23. Dezember 2025
Der Kapitalismus ist ein global wirkendes Wirtschaftssystem. Eine Chronik seines Aufstiegs muss daher die ganze Welt in den Blick nehmen. In seinem neuen Buch »Kapitalismus: Geschichte einer Weltrevolution« leistet der Historiker Sven Beckert genau das.

Luftaufnahme der Schlachthöfe von Chicago, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Symbol des amerikanischen Kapitalismus wurden.
Sven Beckerts gewichtiges neues Buch ist unglaublich ambitioniert. Der Harvard-Historiker – der Pionierarbeit bei der Entwicklung neuer Narrative geleistet hat, die untersuchen, wie der sich ständig wandelnde Kapitalismus zu einem sozial und kulturell fest verwurzelten Phänomen geworden ist – präsentiert eine aufschlussreiche und gut recherchierte Geschichtsdarstellung. Auf mehr als 1.000 Seiten bietet Beckert eine Zusammen- und gelegentlich Neufassung von fast allem, was wir über die Geschichte des Kapitalismus gelernt haben, und zwar nicht nur in den bestens analysierten Gesellschaften in der Nordatlantikregion. Es handelt sich um eine globale Geschichte, betont Beckert, denn der Kapitalismus war »schon immer« eine »globale Wirtschaftsordnung«. Er schreibt im Sinne eines Weltsystems à la Fernand Braudel und Immanuel Wallerstein und spürt Verbindungen, Parallelen und Veränderungen auf, die sich in einer fast tausendjährigen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vollzogen haben.
Der Historiker Marc Bloch erklärte einst, eine sorgfältige Beobachtung der Alltagswelt sei für das Verständnis von Geschichte ebenso wichtig wie die Zeit, die man in Archiven verbringt. Beckert stimmt dem offensichtlich zu: Sein Buch ist kein Ergebnis reiner (umfangreicher) Quellenrecherchen, sondern auch von Besuchen in Fabriken, Plantagen, Lagerhäusern, Eisenbahnstationen, Häfen, Villen, Moscheen, Kirchen und Kaufmannshäusern, von Phnom Penh bis zum Senegal, von Samarkand bis Amsterdam und von Turin bis Barbados. Ich kann die Bedeutung solcher Reisen persönlich bestätigen: Als ich vor zwanzig Jahren das chinesische Perlflussdelta besuchte (das damals im Begriff war, zur »Werkbank der Welt« zu werde), gewann ich nicht nur Einblicke in die Beschaffungs- und Lieferketten von Walmart, sondern bekam auch ein intuitiveres Verständnis dafür, wie das boomende und sprießende Detroit vor fast einem Jahrhundert ausgesehen haben muss.
Es gebe keinen »französischen Kapitalismus« und keinen »amerikanischen Kapitalismus«, schreibt Beckert, »sondern es gibt Kapitalismus in Frankreich und in Amerika«. Und es gab oder gibt Kapitalismus in Arabien, in Indien, China, Afrika und sogar bei den Azteken. Bei seiner Darstellung der Kaufleute und Händler in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends rückt Beckert Europa zunächst in den Hintergrund. Stattdessen bietet er einen detaillierten und – von einigen Fachleuten abgesehen – weitgehend unbekannten Überblick darüber, wie die für Handel und Märkte unverzichtbaren Institutionen (Kreditwesen, Buchhaltung, Kommanditgesellschaften, Versicherungen und Bankwesen) anderswo auf der Welt florierten, sei es in Aden, Cambay, Mombasa, Guangzhou, Kairo oder Samarkand. Sie alle waren »Inseln des Kapitals« – eine wiederkehrende Metapher in Beckerts Buch. So war Aden im 12. und 13. Jahrhundert Zentrum eines engmaschigen Netzwerks von Kaufleuten, die eine zentrale Rolle im Handel zwischen der arabischen Welt und Indien spielten. Es war eine gut befestigte, kosmopolitische Stadt, bevölkert von Jüdinnen, Hindus, Muslimen und einigen wenigen Christen.
»Die Entdeckung der Neuen Welt war zwar von entscheidender Bedeutung, jedoch nicht der einzige Faktor, der zur Entstehung eines globalen Marktes beitrug.«
Diese Menschen waren die ersten Kapitalisten der Welt, schreibt Beckert. Sie investierten Geld, erzielten Gewinne und reisten nicht mit ihren Waren umher, sondern blieben vor Ort und trieben Handel mit teilweise weit entfernten Partnern. Auf den regionstypischen Dau-Segelschiffen konnten Waren transportiert werden, die in zwei moderne Container passen würden. Die Rundreise von Kairo über Aden nach Indien und zurück dauerte zwei Jahre. Trotz der Unterschiede bei Umfang und Geschwindigkeit des Handels vertritt Beckert die Ansicht, die Kaufleute von Aden hätten in einer »überraschend modernen Welt« gelebt. Im Gegensatz zu den Landadligen in Europa und anderswo erlangten sie ihren Reichtum nicht durch Plündern, Steuern oder Tributzahlungen, sondern nutzten einen Markt, um günstig ein- und möglichst teuer zu verkaufen. Dies geschah auch innerhalb der orientalischen Despotien, die Karl Marx für besonders hierarchisch und einengend hielt.
