30. November 2020
Der Wirtschaftseinbruch in der Krise hat die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen wieder aufleben lassen. Doch das Grundeinkommen ist unzureichend und nicht zielgenau. Gegen Armut und Unterversorgung gibt es bessere Strategien.
Bringdienste wie Lieferando haben von der Krise profitiert – die Arbeitsbedinungen der Rider bleiben miserabel.
Da ihnen wegen der Covid-19-Pandemie die Aufträge, Engagements oder Auftritte wegbrechen, gehören Soloselbstständige, Freiberuflerinnen, Kreative, Künstler und Kleinstunternehmerinnen, die keine finanziellen Rücklagen bilden konnten, neben Obdachlosen und Bettelnden, denen kaum noch Spenden zufließen, weil die Straßen leer sind und Passanten sich vor Ansteckung fürchten, sowie Transferleistungsbezieher und Minirentnerinnen, die im ersten Lockdown vor geschlossenen Lebensmitteltafeln standen, zu den Hauptleidtragenden der Corona-Krise. Dass ihnen der Staat möglichst schnell, unbürokratisch und konsequent unter die Arme greifen muss, ist schwerlich zu bestreiten.
Höchst umstritten ist allerdings, wie das geschehen soll. In einer unübersichtlichen Krisensituation wie der Covid-19-Pandemie nimmt die Attraktivität plakativer Forderungen und simpler Lösungen für komplexe Probleme stark zu. Befürworterinnen und Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) nutzten diese Gelegenheit, um für ihr Konzept zu werben, und argumentierten, die außergewöhnlichen Umstände erforderten unkonventionelle Lösungen. In einer Petition an den Bundestag wurde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens von monatlich 800 bis 1.200 Euro pro Person für ein halbes Jahr gefordert. Dadurch solle Armut und der sozialen Absturz vieler Millionen Menschen verhindert werden. Gleichzeitig würde dies aber auch die Massenkaufkraft erhöhen, den Konsum ankurbeln und damit die Volkswirtschaft stützen.
Nie sei die Zeit günstiger gewesen, um das BGE-Konzept zu testen, meinte etwa die Berliner Modemacherin Tonia Merz als Initiatorin der genannten Petition. Ähnlich vage wie die Bezifferung des auszuzahlenden Geldbetrages fiel der Vorschlag insgesamt aus. Von einem Konzept kann eigentlich kaum die Rede sein, denn es gibt zahlreiche Grundeinkommensmodelle, die sich vor allem in Bezug auf die nicht ganz unwichtige Frage der Refinanzierung widersprechen. Testen kann man das Grundeinkommen auch nicht, weil es quer zu den Konstruktionsprinzipien unseres Wirtschafts- und Sozialsystems steht, das für ein solches Experiment außer Kraft gesetzt werden müsste.
Meist werden die mit dem bedingungslosen Grundeinkommen verbundenen Kosten – zwischen mehreren hundert Milliarden und über einer Billion Euro jährlich – unterschätzt oder gar nicht erst thematisiert. So haben die Grünen auf einer digitalen Bundesdelegiertenkonferenz am 22. November 2020 eine »Garantiesicherung« in ihr neues Grundsatzprogramm aufgenommen und gegen die Empfehlung der Parteispitze beschlossen, sich längerfristig an der Leitidee eines bedingungslosen Grundeinkommens zu orientieren, ohne ein Wort über dessen Finanzierung zu verlieren.
Die alte Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen mit dem Hinweis auf die Pandemie aufzuhübschen ist ähnlich verquer, wie unter Bezugnahme auf eben diese Corona-Krise eine Senkung der Unternehmensbesteuerung, die Komplettabschaffung des Solidaritätszuschlages und weitere Erleichterungen bei der Erbschaftsteuer für Firmenerben zu fordern, wie es Mainstream-Ökonomen und Wirtschaftslobbyisten tun.
