07. März 2024
Bayerns Kultusministerium will Musik, Kunst und Werken an Grundschulen zusammenkürzen. Kinder sollen nur noch lernen, was der deutschen Wirtschaft nützt.
Kunstunterricht ist oft ein Rückzugsraum vor dem sonst allgegenwärtigen Leistungsdruck.
»Nicht schon wieder Lesen!« Bringe ich einen Text in den Unterricht ein, kann ich sicher sein, dass irgendwer diesen Satz ins Klassenzimmer ruft. Die Arbeit mit Texten stellt für viele Schülerinnen und Schüler nicht nur an meiner Mittelschule einen enormen Stressfaktor dar. Dies zeigte auch die jüngste PISA-Studie. Hier schnitten deutsche Schulkinder unter anderem im Umgang mit Texten schlecht ab.
Das bayerische Kultusministerium reagiert nun auf dieses Problem – allerdings in denkbar kontraproduktiver Weise: Es plant, im Rahmen einer neuen »PISA-Offensive« in der Grundschule Musik, Kunst und Werken de facto abzuschaffen.
Die Abschaffung der musisch-künstlerischen Fächer findet freilich durch die Hintertür statt. Kunst, Musik und Werken werden in Bayern ab kommendem Schuljahr als Fächerverbund unterrichtet, damit mehr Zeit für Deutsch und Mathe bleibt. Sie verschwinden zwar nicht. Aber in der Realität heißt diese Entscheidung: Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren werden nur mehr zwei Stunden pro Woche entweder musizieren, malen oder etwas basteln – je nachdem, welche Lehrkräfte gerade zur Verfügung stehen. Auf diese Weise hofft das Kultusministerium »mehr Raum für die Basiskompetenzen« zu schaffen. Den Leseschwierigkeiten bayerischer Schülerinnen und Schüler wird also mit dem Motto begegnet: Ja, dann lern halt mehr.
»Die Auseinandersetzung über die bayerische PISA-Offensive spiegelt die allgemeine Dominanz der Wettbewerbslogik.«
Wie zu erwarten, regt sich gegen diese pädagogisch fragwürdige Entscheidung Widerstand. Eine Petition mit weit über hunderttausend Unterschriften fordert das Ministerium auf, Kunst, Musik und Werken an Grundschulen zu erhalten. Indes, die Argumente, die diese Petition aufführt, ähneln nicht nur in der Sprache den Gedankengängen des Kultusministeriums: Die kreativen Fächer seien deswegen bewahrenswert, da sie unter anderem dafür sorgen würden, dass Kinder »sich im Anschluss wieder besser konzentrieren können«. Außerdem würden sie wichtige »Zukunftskompetenzen« fördern, welche »für die private und berufliche Entwicklung der Kinder ungemein wichtig« seien.
In beiden Fällen wird also kein Gedanke an das Wohl der Kinder verschwendet. Es geht nicht darum, Schule so zu gestalten, dass sie Spaß macht, oder dass sie möglichst viele Eindrücke und Erkenntnisse verschafft. Stattdessen stimmen die Petition und das Kultusministerium prinzipiell darin überein, dass es nur um die Verwertbarkeit der Schülerinnen und Schüler geht. Die Schule solle sie kompetent machen für den Arbeitsmarkt und das Privatleben – die Streitfrage ist eigentlich nur, ob Musik und Co. sinnvoll dazu beitragen können.
Es ist nun nichts Neues, dass Schule im Kapitalismus vor allem dazu dient, künftige Arbeitskräfte verwertbar zu machen und zu domestizieren. Dies hat zum Beispiel der Marxist Louis Althusser schon in den 1970er Jahren beschrieben.
Zu Althussers Zeit existierte jedoch noch ein ideologischer Überbau, der diese Realität mit frommen Worten überdeckte: Bildung diene der allgemeinen Menschheitsentwicklung, der Aufklärung, dem Humanismus. Von diesen Illusionen ist in der aktuellen Debatte in Bayern nichts mehr übriggeblieben. Die Kategorie der Verwertbarkeit und des Wettbewerbs bildet hier einen unhintergehbaren Horizont. Wir leben eben in Zeiten des kapitalistischen Realismus, in denen niemand mehr die Logik des Marktes infrage stellt.
»Stattdessen soll beispielsweise gelernt werden, wie man anhand von Werbetexten Kaufentscheidungen treffen kann.«
Gerade im Schulsystem erfährt man das Tag für Tag: Wer einmal miterlebt hat, wie Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse in Bayern vor dem Übertrittszeugnis einem rigorosen Leistungs- und Self-Assessment-Regime unterworfen werden, kann am kapitalistischen Realismus wenig Zweifel haben. Genauso sprechen die Lehrpläne – insbesondere im Fach Deutsch – eine unverkennbar kapitalistisch-realistische Sprache.
Folgt man den Empfehlungen des bayerischen Kultusministeriums, soll es im Deutschunterricht in der Mittelschule zum Beispiel nicht um die Freude an Literatur gehen. Stattdessen soll beispielsweise gelernt werden, wie man anhand von Werbetexten Kaufentscheidungen treffen kann. Die Schule in Deutschland ist eine Schule des Marktes und für den Markt. Pädagogisches Konzept des Unterrichts und Ziel der Schulbildung ist es, die Schulkinder für den Wettbewerb bereitzumachen.