Beckert entdeckt auch im indischen Mogulreich einen regen politischen Wettbewerb und Aktivismus der Kaufleute. Dort bildeten der Sultan und seine Berater nur eine lockere Autoritätsinstanz über den lokalen Machthabern. Jenseits der glänzend-aufgeplusterten Herrschaftsdynastien überlebten alle diese Staaten, die gemeinhin als Beispiele für »orientalischen Despotismus« gelten, indem es ständige Verhandlungen mit unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung gab (allen voran mit den Kaufleuten), um die für die immerwährenden Kriege notwendigen finanziellen Mittel und Materialien aufbringen zu können.
In Beckerts Geschichtsdarstellung sind Kaufleute die Revolutionäre, insbesondere in frühen Zeiten. Sie seien damals »Kapitalisten ohne Kapitalismus« gewesen; ihre profitorientierten Aktivitäten waren auf einzelne Städte beschränkt. Zwar waren diese »Inseln« durch Handelswege und Seerouten miteinander verbunden, doch lagen sie weitgehend isoliert inmitten eines riesigen Hinterlandes, während sich eine »merkantile Elite« über die Zentren der ganzen Welt verstreut hatte. Diese Kaufleute waren somit »nur kleine Tropfen im Meer des Wirtschaftslebens, dessen Hauptströmungen einer vollkommen anderen Logik folgten«.
In Anlehnung an Karl Polanyi verdeutlicht Beckert, dass der Großteil der Weltbevölkerung auf dem Land lebte, wo, wie Marc Bloch es formulierte, das Wirtschaftsleben »in sozialen Beziehungen eingebettet« war. International agierende Kaufleute wurden in diesem Setting zu einer eigenen Kaste: »Trotz riesiger Entfernungen und unterschiedlicher Kulturen hätten Kaufleute aus Guangzhou, Gujarat, Aden oder Genua, von der ostafrikanischen Küste oder aus Buchara einander im Großen und Ganzen erkannt.« In seiner Darstellung dieser frühen Jahrhunderte sucht Beckert sorgfältig nach Mustern unter diesen Händlern und hält sich nicht mit den offensichtlichen religiösen und sozialen Unterschieden auf. Er vertritt die These, dass die frühen »Inseln des Kapitals« eines Tages in die breitere Gesellschaft hineinbrechen und all jene alten und traditionellen Bindungen, die auch nach dem Untergang des Feudalismus noch lange Bestand hatten, grundlegend verändern würden.
»Das Wachstum, die Ambitionen und die Konflikte zwischen allen Staaten, insbesondere aber denen Europas, verstärkten Macht und Einfluss der Kaufleute.«
Beckert widerspricht damit dem Historiker Robert Brenner. Letzterer löste in den 1970er und 1980er Jahren die »Brenner-Debatte« aus, wobei er argumentierte, dass der Kapitalismus – zumindest in England – seine Wurzeln nicht in der städtischen Kaufmannsschicht habe, sondern auf dem Land, wo habgierige Landbesitzer einen Klassenkampf gegen Bauern und Kleinbauern führten, deren Lebensunterhalt von Traditionen wie dem Zugang zu Jagd-, Weide- und Holzsammelrechten abhing. Diese Bäuerinnen und Bauern pachteten Land zu einem festgesetzten Preis vom örtlichen Grundherrn und gingen davon aus, dass Märkte auf den regionalen Handel mit den für die eigene Ernährung unverzichtbaren Gütern beschränkt seien. Luxusgüter wurden zwar über teils riesige Entfernungen gehandelt, aber sie wurden lediglich von einer kleinen Elite gekauft und verkauft. Marx unterstellte den Kaufleuten daher eine rein externe Beziehung zur feudalen Produktionsweise, während Maurice Dobb in den 1930er Jahren Kaufleute als »Parasiten der alten Wirtschaftsordnung« und als »vielmehr konservative denn revolutionäre Kraft« betrachtete. Auch Brenner sah in ihnen einen integralen Bestandteil der feudalen Gesellschaft und somit kaum eine disruptive Kraft.
Im Kern stimmt Beckerts Buch mit Brenners These überein, dass eine radikale Umgestaltung der Warenproduktion im Hinterland für den weltweiten Triumph des Kapitalismus unerlässlich war. Er widmet zwei sehr umfangreiche Kapitel der Transformation und Eroberung des ländlichen Raums, von frühneuzeitlichen Einfriedungen über den Aufstieg fabrikähnlicher Zuckerplantagen bis hin zur Protoindustrialisierung, die im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschend wurde. Die treibende Kraft hinter all diesen Umwälzungen waren jedoch nicht habgierige Grundbesitzer auf dem Land, die neue Zäune um einstige Commons zogen und damit eine »Überschussbevölkerung« schufen, die nun für Lohnarbeit in die städtischen Zentren zogen mussten. Vielmehr waren es ambitionierte Kaufleute, die über das Kapital (und die Unterstützung des Staates) verfügten, das ihnen die Möglichkeit gab, mit dieser Ent- und Aneignung zu beginnen, die modernere Marktbeziehungen in den ländlichen Raum brachten.
Beckerts Darstellung steht auch teilweise im Widerspruch zu Jonathan Levy, dessen 2021 erschienenes Buch Ages of American Capitalism mit über 900 Seiten fast ebenso umfangreich ist. Levy vertritt die Auffassung, dass die »Präferenz für Liquidität« vieler Kapitalisten zur meisten Zeit und an den meisten Orten immer in Spannung zur Investitionsfunktion stand. Dies sorgte für Immobilität und Illiquidität einiger der wichtigsten Kapitalgüter. Levy fokussiert sich auf die spekulativen, finanzialisierten Aspekte des nordatlantischen Kapitalismus ab dem 17. und 18. Jahrhundert. Beckert hingegen rückt diese psychologisch-ökonomischen Befindlichkeiten meist in den Hintergrund (obwohl auch er eloquent über die Paniken, Booms und Krisen schreibt, die vom frühen 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit hinein ein Merkmal des Weltkapitalismus sind). Mittelpunkt seines Buches bleiben hingegen die Expansion von Handel und Produktion, auch wenn er die Ursprünge und den Verlauf der jüngsten Ära des Kapitalismus, den Neoliberalismus, schildert.
