09. November 2023
Auf deutschen Baustellen geschehen immer wieder Unfälle – mitunter tödliche, wie zuletzt in der Hamburger Hafencity. Hinter diesem Schicksal, das besonders oft Arbeiter aus Osteuropa ereilt, steht ein System von Subunternehmen und politischem Desinteresse.
Drahtseilakt beim Gerüstbau in Bad Reichenhall
Es sei gewesen, als würde man »Riesen-Mikado« spielen, berichten die Einsatzkräfte nach 35 Stunden auf der Hamburger Großbaustelle der Hafencity. Gerüststangen liegen kreuz und quer übereinander, türmen sich bis zum dritten Stock. Nachdem am 31. Oktober das Gerüst eingestürzt war, dauerte es zwei Tage, bis unter Präzisionsarbeit letztlich vier Leichen und ein Schwerverletzter geborgen werden konnten. Inzwischen sind die vier Toten identifiziert: Es handelt sich dabei um Arbeiter aus Albanien, die der Armut entflohen und in Deutschland für Großinvestoren Luxuswohnungen hochzogen.
Der Unfall in der Hafencity, wenn auch im Ausmaß dramatisch, ist kein Einzelfall. In Hamburg starb im vergangenen Jahr schon ein Bauarbeiter bei der Errichtung einer neuen U-Bahn-Haltestelle, in Berlin verunglückten fünf Bauarbeiter tödlich. Die deutschlandweite Zahl lag im Jahr 2022 bei 74 Todesfällen. Unfälle und Verletzungen sind auf deutschen Baustellen beinahe an der Tagesordnung und die Vermutung liegt nah, dass dabei überproportional osteuropäische »Entsandte« oder Arbeitsmigranten betroffen sind. Ihr körperlicher Verschleiß ist enorm, kaum einer trägt keine langfristigen Folgen davon.
Auch über Unfälle hinaus sind die Bedingungen hart, und das hat System. Arbeitsmigranten auf Baustellen, besonders aus Osteuropa, werden schlecht bezahlt und noch schlechter behandelt, sie genießen wenig Schutz, sowohl gesundheitlich als auch rechtlich. Meist werden sie über Subunternehmer-Ketten für den Bau (teils öffentlicher) Infrastruktur- und Prestigeprojekte nach Deutschland geholt. Besonders die private deutsche Immobilienwirtschaft baut auf einem Fundament der Ausbeutung dieser Arbeiter auf.
Große Unfälle auf Baustellen werden immer häufiger begleitet von Forderungen nach verstärktem Arbeitsschutz. Erst kürzlich forderte der Berliner Senats-Abgeordnete der Linken Niklas Schenker mehr Kontrollen, um diesen zu gewährleisten. Auch der Regionalleiter der Gewerkschaft IG BAU André Grundmann beklagte direkt nach dem Unglück in der Hamburger Hafencity mangelnden Schutz der Bauarbeiter auf deutschen Baustellen. Die Unfallursache sei hier zwar noch nicht endgültig geklärt, viele solcher Unfälle könnten aber durch regelmäßige und strengere Kontrollen verhindert werden.
»Deutschland ist dabei für einige Bauarbeiter die schlimmste Adresse in Europa.«
Doch nicht nur fehlende Kontrollen beim Arbeitsschutz sind ein Problem. Die weit verbreitete Problematik der Schwarzarbeit in der Baubranche bedeutet für viele Beschäftigte, dass sie nicht ausreichend sozialversichert sind. »Wir sind mit Fällen konfrontiert, bei denen Beschäftigte nach einem schweren Unfall in den Kofferraum gepackt und über die Grenze gefahren werden, um den Vorfall zu vertuschen«, berichtet Ben Luig von den Beratungsorganisationen Europäischer Verband für Wanderarbeiter (EVW) und Faire Mobilität. Auch gebe es eine Vielzahl von Fällen, bei denen Arbeitgeber die Beschäftigten vorzeitig bei der Krankenversicherung abmelden.
