den privaten und öffentlichen Sektor und die Sprachgemeinschaften des Landes hinweg aufrechtzuerhalten.«
Die Gewerkschaften verurteilten dies umgehend als den größten Rückschritt für die Arbeitnehmerrechte und den Sozialstaat seit militante Gewerkschaften 1946 im Rahmen des Nachkriegs-Sozialpakts dem Kapital erhebliche Zugeständnisse abgerungen hatten. Seitdem ist der belgische Sozialstaat mit Sozialausgaben in Höhe von rund 30 Prozent des BIP einer der stärksten in Europa geblieben. So war Belgien beispielsweise bis jetzt das letzte europäische Land mit einer zeitlich unbegrenzten Arbeitslosenversicherung. Trotz der regelmäßigen Angriffe der Regierung ist es eines von nur zwei Ländern, die inflationsindexierte Löhne und Renten beibehalten haben, was die Arbeiter in Belgien während der Lebenshaltungskostenkrise der letzten Jahre besser geschützt hat.
Um diesen Angriff auf den Lebensstandard der arbeitenden Klasse zu rechtfertigen, bediente sich der flämische Nationalist und belgische Premierminister Bart De Wever der abgedroschenen Austeritätsrhetorik vom »Gürtel, der enger geschnallt werden muss«. Für viele Arbeitnehmer klingt dies heuchlerisch – nicht nur wegen seines üppigen Gehalts und dem seiner Minister. Vielmehr haben die Parteien der Regierungskoalition vor einem Jahrzehnt selbst bewusst die Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen des Staates gekürzt und damit genau das »Haushaltsloch« verursacht, das sie nun zu stopfen behaupten. In der Zwischenzeit hat die finanzielle Unterstützung für Unternehmen ein Rekordniveau erreicht und sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt. Das Sparprogramm ist nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine politische Entscheidung: Der gleiche Betrag kann irgendwie doch für militärische Aufrüstung »aufgebracht werden, um Trumps NATO-Ausgabenziel zu erreichen.
Während dieser ganzen Streikwelle gelang es der belgischen Arbeiterbewegung, eine Einheitsfront über die drei Gewerkschaftsbünde, den privaten und öffentlichen Sektor und die Sprachgemeinschaften des Landes hinweg aufrechtzuerhalten. Diese geeinte Reaktion brachte die Regierung in die Defensive und legte die Widersprüche zwischen ihren verschiedenen Parteien offen.
Die sozialdemokratische Vooruit steht unter Druck, die historischen Errungenschaften der Bewegung, aus der sie hervorgegangen ist, zu verteidigen. Die rechte MR hat mit dem Versprechen einer höheren Kaufkraft durch niedrigere Einkommenssteuern Wahlkampf gemacht, aber nichts als sinkende Lebensstandards vorgeschlagen. Die Christdemokraten reagieren trotz ihrer geschwächten Verbindungen zur christlichen Arbeiterbewegung immer noch auf Druck in sozioökonomischen Fragen: Ein regionaler Lehrerstreik zwang sie in der französischsprachigen Wallonie zu einer Kehrtwende. Und mittendrin versucht der Premierminister, das flämische Kapital zufriedenzustellen und gleichzeitig die »Arizona« -Koalition zusammenzuhalten.
Zugegebenermaßen gelang es der Regierung, einige regressive Maßnahmen durchzusetzen, wie beispielsweise die Begrenzung der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre. Dadurch werden 160.000 Menschen, die ihre Leistungsbezüge verlieren, in prekäre Verhältnisse geraten. Da die Leistungen größtenteils über die Gewerkschaften an Einzelpersonen ausgezahlt werden – und somit ein wichtiger Grund für eine Mitgliedschaft sind –, stellt dies einen doppelten Angriff auf die organisierte Arbeiterschaft dar.
Dennoch ist es der »Arizona«-Regierung nicht gelungen, ihre umstrittene Rentenreform auch nur einen Zentimeter voranzubringen. Das liegt auch daran, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anders als bei der Frage der Arbeitslosenversicherung über berufliche, regionale und politische Grenzen hinweg einig sind, den Vorschlag zur Anhebung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre abzulehnen. Vor allem stößt dabei eine brutale Sanktion von bis zu 25 Prozent für diejenigen, die vorzeitig in Rente gehen wollen, auf Wut und Widerspruch.
»Aufgrund des anhaltenden Drucks durch wiederholte Mobilisierungen im vergangenen Jahr war die Regierung bisher nicht in der Lage, die Maßnahme im Parlament zur Abstimmung zu bringen.«
Dies würde insbesondere Frauen und Arbeiter in der Fertigung, Logistik, Reinigung, Pflege und anderen Branchen betreffen, in denen körperlich anstrengende Arbeit zu einer geringen Lebenserwartung bei guter Gesundheit führt – also dem Alter, bis zu dem Menschen noch ohne größere Gesundheitsprobleme ihr Leben genießen können. Dieser Durchschnitt liegt in Belgien bei nur 63,7 Jahren – eine Zahl, die sich in den letzten 15 Jahren nicht verändert hat – und ältere Statistiken deuten darauf hin, dass Beschäftigte mit Hochschulabschluss zehn Jahre länger bei guter Gesundheit leben als andere. All das entlarvt das Argument, dass wir länger leben und daher auch länger arbeiten sollten, als Lüge.
Aber es ist nicht nur die Rentenreform, gegen die sich die Arbeiter in Belgien erfolgreich gewehrt haben.