Im Zuge der sogenannten »großen Vernetzung« des 15. und 16. Jahrhunderts kam es zu einem explosionsartigen Wachstum des Handelskapitalismus. Die Entdeckung der Neuen Welt war zwar von entscheidender Bedeutung, jedoch nicht der einzige Faktor, der zur Entstehung eines globalen Marktes beitrug. Historikerinnen und Historiker weisen seit Langem darauf hin, dass die osmanische Eroberung Konstantinopels den einfachen Zugang zu Indien und dem Fernen Osten blockierte, während zeitgleich der Niedergang des Feudalismus die Herrscher dazu veranlasste, nach neuen Geldquellen zu suchen, um die praktisch ständig währenden Kriege zu finanzieren. Daher richteten Kaufleute und ihre königlichen Gönner den Blick vor allem nach Westen.
In einem weiteren Beispiel dafür, wie Beckert von traditioneller Geschichtsschreibung abweicht, widmet er sich weitaus ausführlicher der Erkundung und Ausbeutung der westafrikanischen Küstenregionen durch Genua und Portugal als der Entdeckung der Neuen Welt durch einen gewissen Christoph Kolumbus. In der Hoffnung, arabische Zwischenhändler umgehen zu können, »erforschten« diese Mächte die gesamte afrikanische Küste hinunter bis zum Kap der Guten Hoffnung und um dieses herum. Letztlich war es dennoch die europäische Kontrolle über den Atlantik und die Neue Welt, die der kapitalistischen Revolution ihren eurozentrischen Charakter verlieh.
Das Wachstum, die Ambitionen und die Konflikte zwischen allen Staaten, insbesondere aber denen Europas, verstärkten Macht und Einfluss der Kaufleute. Dies geschah auf zweierlei Weise. Erstens erforderten die chronischen Kriege des langen 16. Jahrhunderts enorme Summen – und diese kamen von den Kaufleuten und Bankiers, deren Einfluss an den Königshöfen infolgedessen immer weiter wuchs. Die Staaten führten Krieg, und Kriege schufen neue Staaten. Und all dies stärkte die Macht der Kaufleute. Zweitens waren Handel und Imperium untrennbar miteinander verbunden. Tatsächlich war es oft schwierig, die Händler von Kriegern und Gouverneuren abzugrenzen. Die Ostindien-Kompagnien der Niederländer und Engländer waren nahezu eigenständige Staaten. Beckert vergleicht diese Monopole mit ihren tausenden Soldaten und hunderten Schiffen mit den quasi-staatlichen Gewaltakteuren unserer Zeit: Amerikas Blackwater und Russlands Wagner-Gruppe.
Er schreibt: »Krieg war, wohin wir schauen, fast so etwas wie der Dauerzustand der großen Vernetzung.«
»Wie Beckert immer wieder deutlich macht, war Zwangsarbeit überall und zu fast jeder Zeit von zentraler Bedeutung für das kapitalistische Wachstum und das Generieren von Profiten.«
Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts erweiterte sich die Welt des Kapitals, als Insel um Insel – sowohl im übertragenen als auch im wortwörtlichen Sinne – zum Handelsuniversum hinzukamen: Santo Domingo 1516, Macau 1557, Batavia 1619, Manhattan 1624 und Barbados 1627. Unter diesen zahlreichen imperialen Zuwächsen stellt Beckert zwei »Inseln« besonders heraus, deren Einnahmen alles bisher Dagewesene in den Schatten stellten.
Um 1600 herum war Potosí zur größten Stadt des amerikanischen Kontinents geworden – bevölkerungsreicher als London, Mailand oder Sevilla. Dort förderten 160.000 Menschen aus den Anden, aus Afrika und aus Europa 60 Prozent des weltweit produzierten Silbers. Und wie praktisch jede andere Insel der Neuen Welt, auf der sich Kapital konzentrierte, konnte Potosí nur durch Zwangsarbeit gedeihen. In der Sklaverei kamen jedes Jahr Tausende Bergleute ums Leben – oft vergiftet durch Quecksilber, das für die profitable Verarbeitung großer Mengen qualitativ minderwertigen Erzes unerlässlich war. Die Stadt sicherte die Macht Spaniens; König Carlos V. bezeichnete Potosí als »Schatzkammer der Welt«. Andere nannten sie hingegen: »Der Berg, der Menschen verschlingt.«
Barbados war ein weiterer ebenso bemerkenswerter wie brutaler Motor für merkantilistisch-ökonomischen Wohlstand und politische Macht. In den 1660er Jahren lieferte die karibische Insel Zucker nach England, dessen Wert doppelt so hoch war wie der Jahreshaushalt der englischen Regierung. Da Barbados nahezu unbewohnt gewesen war, hatten die Plantagenbesitzer die Möglichkeit, ein besonders produktives System zu schaffen, das nicht durch die üblichen Zwänge behindert wurde, welche die kapitalistische Transformation des ländlichen Raums im alten Europa gebremst hatten. So gab es keine sich einmischende Feudalherren, rebellische Bauern oder einschränkende staatliche Institutionen. Mit ihrem Schwerpunkt auf strenger Arbeitsdisziplin, einer straffen Organisation und einem kompromisslosen Fokus auf Produktivität und Zeitmanagement waren diese Plantagen das erste Beispiel für moderne Großindustrie.