Zudem werden Löhne und teilweise sogar Urlaubsgelder einbehalten. Das ist möglich, weil die Sozialkasse Bau (SOKA-BAU) das Urlaubsgeld der Beschäftigten in einem Umlageverfahren auszahlt, das von manchen Arbeitgebern missbraucht wird. Viele Beschäftigte aus Osteuropa haben zwar ihre Familien noch in der jeweiligen Herkunftsregion, bleiben aber über Jahre in Deutschland und unternehmen nur kurze Besuche in ihre Heimatländer. Diese Beschäftigten leben in Deutschland häufig in miserablen Unterkünften und auf viel zu engem Raum zusammen mit ihren Kollegen, während sie tagsüber Hochhäuser und Shopping Malls errichten.
Laut einer Studie stufen viele dieser Arbeiter, dem Berufsstolz zum Trotz, ihre eigene Anstellung insgesamt als »Sklavenarbeit« ein. Deutschland ist dabei für einige die schlimmste Adresse in Europa, allerdings gibt es hier auch die meisten Aufträge, weswegen viele keine andere Wahl sehen: Sie müssen unter derart prekären Bedingungen versuchen, ihre Familien in den Heimatländern zu versorgen. Die meisten landen über teils ausländische Subunternehmerketten auf Baustellen von Großinvestoren und Kommunen in Deutschland.
Etwa ein Drittel der Beschäftigten im Baugewerbe haben keinen deutschen Pass, die allermeisten von ihnen kommen aus Osteuropa, überwiegend aus Rumänien, Bulgarien, Polen und dem Westbalkan. Bei so einem gravierenden Anteil migrierter Arbeiter ist es äußerst fragwürdig, dass die Unfallstatistik nicht nach Nationalität aufgeschlüsselt ist. Man kann jedoch mutmaßen, dass sie ein deutlich größeres gesundheitliches Risiko tragen. In vergleichbar organisierten Branchen wie der Forstwirtschaft in Österreich weist die Statistik zumindest klar darauf hin, dass überproportional Osteuropäer verunglücken und zu Schaden kommen.
Ein weiterer Hinweis für ihr erhöhtes Risiko ist, dass besagte Subunternehmen besonders im Hochbau tätig sind. Hier, etwa beim Bau von Luxus-Wohnkomplexen, Hotels und Büros wie auf der Baustelle in der Hafencity, sei der Kostendruck extrem hoch, argumentiert Ben Luig. Um den Investoren oder Auftraggebern die besten Angebote machen zu können und somit Aufträge an Land zu ziehen, setzten Generalunternehmen auf ihren Baustellen überwiegend Beschäftigte von Subunternehmen ein. Anreiz dafür sei jedoch nicht deren spezialisierte Kompetenz, sondern der geringe Preis für Arbeit. Gespart wird letztendlich an Löhnen, Sozialabgaben, Steuern und auch an der Qualität des Arbeitsschutzes.
»Generalunternehmen sind wirtschaftlich dazu angehalten, möglichst niedrige Angebote zu machen.«
Konfrontiert mit Berichten über nicht ausgezahlte Löhne, Arbeitsunfälle und Schwarzarbeit, die im Zusammenhang mit solchen Subunternehmern immer wieder auftauchen, ziehen sich Generalunternehmen häufig aus der Verantwortung und geben vor, nichts von Problemen auf ihren eigenen Baustellen mitbekommen zu haben. Auch die Politik der Kommunen und der Länder schaut oft weg, denn in vielen Fällen sind sie es selbst, die die Projekte in Auftrag geben. Die Zustände im U-Bahnhof und der Hafencity sind Ausdruck dieses beiderseitigen Desinteresses.
Auch wenn diese Probleme den Gewerkschaften und diversen Beratungsstellungen und Organisationen seit längerem bekannt sind, ist eine Kehrtwende aktuell nicht zu erwarten. Generalunternehmen sind wirtschaftlich weiter dazu angehalten, möglichst niedrige Angebote zu machen. Durch den Energiepreis-Schock infolge des Kriegs in der Ukraine und die explodierenden Preise für Roh- und Werkstoffe ist Bauen deutlich teurer geworden, der Kostendruck hat sich dadurch sogar noch verstärkt. In der Privatwirtschaft sorgen die monetaristische Hochzinspolitik der EZB und die extrem teuren Baukredite ebenfalls für Kostendruck, und schlussendlich wird auch in öffentlichen Bauprojekten aufgrund der gnadenlosen Unterfinanzierung der Länder und Kommunen die Finanzierbarkeit zu einem übergewichtigen Vergabekriterium.
