22. März 2024
Bedrängte Landwirte protestieren gegen eine Politik, die über Jahrzehnte von der Agrarlobby mitgestaltet wurde. Und diese nutzt den Moment, um wiederum die Sonderinteressen von Großkonzernen durchzusetzen.
Ein Feuer bei den Bauernprotesten in Brüssel Anfang 2024.
Anfang 2024 platzte der Bauernschaft Europas der Kragen. Nicht nur in Deutschland, sondern etwa auch in Frankreich, Belgien, Portugal, Griechenland, Italien und Polen gingen Bäuerinnen und Bauern wochenlang mit ihren Traktoren auf die Straßen. Das EU-Parlament in Brüssel wurde mit Eiern beworfen, in Frankreich wurden die Eingänge von Fastfood-Restaurants und Regierungsgebäuden mit Mist, Stroh und Altreifen blockiert. In Deutschland waren bereits am Tag eins etliche Autobahnzufahrten nicht mehr passierbar, ganze Städte abgeriegelt. Ein Mensch wurde schwer verletzt, als ein Autofahrer eine Blockade umfuhr.
Solche Bauernproteste sind nicht ganz neu. Zuletzt eskalierte die Situation 2022 in den Niederlanden: Die Zufahrten von Supermärkten wurden blockiert, Heuballen in Brand gesetzt, Müll und Asbest auf die Straßen gekippt. Die Landwirtinnen und Landwirte protestierten damals gegen Pläne der Regierung, Viehbestände stark zu reduzieren, um Emissionen von Stickoxiden und Ammoniak zu senken – Zwangsenteignungen nicht ausgeschlossen.
In Italien richteten sich die jüngsten Proteste gegen unlautere Geschäftspraktiken und Dumpingpreise des Lebensmittelgroßhandels. In Deutschland entzündeten sie sich an Sparplänen der Bundesregierung. Diese kündigte von heute auf morgen an, die Befreiung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen von der Kfz-Steuer und die Steuervergünstigungen für Agrardiesel abzuschaffen. Doch inzwischen ist deutlich geworden, dass es bei den Demonstrationen nicht nur um den Agrardiesel geht.
Denn die Probleme der Landwirtschaft sind enorm, die Wut sitzt viel tiefer und hat sich lange aufgestaut. Landwirtinnen und Landwirte protestieren gegen die Agrarpolitik ihrer Regierungen und der EU. Sie beklagen sinkende Verkaufspreise, steigende Kosten, zu strikte Regulierungen und Bürokratie, übermächtige Industriegruppen, billige Konkurrenzwaren aus dem EU-Ausland und extreme Wetterereignisse, die immer häufiger werden. Sie fühlen sich von der Politik übergangen. Dabei erhält die europäische Landwirtschaft massive Subventionen. Wie passt das zusammen?
Angesichts von Klimawandel, Biodiversitätskrise und Strukturwandel steht der Sektor vor großen Herausforderungen, bei denen er Täter und Opfer zugleich ist. Die Landwirtschaft muss ihre klimaschädlichen Emissionen senken, mit deutlich weniger Pestiziden auskommen, biodiversitätsfreundlich und tiergerechter werden – und sich gleichzeitig an Dürreperioden und Starkregen anpassen, für junge Menschen im ländlichen Raum attraktiver werden und ökonomisch rentabel sein, auch für kleine Betriebe. Doch auf den ersten Blick scheinen die Demonstrationen vor allem den Status quo zu verteidigen. In Deutschland zum Beispiel fordert der mächtige Bauernverband (DBV), die Subventionen in vollem Umfang beizubehalten.
Wer behauptet, das derzeitige System zu verteidigen hieße, alle Bäuerinnen und Bauern zu verteidigen, der erzählt Lügengeschichten.
DBV-Präsident Joachim Rukwied erklärte im Januar: »Wer eine gesamte Branche und den ländlichen Raum so massiv vor den Kopf stößt, muss sich über eskalierenden Widerstand nicht wundern.« Schaut man sich die »gesamte Branche« näher an, merkt man aber, dass es »die Bauern« gar nicht gibt. Schweinehalter oder Winzer, kleinbäuerliche Höfe oder Großbetriebe, mit oder ohne Landeigentum – die Unterschiede sind bedeutend. Das Narrativ von »den Bauern« nutzt vor allem jenen, die von den aktuellen Machtverhältnissen und Mechanismen am meisten profitieren.
Zwischen 2005 und 2020 sind EU-weit über 5 Millionen landwirtschaftliche Betriebe verlorengegangen, zugleich ist die bewirtschaftete Fläche stabil geblieben. In anderen Worten: Die Lebensmittelproduktion konzentriert sich in immer weniger Händen. Wer behauptet, das derzeitige System zu verteidigen hieße, alle Bäuerinnen und Bauern zu verteidigen, der erzählt Lügengeschichten.
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Silvia Monetti ist Politikwissenschaftlerin, arbeitet im Verbraucherschutz und promoviert zum Thema Ernährungspolitik und soziale Gerechtigkeit.