Die wirklich neue Welt war somit auf den sogenannten westindischen Inseln in der Karibik zu finden, und nicht an der Ostküste des nordamerikanischen Kontinents. Tatsächlich wanderten zwischen 1630 und 1700 mehr Europäer in die Karibik als nach Englisch-Amerika aus. Boston und der Rest Neuenglands waren lediglich untergeordnete Glieder in einer globalen Lieferkette und wurden von der wirtschaftlichen Dynamik dieser kapitalistisch ausgebeuteten Inseln völlig in den Schatten gestellt. Wie eine Fließbandfertigung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich unermüdlich auf die Massenproduktion eines einzigen Produkts konzentriert, waren die Monokultur-Plantagen auf den Inseln der Prototyp für eine neue Form der Produktion, in der Arbeit, Kapital und globaler Handel nahtlos miteinander verflochten waren.
»Wirklich ›freie Arbeit‹ ist in Beckerts Darstellung kaum zu finden. Wenn es sie jemals in der Form gegeben hat, wie sie sich an Smith orientierte Ökonomen vorgestellt haben, dann war ihr Auftreten historisch eher episodisch und überaus flüchtig.«
Wie Beckert immer wieder deutlich macht, war Zwangsarbeit überall und zu fast jeder Zeit von zentraler Bedeutung für das kapitalistische Wachstum und das Generieren von Profiten. Europäische Händler brachten bis 1760 rund 4,38 Millionen versklavte afrikanische Menschen in die Neue Welt (doppelt so viele wie die europäischen Migranten, die im gleichen Zeitraum nach Amerika kamen). Die Zahl der versklavten Landarbeiterinnen, Handwerker und Bergleute, die auf Zucker-, Tabak-, Reis-, Indigo- und Baumwollplantagen sowie in den Silberminen des amerikanischen Kontinents tätig waren, betrug rund 1,73 Millionen Menschen – zu einer Zeit, als die gesamte arbeitende Bevölkerung Englands 2,9 Millionen Menschen umfasste. Etwa ein Drittel des Kapitalvermögens des britischen Empire bestand 1788 aus Sklaven. Als das System abgeschafft wurde, musste die Regierung 20 Millionen Pfund Sterling – 40 Prozent ihres Gesamthaushalts – aufnehmen, um die Ex-Sklavenhalter für die Befreiung ihres menschlichen Eigentums zu entschädigen.
Beckert folgt auch den Pfaden bisher meist vernachlässigter karibischer Intellektueller wie Eric Williams und C. L. R. James. Diese hatten Pionierarbeit geleistet, indem sie die Rolle hervorhoben, die Gewalt und Sklaverei dabei spielten, die westindischen Inseln damals in den Mittelpunkt des kometenhaften Aufstiegs des Weltkapitalismus zu stellen.
Der Zwang zur Arbeit endete nicht mit der Abschaffung der Sklaverei und der Einführung der Lohnarbeit. Wirklich »freie Arbeit« ist in Beckerts Darstellung kaum zu finden. Wenn es sie jemals in der Form gegeben hat, wie sie sich an Smith orientierte Ökonomen vorgestellt haben, dann war ihr Auftreten historisch eher episodisch und überaus flüchtig. So wurden nach der formellen Abschaffung der Sklaverei Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von äußerst raffinierten Arbeitsregimen an ihre Stelle gesetzt.
In seinem 2014 erschienenen Buch King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, erzählt Beckert von den Berichten zahlreicher Journalistinnen und Beamter, die festhalten, dass die boomende Baumwollwirtschaft, die den US-amerikanischen Süden mit Großbritannien und dem übrigen Europa verband, ohne Sklaverei schlicht zusammengebrochen wäre. Mit dem Ende der Sklaverei bedurfte es neuer Formen sklavenähnlicher Zwangsarbeit, um Arbeitskräfte im landwirtschaftlich geprägten Hinterland zu rekrutieren und zu halten – nicht nur für den Baumwollanbau, sondern auch mit Blick auf Kautschuk, Tee, Reis und andere Erzeugnisse. Seit langem ist bekannt, dass es auch nach dem Ende der Sklaverei im amerikanischen Süden Sharecropping, Pachtwirtschaft und Schuldknechtschaft gab. Doch auch in Asien und Afrika waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert Millionen von Landarbeitern in Vertragsknechtschaft, lebten in sklavenähnlichen Baracken und waren Auspeitschungen sowie anderen Formen körperlicher Gewalt ausgesetzt.
In den 100 Jahren nach 1839 brachten die europäischen Kolonialmächte mehr als zwei Millionen solcher Arbeiterinnen und Arbeiter in die Karibik, nach Südafrika und Lateinamerika. All das verblasst aber im Vergleich zu den 27 Millionen südasiatischen Arbeitern, die meist von indischen Vermittlern nach Burma, Ceylon und Malaysia geschickt wurden, um Reis-, Tee- und Kautschukplantagen zu bewirtschaften. Rein zahlenmäßig stellen sie eine deutlich größere Zahl dar als die der Opfer der dreihundertjährigen atlantischen Sklavenhandelsgeschichte.