Die meisten Großprojekte – gerade solche, die wie die Hafencity Ausdruck einer florierenden Wirtschaft und progressiven und zukunftsgewandten Gesellschaft sein sollen – sind von osteuropäischen Arbeitern unter unwürdigen Bedingungen erbaut. Lea-Maria Löbel von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) drückt es so aus: »Wir profitieren [...] hier in Deutschland davon, dass sie einen Teil der Infrastruktur mit stemmen, sei es im Gesundheitssektor, im Transportwesen, im Agrarbereich oder im Bausektor.« Sicher ist, die Ausbeutung ist nicht auf das Bauwesen beschränkt. Aber die schon fast ironische Spannung zwischen dem dargebotenen »fortschrittlichen« Selbstbild und den materiellen Bedingungen wird wohl nirgendwo so bildhaft deutlich, wie auf deutschen Baustellen.
Die Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft schweigen größtenteils über die Verhältnisse auf deutschen Baustellen und entziehen sich ihrer Verantwortung. Deswegen haben sich rumänische Bauarbeiter im letzten Jahr schon in mehreren Städten per Hungerstreik Gehör verschafft und waren zumindest in Düsseldorf erfolgreich. Die eigene breite Organisation wird allerdings praktisch verunmöglicht, denn häufig sind die Menschen nur für begrenzte Zeit in Deutschland oder sprechen die Sprache nicht. Viele werden zudem eingeschüchtert und den meisten Informationen über ihre Rechte vorenthalten.
»Auf allen politischen Ebenen, ob regional oder europäisch, mangelt es an politischem Willen und Bewusstsein.«
Seit Jahren versuchen die Gewerkschaft IG BAU und der DGB, dort anzusetzen und die Rahmenbedingungen und Organisationsmöglichkeiten der Arbeiter zu verbessern. Gewerkschaftsnahe Beratungsstellen wie Faire Mobilität gehen gezielt auf die Menschen auf den Baustellen zu, informieren sie in ihrer Sprache, bieten Rechtsberatung und Unterstützung an. Die IG BAU ermöglicht neuerdings kurzfristige Mitgliedschaften, um auch solchen Beschäftigten Rechtsschutz zu bieten, die nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland arbeiten. Letztes Jahr sind erstmals auch rumänische Arbeiter, die 7-Sterne-Kranfahrer, in Kooperation mit dem gewerkschaftsnahen Bildungsträger Peco-Institut, der IG BAU und dem EVW auf Baustellen gegangen und konnten dort breitflächig informieren und sich austauschen.
Doch diese Initiativen erreichen bislang nur einen kleinen Bruchteil der zigtausend migrantischen Beschäftigten auf dem Bau. Dazu kommt, dass Rechtsbrüche kaum dokumentiert sind, und dass Ressourcen und Zeit im Rahmen dieser fragmentierten und komplexen Organisationsstruktur nicht reichen, da viele der Arbeiter zu spät oder gar nicht von ihren Möglichkeiten erfahren. Wie Markus Köck, der als Doktorand an der Hochschule Fulda zu prekärer europäischer Arbeitsmigration forscht, meint, ist der Kampf im Nachhinein häufig kaum umsetzbar. Es ist eine »Herkulesaufgabe«, der die bestehenden Organisationen trotz vielversprechender Ansätze mit ihren aktuellen Mitteln kaum gerecht werden können.
Auf allen politischen Ebenen, ob regional oder europäisch, mangelt es an politischem Willen und Bewusstsein. Trotz großer Widerstände kämpfen Arbeiter, Beratungsstellen und Gewerkschaften einen wichtigen Kampf dagegen. Um aber zumindest den Arbeitsschutz zu verbessern und die Zahl der (tödlichen) Unfälle zu reduzieren, braucht es breitflächige und regelmäßige behördliche Qualitätskontrollen der Arbeitsschutzmaßnahmen. Dass dies Kosten verursacht und damit nicht im Interesse der entscheidenden Akteure ist, belegen die Opfer in der Hafencity und viele weitere Todesfälle auf deutschen Baustellen. Seien es Luxuswohnungen und Bürohochhäuser von Großinvestoren oder der EZB-Neubau im Frankfurter Ostend – der Motor des europäischen Kapitals läuft weiterhin mit dem Schweiß osteuropäischer Bauarbeiter. Und manchmal ist auch ihr Leben der Preis für die funkelnden Bauten.