In der Vergangenheit hat die belgische Gewerkschaftsbewegung ein generelles Verbot von Nachtarbeit zwischen 20 Uhr und 6 Uhr durchgesetzt. Diese Maßnahme verschafft den Arbeitern eine enorme Verhandlungsmacht bei der Aushandlung von Ausnahmeregelungen mit Arbeitgebern in 24-Stunden-Branchen wie der Fertigung, Chemie, Pflege und Logistik. Diese Regelung steht nun unter Beschuss: Die »Arizona«-Regierung will die Arbeitskraft verbilligen, indem sie die Definition von Nachtarbeit ändert.
Derzeit erhalten Logistikarbeiter beispielsweise einen höheren Nachtzuschlag für die zehn Arbeitsstunden in diesem Zeitraum – ein wichtiger Kaufkraftschub und eine Entschädigung für die gesundheitsschädlichen Auswirkungen atypischer Arbeitszeiten. Nach den Vorschlägen der Regierung könnte eine Arbeitnehmerin die Hälfte ihres Nachtzuschlags verlieren, da die Definition auf den Zeitraum zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens geändert wird. Das könnte einen Verlust von mehreren hundert Euro pro Monat bedeuten.
Der Minister für Arbeit und Wirtschaft, David Clarinval, hat eine Investition in Höhe von 1 Milliarde Euro durch das US-amerikanische multinationale Unternehmen Amazon – ein Vorhaben, das weder gute noch viele Arbeitsplätzeschaffen wird – ausdrücklich mit dieser Politik in Verbindung gebracht. Wie die Koalition »Make Amazon Pay hervorgehoben hat, ist Amazon ein gewerkschaftsfeindlicher Abrisshammer, der Standards in der gesamten Wirtschaft untergräbt, darunter auch menschenwürdige Arbeitsplätze in der Logistikbranche. Die Regierung zeigt hier ihre wahren Absichten: Sie will die Überreste der europäischen Sozialdemokratie durch einen räuberischen Kapitalismus nach US-amerikanischem Vorbild ersetzen.
Aufgrund des anhaltenden Drucks durch wiederholte Mobilisierungen im vergangenen Jahr war die Regierung jedoch bisher nicht in der Lage, die Maßnahme im Parlament zur Abstimmung zu bringen – und musste Ausnahmeregelungen für bestimmte Sektoren zustimmen.
Nun steuert die politische Dynamik auf einen Showdown zu: Da sich die Regierung nicht auf diese und andere Maßnahmen einigen kann, sind auch ihre Haushaltsverhandlungen zum Stillstand gekommen. Premierminister Bart De Wever, der 10 Milliarden Euro im Sozialstaat einsparen will, musste die parlamentarische Haushaltsdebatte mehrfach verschieben. Zuletzt wandte er sich an den belgischen König, bat um eine Verlängerung der Haushaltsverhandlungen um 50 Tage und drohte kurz vor Weihnachten mit seinem Rücktritt, sollten diese scheitern. Sein Kollege, Finanz- und Rentenminister Jan Jambon, musste letzte Woche schon eingestehen, dass die Rentenreform um ein weiteres Jahr verschoben werden muss – und damit bis 2027 nicht in Kraft treten wird.
»Die Bewegung könnte vielleicht an einigen Fronten gewinnen und an anderen verlieren.«
Vor diesem Hintergrund werden die Arbeitnehmer nächste Woche erneut streiken. Der Ausgang ist völlig offen – vom Sturz der Regierung bis zur Umsetzung ihrer unsozialen Maßnahmen. Im Jahr 2023 haben wir gesehen, wie die von den Gewerkschaften angeführte Protestbewegung gegen die Anhebung des Rentenalters in Frankreich durch Emmanuel Macrons autoritäre Anwendung des sogenannten Artikels 49.3 überwunden wurde, der eine Gesetzesänderung ohne parlamentarische Abstimmung verfügte. Im Jahr 2024 haben wir gesehen, dass die finnische Arbeiterbewegung – trotz eines umfassenden politischen Streiks, der den Export wochenlang lahmlegte – nicht in der Lage war, den Angriff der rechten Regierung auf das nordische Modell abzuwehren. Aber wir haben auch gesehen, wie vor einigen Tagen in Frankreich die Rentenreform ausgesetzt wurde und wie in Finnland die regierende rechtsextreme Finnische Partei in Umfragen nur noch halb so viele Stimmen wie bei den letzten Wahlen erhält. Ohne den Widerstand der Gewerkschaften wäre all dies nicht geschehen.
Was wird also 2025 in Belgien passieren – und wie wird sich das auf die politische Dynamik in den kommenden Jahren auswirken?
Die Bewegung könnte vielleicht an einigen Fronten gewinnen und an anderen verlieren. Was wir jedoch jetzt bereits wissen: Eine einjährige Streikwelle hat Verbindungen zwischen Gewerkschaften und Dutzenden von Organisationen der Zivilgesellschaft aufgebaut, Hunderte neue gewerkschaftliche Führungspersönlichkeiten ausgebildet, Tausende junge Menschen in die Bewegung gebracht, Hunderttausenden von Arbeiterinnen und Arbeitern beigebracht, wie man streikt und Millionen über die unsoziale Agenda der Regierungsparteien aufgeklärt. Darauf lässt sich aufbauen.
Daniel Kopp ist Gewerkschafter und Schriftsteller.