Derweil bedeutete Lohnarbeit in den neuen Fabriken keine wirklich freie Arbeit: Das Narrativ war vielmehr ein Täuschungsmanöver, das dazu diente, die proletarische Arbeit im industriellen Kernland von der Sklavenarbeit anderswo, in der Peripherie, abzugrenzen. Trotz der Härten der landwirtschaftlichen Arbeit oder der protoindustriellen Heimarbeit waren nur wenige Arbeiter (und schon gar keine erwachsenen Männer) daran interessiert, in den neuen Fabriken zu arbeiten, wo strenge Überwachung und harsche Arbeitskonditionen ein gefängnisähnliches Umfeld schufen. Nicht zufällig bestand ein Großteil der frühen Belegschaften aus Frauen und Kindern. Ein Landbesitzer bezeichnete Werkssiedlungen als »passende Zuflucht für diejenigen, die von ihren Höfen vertrieben worden sind«. In den Städten richteten sich die Landstreichereigesetze gegen die »faulen und unordentlichen Armen«, während der britische Master and Servant Act von 1823 Arbeiter strafrechtlich haftbar machte, wenn sie ihren Arbeitgeber vor Ablauf ihres Arbeitsvertrags verließen. In Preußen konnten Arbeiter, die ohne »Erlaubnis« ihre Arbeit aufgaben, mit einer Geldstrafe oder zwei Wochen Haft bestraft werden.
»Schließlich wuchsen die amerikanischen und europäischen Industriestaaten auf beeindruckende Weise: Die Eisenbahnen verdreifachten ihre ohnehin schon beträchtliche Gleislängen, der Welthandel vervierfachte sich, und zwischen 70 und 80 Prozent der gesamten globalen Produktion fanden im Vereinigten Königreich, in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten statt.«
Beckert bezeichnet diese Welt der Baumwollfabriken, der Zwangsarbeit auf Plantagen, der königlichen Herrschaft und der Macht der Kaufleute als das alte »Arbeitsregime« des Kapitalismus, in dem die Landadeligen noch viel Macht hatten und Wirtschaftsunternehmen oft staatlich unterstützte Monopole waren. Doch all dies stand auf vorindustriellen Fundamenten. Ein Schock für dieses System waren die vereitelten und auch die erfolgreichen Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Bourgeoisie kam nicht ganz an die Macht, aber die Aufhebung der Korngesetze in Großbritannien, die Aufstände auf dem europäischen Kontinent 1848, der US-amerikanische Bürgerkrieg und die Meiji-Restauration in Japan mobilisierten die neuen Kapitaleigner, gegen die bisher geltenden Grenzen der etablierten Politik vorzugehen und den Einfluss der Landadligen auf die Staatsmacht zu schwächen.
Besonders entscheidend, so Beckert, war das Entstehen riesiger Unternehmen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, die sich mit neuen Technologien in den Bereichen Eisen und Stahl, Elektrizität, Chemie, Transport und Kommunikation befassten. Beckert bezeichnet diese Jahre als den »möglicherweise monumentalsten Wendepunkt in der Globalgeschichte des Kapitalismus«. Es war die Ära, in der der alte Kaufmann endgültig vom Industriebaron verdrängt wurde, »ein fundamentaler Bruch in der mehr als 500-jährigen Geschichte des Kapitalismus, eine Zäsur«.
Beckerts Paradebeispiel ist nicht Andrew Carnegie, dessen Gründung von US Steel den Höhepunkt der Unternehmensfusionen in den Vereinigten Staaten darstellte, sondern Carl Röchling, ein deutscher Bankier und Kohlehändler, der im Saarland ein Stahlimperium aufbaute und es, als sich die Gelegenheit bot, auf nahezu alle Gebiete ausdehnte, die die deutsche Armee eroberte. Wie Carnegie verabscheute Röchling den Markt. Entsprechend waren die Struktur und Führung der Großindustrie um die Wende zum 20. Jahrhundert von vertikaler Integration, Trusts und Kartellen geprägt. Die Belegschaften waren riesig, mit teils mehr als zehntausend Angestellten in jedem Werk. In gewisser Weise ähnelten diese Industrieproduktionsstandorte somit der früheren Arbeit auf karibischen Plantagen.
Dies war der Moment, in dem wir nun ernsthaft und zu Recht eine eurozentrische – oder zumindest nordatlantisch-zentrierte – Analyse der Weltwirtschaft vornehmen können. Schließlich wuchsen die amerikanischen und europäischen Industriestaaten auf beeindruckende Weise: Die Eisenbahnen verdreifachten ihre ohnehin schon beträchtliche Gleislängen, der Welthandel vervierfachte sich, und zwischen 70 und 80 Prozent der gesamten globalen Produktion fanden im Vereinigten Königreich, in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten statt. Es war ein kurzer Moment, weniger als ein Jahrhundert – doch er prägte das Weltbild von mehreren Generationen, inklusive ihrer Wahrnehmung des Kapitalismus.
In diesen Jahren ging der Begriff »Kapitalismus« endgültig in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Seit 1837 hatten Panik und wiederkehrende Rezessionen mindestens einmal pro Generation zu sozialen Unruhen geführt. Dies betraf praktisch alle Schichten, obwohl sich die Gesellschaft bereits in diejenigen mit großem Reichtum und diejenigen ohne Reichtum zu spalten begann. Es wurde ein Begriff nötig, um die neue soziale und ökonomische Realität zu beschreiben. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert gab es in gewisser Weise Kapitalisten (im Sinne von: Personen, die über Mittel für Investitionen oder Kredite verfügten). In Genf bezeichneten sie sich sogar selbst als die »Messieurs les Capitalistes«. Adam Smith schrieb über »Handelsländer« im Gegensatz zu weiterhin agrarisch geprägten Staaten.