Die Auseinandersetzung über die bayerische PISA-Offensive spiegelt diese allgemeine Dominanz der Wettbewerbslogik. Dennoch gibt es einen relevanten Unterschied zwischen beiden Seiten der Debatte: Die kritischen Stimmen argumentieren im Sinne eines »progressiveren« Modus des Neoliberalismus.
Sie sehen Schülerinnen und Schüler durchaus auch als Objekte der Verwertung, doch sie integrieren in ihre Vermarktbarkeitsfantasien Vorstellungen eines kreativen, kapitalistischen Subjekts. Kreativität helfe den Kindern, sich zu entwickeln und sei eine wichtige Zukunftskompetenz – eine Ansicht, wie sie in den erfolgreichen Jahrzehnten des Neoliberalismus, die von Designer-Revolutionen, radikalem Individualismus und kreativen Ich-AGs geprägt war, durchaus zutraf. Das Kultusministerium dagegen vertritt einen autoritären Neoliberalismus – autoritär insofern, als er sozialdarwinistischen Logiken folgt, exkludiert und Gewalt, Schmerz, sowie Krisenfolgen externalisiert.
Genau das ist der Effekt der bayerischen PISA-Offensive. Dazu muss man sich klarmachen: Ungefähr 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen an deutschen Schulen leiden schon jetzt an psychischen Problemen. Zerknirscht von allgegenwärtigem Leistungsdruck, ständigen Prüfungssituationen und der frühen Selektion nach der vierten Klasse, brechen viele einfach zusammen.
»Die Regierungen haben keine Geduld mehr für Fächer wie Kunst, die keinen Standortvorteil verschaffen.«
Diesen Kindern nimmt das bayerische Programm ab nächstem Schuljahr einen weiteren Rückzugsraum, in dem Leistungsdruck eventuell nicht im Vordergrund stand. Sie haben noch weniger Pausen, der allgemeine Wettbewerb und Druck werden erhöht. Für diejenigen unter ihnen, die bereits Probleme haben – seien es psychische oder soziale – wird Schule nur noch härter. Sie werden entsprechend noch mehr durchs Raster fallen und in vielen Fällen an Förder- oder Mittelschulen ohne Perspektive jenseits des Billiglohn-Arbeitsmarktes enden.
Statt sie zu unterstützen, unterwirft das Bildungsministerium Grundschulkinder einem noch härteren Wettbewerb. Und die, die damit nicht klarkommen, werden aussortiert. Diesen Kindern, die oft ohnehin schon an einem brutalisierten Gesellschaftssystem zu leiden haben, wird noch mehr Stress zugemutet, sie werden noch mehr exkludiert: von Bildungschancen, von Partizipation an Kunst, Musik, Kultur.
Diese Politik gründet auf einer Weltsicht, in der es zum einen nur um messbare Leistung im Wettbewerb geht. Zum anderen aber gehört zu dieser Weltsicht eine radikale Bestrafung von Schwäche, ja eine Ablehnung von allem, das nicht ins Raster der Marktlogik passt. Darum kann man auch so Unverwertbares wie Basteln in der Schule einfach wegkürzen.
Schon seit einiger Zeit können wir die Entstehung dieses autoritären Modus des Neoliberalismus beobachten. In Reaktion auf die dauernden Krisen der letzten Jahre wird brutalisiertes, oft sozialdarwinistisches Denken immer akzeptabler, die Gesellschaft rutscht nach rechts. In der Pandemie wurde zum Beispiel ernsthaft darüber diskutiert, ob es nicht einfach Effekt der »Immunlotterie« sei, wenn ältere, kränkere oder unfittere Menschen an der Seuche sterben würden. In Bezug auf Geflüchtete wird schon lange darüber debattiert, welche verwertbar sind, und welche in Wüsten oder auf dem Mittelmeer ihrem Schicksal anheimgegeben werden sollen.
Die aktuelle Politik des bayerischen Kultusministeriums ist nur ein kleines Mosaiksteinchen in diesem Gesamtbild. In einer Situation, in der die deutsche Wirtschaft lahmt und der Klimakollaps allgegenwärtig ist, wirft die Gesellschaft Mitmenschlichkeit und Solidarität über Bord.
Die Regierungen haben keine Geduld mehr für Fächer wie Kunst, die keinen Standortvorteil verschaffen. Stattdessen scheint die Devise – nicht nur in den Bildungsministerien – zu lauten, die deutsche Wirtschaft mit aller Macht im Wettbewerb gegen andere Nationalökonomien zu stärken. Und wenn dies zulasten von Kindern und Jugendlichen geht und vielen die Freude am Unterricht, an Kunst und Musik nimmt, wird dies nicht einfach nur hingenommen, sondern begrüßt.
Sebastian Schuller ist Lehrer, Literaturwissenschaftler und Publizist. Sein jüngstes Buch Die Freiheit, die sie meinen ist bei Edition Assemblage erschienen.