Karl Marx nannte sein berühmtestes Werk zwar Das Kapital, doch verwendete er in fast allen seinen Schriften lieber den Begriff »politische Ökonomie«. Die Académie Royale de Lyon ordnete »Kapitalismus« 1842 als »neues Wort« ein, Sozialisten in Großbritannien verbreiteten den Terminus in den 1850er Jahren weiter. Die Fabianer verwendeten ihn in den 1880er Jahren, woraufhin das Wort von der Linken zur Mitte wanderte und der Präsident der American Economic Association die Vereinigten Staaten im Jahr 1900 »als eine Gesellschaft des Wettbewerbskapitalismus« definierte. In den USA blieb der Begriff allerdings weitgehend der Linken vorbehalten, während Geschäftsleute den Ausdruck »freie Marktwirtschaft« bevorzugten. Als jedoch das Magazin Forbes in den 1970er Jahren begann, sich selbst als »capitalist tool« zu bezeichnen, fingen auch Politiker und Unternehmer aus dem rechten Spektrum an, sich selbst sowie ihr Land stolz als eine kapitalistische Gesellschaft zu deklarieren.
Antonio Gramsci bezeichnete die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts als eine »Zeit der Monster«. Beckert stimmt dem zu und postuliert, die 27 Jahre zwischen 1918 und 1945 seien die turbulentesten in der gesamten 500-jährigen Geschichte des Kapitalismus gewesen. Die bolschewistische Revolution war nicht die einzige Umwälzung, die den Industriekapitalismus, der in den Jahrzehnten vor 1914 so stabil schien, in Frage stellte. Beckert rattert auf wenigen Seiten den irischen Aufstand von 1916 in Dublin, die revolutionären Streiks der Metallarbeiter in Petrograd, den Eisenbahnstreik im Senegal, den Generalstreik 1919 in Seattle, das Massaker von Amritsar im April 1919 in Britisch-Indien, die biennio rosso (»zwei rote Jahre«) im Norditalien der Nachkriegszeit, die Rand-Rebellion in Südafrika 1922 und die Gründung einer Ortsgruppe der Universal Negro Improvement Association von Marcus Garvey in Barbados herunter.
Doch die große Revolution der 1920er Jahre blieb aus. In Recasting Bourgeois Europe zeigt der Historiker Charles Maier, inwieweit ein Kompromiss zwischen Kapital und Arbeiterschaft eine Zeit lang eine durch Krieg und Aufstände traumatisierte europäische Gesellschaft stabilisierte. Beckert ignoriert diesen Aspekt weitgehend, zumindest bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und betont stattdessen den Triumph des Fordismus, der zahlreiche europäische Industrielle und Produktionsexperten nach River Rouge und Highland Park lockte, wo Henry Ford gerne persönlich die erstaunlich effizienten Massenproduktionstechniken vorstellte, die seine Ingenieure entwickelt hatten. Giovanni Agnelli von Fiat war einer dieser Besucher, und so untersucht Beckert eingehend, inwieweit Agnelli in der Lage war, Fords gesamte Produktionsphilosophie nachzuahmen. Dies beinhaltete den Plan, in Turin die größte Fabrik in Nachkrieg-Europa zu errichten, dort tausende preiswerte Autos zu produzieren, qualifizierte Arbeitskräfte zu marginalisieren und zu entradikalisieren sowie eine Art Wohlfahrtskapitalismus für die Angestellten zu schaffen.
»Beckert ist der Ansicht, dass die Geschichte des Kapitalismus – wie jedes gesellschaftliche Phänomen – ein Ende haben wird, dass dieses Ende allerdings nicht mit einem revolutionären Knall eintreten wird.«
Der ökonomische Erfolg Amerikas brachte allerdings auch einige Probleme mit sich. Um 1900 waren die Vereinigten Staaten ein Wirtschaftsgigant, der Deutschland und Großbritannien in praktisch allen wichtigen Industrie- und Agrarprodukten mühelos übertrumpfte. Angesichts der Macht, die dieser Markt und der Aufstieg der US-Massenproduktion mit sich brachten, sahen die Europäer eine »amerikanische Gefahr«, der nur durch den imperialen Zugang zu einem möglichst ebenso großen Territorium begegnet werden konnte, wie es die Vereinigten Staaten fast ein Jahrhundert zuvor erworben hatten.
»Die richtige Sichtweise auf Afrika«, hieß es daher im Leitartikel einer britischen Zeitschrift 1905, »ist, es als ein weiteres Amerika zu betrachten, das brach liegt und bereit ist, reiche Ernten einzubringen«. Afrika sei ein »Amerika vor unserer Haustür«, pflichtete eine französische Zeitung bei; Algerien müsse das »Amerika Frankreichs« werden.
Es kam zu einer neuen Verschmelzung von staatlicher Macht und wirtschaftlicher Hegemonie, um die Rohstoffketten zu verstaatlichen sowie zu militarisieren. Adolf Hitler verglich die angeblich notwendige Expansion Deutschlands in den Osten mit der Eroberung des amerikanischen Westens jenseits des Mississippi. »Blut, Boden und Fordismus« waren sozusagen essenziell, um sowohl den Bolschewiken als auch den Amerikanern entgegenzuwirken.
In diesem Kontext entstand im Schatten der Weltwirtschaftskrise ein Streben nach Autarkie und ökonomischem Nationalismus. Für viele schien der Kapitalismus in eine Sackgasse geraten zu sein, was wohl die diversen staatlichen Reaktionen begünstigte, die nun in der Krise möglich wurden. Wie Beckert in seiner Geschichtsdarstellung immer wieder betont, kann der Kapitalismus mit einer Vielzahl höchst unterschiedlicher politischer Regime koexistieren. Während der Depression galten Faschismus, Wiederaufrüstung und imperiale Expansion als eine Lösung, die von Kapitalisten wie den Röchlings unterstützt wurde (die zu begeisterten Anhängern des Nazi-Regimes wurden). Die Unterdrückung der radikalen Arbeiterbewegung und die Eroberung neuer Märkte sowie billiger Lieferketten kamen den Völklinger Stahlwerken definitiv zugute.
Diese Art von industrieller Modernisierung ging während des Krieges mit dem Wiederaufleben der Sklavenarbeit im Herzen Europas einher. Weit über 40 Prozent aller Arbeiterinnen und Arbeiter im Nazi-Reich arbeiteten während des Krieges unter Zwang – eine überwältigende Zahl, die historisch gesehen nur von den Plantagenkolonien in der Karibik übertroffen wurde. Das Röchling-Werk im Saarland »beschäftigte« Zwangsarbeiter, ebenso wurden zahlreiche Zwangsarbeitskräfte nach Deutschland gebracht und bei BMW, Daimler-Benz, Volkswagen, Hugo Boss, Krupp, Leica, Lufthansa und anderen bekannten Unternehmen versklavt.
»In seiner Abhandlung über den Aufstieg des Neoliberalismus geht Beckert kaum auf die Ölpreisturbulenzen der 1970er Jahre, den Volcker-Schock von 1979 und Levys Hinweis auf die Neigung des Kapitals, sich von der Produktion ab- und der Finanzspekulation zuzuwenden, ein.«
Schweden und die USA setzten ebenfalls mehr auf den Staat, verfolgten jedoch einen sozialliberalen Reformismus. Beide Länder könnten als demokratischer Korporatismus beschrieben werden: In Schweden schuf die »Kuh-Vereinbarung« von 1933 die Grundlage für einen zunehmend komplexen Wohlfahrtsstaat. Dieser entstand, als Sozialdemokraten und Bauernschaft eine Übereinkunft erzielten, die letztlich auch die Basis für die aggressive Exportpolitik des Landes bildete. Korporatismus, wenn auch in eher abgeschwächter Form, hielt ebenso in den USA Einzug und zeigte sich sowohl in einem relativ hohen Maß an Marktregulierung als auch an staatlicher Unterstützung für ein Wiederaufleben der organisierten Arbeiterschaft und die Ausarbeitung eines (rassistisch geprägten) Wohlfahrtsstaates. Im sogenannten Globalen Süden schotteten die Türkei und Mexiko ihre Volkswirtschaften ab und konnten den lokalen Lebensstandard durch ein wirtschaftspolitisches Programm mit hohen Zöllen und importsubstituierender Industrieproduktion steigern.
Der Fokus auf den Staat während der Weltwirtschaftskrise in Verbindung mit den Traumata des Zweiten Krieges dürften dem kapitalistischen Westen eine ideologische und staatsbildende Grundlage für die »Trente Glorieuses«, die dreißig glorreichen Jahre der Nachkriegszeit, geboten haben. Zwar zeigt Beckert nur wenig neue historiografische oder theoretische Erkenntnisse über diese Ära, die durch steigende Reallöhne, erhöhte Produktivität und mehr Konsumausgaben gekennzeichnet war, doch werfen seine Beobachtungen zum Leben in Schweden, Australien und Frankreich ein neues Licht auf diese Zeit. So verweist er beispielsweise zu Recht auf das Wachstum des globalen Tourismus, ein genuin neues Massenphänomen (und heute vielleicht die größte Industrie der Welt), das durch die Wirtschaftsarchitektur von Bretton Woods ermöglicht wurde. Diese Wirtschaftsordnung machte zwei scheinbar widersprüchliche Entwicklungen gleichzeitig möglich: Ein System von semi-festen Wechselkursen förderte den freien Handel, während die anhaltende staatliche Kontrolle über die meisten wichtigen Währungen es den Nationalstaaten ermöglichte, ihre eigenen Wohlfahrtsstaaten aufrechtzuerhalten und zu verbessern. Dies war im wahrsten Sinne des Wortes ein »integrierter Liberalismus«; oder wie es ein Ökonom ausdrückte: »Keynes im In- und Smith im Ausland.«
Doch dieses System hatte keinen Bestand. In seiner Abhandlung über den Aufstieg des Neoliberalismus geht Beckert kaum auf die Ölpreisturbulenzen der 1970er Jahre, den Volcker-Schock von 1979 und Levys Hinweis auf die Neigung des Kapitals, sich von der Produktion ab- und der Finanzspekulation zuzuwenden, ein. Stattdessen bringt er einen ausführlichen Bericht über den Militärputsch von Augusto Pinochet in Chile im Jahr 1973 sowie die Unterstützung der US-amerikanischen Botschaft für die darauf folgenden Repressionen und Austeritätsmaßnahmen.
Das ist durchaus passend, weil es zwei Topoi beispielhaft verdeutlicht, die in Beckerts Buch immer wieder auftauchen. Erstens: Der Kapitalismus hat historisch gesehen die Fähigkeit, unter praktisch jeder Art von politischem Regime zu existieren (vielleicht außer dem offenen Bolschewismus). Und zweitens: Jedes Mal, wenn sich in der langen Geschichte des Kapitalismus eine neue Ausprägung manifestiert, spielt der Staat mit Sicherheit eine wichtige Rolle, die häufiger tödlich als segensreich ist. Der Neoliberalismus ist und war daher immer mehr als nur die reine Verherrlichung des Marktes; er verstand sich als eine besondere staatliche Ordnung, in der es die Aufgabe des jeweiligen Regimes war, einen sich selbst verstärkenden Rahmen zu schaffen, der die Marktfunktionen sichert und festigt. In einigen Fällen war der betreffende »Staat« supranational, wie beispielsweise bei der Durchsetzung des »Washington-Konsens« durch den Internationalen Währungsfonds, der insbesondere im Globalen Süden eine aktive Wirtschaftspolitik immens einschränkte.
Opfer waren die Arbeiterinnen und Arbeiter: In Chile inhaftierte die Junta ihre Gegner aus der Linken und den Gewerkschaften und ließ sie schlichtweg »verschwinden«. Von der US-Botschaft in Santiago kam kaum Protest – kein Wunder, denn dort hatte schon vor dem Putsch ein Beamter einen »Kompromiss« zwischen »Demokratie und soliden wirtschaftlichen Maßnahmen« befürwortet. Auf Anraten der »Chicago Boys«, oft ehemalige Studenten von Milton Friedman und Friedrich Hayek, wurden die Gewerkschaften geschwächt, die Reallöhne sanken und die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an. Laut Beckert wurde der chilenische Diktator Augusto Pinochet zum »Lenin des Neoliberalismus«.
»Beckerts umfangreiches Werk bietet einer neuen Generation von Kapitalisten wie Antikapitalisten zahlreiche Präzedenzfälle für eine neue Welt, die sie sich erdenken mögen.«
»Die Mittelschicht und die Oberschicht befanden sich plötzlich in einer paradiesischen Situation«, beobachtete ein amerikanischer Beamter in Chile damals. Die US-Botschaft begrüßte die Lähmung der Arbeiterbewegung und die Aussetzung des Streikrechts als »wirksame Mittel«, da die »Möglichkeit der Gegner dieser Einkommenspolitik, protestieren [zu] könnten, ausgeschaltet worden« waren. Mit Blick auf die Opposition in der chilenischen Bevölkerung hieß es seitens der Botschaft weiter: »Die Möglichkeit, per Dekret zu regieren, ist in dieser Hinsicht eine große Hilfe.«
Während in Chile also billige Arbeiter per Militärputsch erzwungen wurden, war global die Verbilligung der Arbeitskräfte (ebenfalls) das Ergebnis einer Reihe staatlicher Maßnahmen und Umgestaltungen. Der Zusammenbruch des Sowjetblocks brachte Millionen neuer Arbeitskräfte in eine für das Kapital äußerst vorteilhafte Gehaltsabhängigkeit. Noch wichtiger war jedoch das Auftauchen Chinas als Produktionssupermacht und riesige Quelle von sehr gut bezahlbaren Arbeitskräften, die nur im entfernten Sinne »frei« waren. Damit wurde die gesamte Tektonik des Kapitalismus im 21. Jahrhundert verschoben.
Die Deindustrialisierung in den nordatlantischen Ländern wurde durch das Wachstum der Fertigungsindustrie in Ostasien mehr als ausgeglichen. Tatsächlich war es die schnellste Industrialisierungsphase in der Weltgeschichte; die Massenproletarisierung in China war enorm und beispiellos. Shenzhen im Perlflussdelta war eine Zeit lang die am schnellsten wachsende Großstadt der Welt und ist der würdige Thronfolger vom Manchester des 19. oder vom Detroit des 20. Jahrhunderts. Geschichte kann sich offenbar wiederholen: Die Handelskapitalisten sitzen nun wieder fest im Sattel. Einzelhändler wie Walmart und Amazon und Marken wie Apple und Nike sind weitaus mächtiger als je zuvor. Und nicht nur das: Wie im frühen 19. Jahrhundert sind junge Frauen das Rückgrat dieser neuen Welle des industriellen Proletariats. Über 90 Prozent aller Arbeiterinnen in der Leichtindustrie von Shenzhen sind Migrantinnen aus ländlichen Gebieten.
Beckert ist der Ansicht, dass die Geschichte des Kapitalismus – wie jedes gesellschaftliche Phänomen – ein Ende haben wird, dass dieses Ende allerdings nicht mit einem revolutionären Knall eintreten wird. Stattdessen greift er auf seine Inselmetapher zurück und stellt fest, dass einerseits Libertäre wie Peter Thiel auf dem Vormarsch sind, die nach konkreten »Inseln« suchen, auf denen sie ihren Reichtum parken und sich vom Rest der Welt abkapseln können. Positiv stimmt Beckert hingegen die Hoffnung, dass in einer postneoliberalen Welt politische Systeme entstehen könnten, die von ökologisch nachhaltigen, nicht-marktwirtschaftlichen Beziehungen geprägt sind. Angesichts der Grausamkeiten, die jede neue Version der kapitalistischen Gesellschaft bisher begleitet haben, erscheint dies ungewöhnlich optimistisch.
Was auch immer geschehen mag: Beckerts umfangreiches Werk bietet einer neuen Generation von Kapitalisten wie Antikapitalisten zahlreiche Präzedenzfälle für eine neue Welt, die sie sich erdenken mögen.
Nelson Lichtenstein ist Forschungsprofessor an der University of California, Santa Barbara. Sein jüngstes Buch trägt den Titel A Fabulous Failure: The Clinton Presidency and the Transformation of American Capitalism.