Das Grundeinkommen soll die Sozialhilfe, das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld, die Grundsicherung im Alter, den Kinderzuschlag und das Wohngeld ersetzen. Zu befürchten ist, dass über kurz oder lang alle genannten und zahlreiche weitere Sozialtransfers abgeschafft würden, denn die Kosten des Grundeinkommens wären enorm. Man mag an dieser Stelle entgegnen, dass die Auszahlung an einen überdurchschnittlichen Bedarf geknüpft werden könnte – dann würde es sich jedoch nicht mehr um ein bedingungsloses Grundeinkommen handeln.
Reiche brauchen kein Grundeinkommen, und für Arme reicht es nicht. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ungerecht, unzureichend und wenig zielgenau. Zu mehr sozialer Gerechtigkeit könnte es allenfalls beitragen, wenn das Grundeinkommen über die Erhöhung beziehungsweise Erhebung von Gewinn- und Vermögensteuern refinanziert würde, was jedoch nur in den weniger einflussreichen Modellen der Fall ist und auch kaum realisierbar wäre. Wie soll eine Revolution in der Steuerpolitik gelingen, wenn gleichzeitig das seit weit über 100 Jahren bewährte Sozialsystem über den Haufen geworfen und ein waghalsiges Experiment begonnen wird?
Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen würde eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip gemacht, statt ihre begrenzten Ressourcen im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit auf jene Personen zu konzentrieren, die sie wirklich brauchen. Schon die alten Griechen wussten: Gleiche müssen gleich und Ungleiche ungleich behandelt werden, wenn es gerecht zugehen soll. Mario Barth, Dieter Bohlen und Helene Fischer brauchen ebenso wenig Staatshilfe wie Gerhard Richter, weil sie Multimillionäre sind. Hingegen könnten die scheinselbstständige Maskenbildnerin, der freiberuflich tätige Messebauer, die Honorarkraft in der Erwachsenenbildung und die prekär beschäftigte Grafikdesignerin von einem Grundeinkommen nicht einmal ihre Miete zahlen, wenn sie in einer begehrten Großstadtlage wohnen.
Durch einen BGE-Pauschalbetrag besser gestellt würden vor allem Personen, die Wohneigentum besitzen, keine Miete zahlen müssen oder nur geringe Unterkunftskosten haben, etwa weil sie in Mehrpersonenhaushalten leben, während Alleinstehende und Personen, deren Einkommen durch hohe Miet- und Mietnebenkosten gemindert wird, benachteiligt würden. Wo bliebe die Gerechtigkeit, wenn das Mitglied einer Landkommune in Mecklenburg-Vorpommern ohne nennenswerte Wohnkosten denselben Geldbetrag erhielte wie ein Single-Arbeitnehmer, der in München keine bezahlbare Mietwohnung findet?
Und was ist mit einem Menschen, der ein Handikap oder eine schwere Behinderung hat? Das bedingungslose Grundeinkommen übergeht die konkreten Arbeits-, Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse seiner Bezieherinnen und Bezieher. Alle werden über einen Leisten geschlagen, wodurch eine differenzierte Lösung für soziale Probleme unmöglich ist. Gerade in Zeiten einer Krise oder pandemischen Ausnahmesituation, die unübersichtlich ist und sich drastisch verschärfen kann, muss der Sozialstaat aufgrund der im Konjunkturabschwung begrenzten Ressourcen und zu erwartenden Steuerausfälle bei seinen Maßnahmen um Passgenauigkeit bemüht sein. Das bedingungslose Grundeinkommen ist da genauso falsch wie das von Milton Friedman, Begründer der neoliberalen Chicago School, entwickelte Helikoptergeld, zumindest wenn es nicht sozial gestaffelt ist – die Hubschrauber sollten am Boden bleiben.
Selbst für eine Übergangszeit wäre das bedingungslose Grundeinkommen nicht sinnvoll, weil es keine (Verteilungs-)Probleme lösen, sondern ganz im Gegenteil neue schaffen würde: Wie hoch soll das Grundeinkommen sein? Erhielten die über 83 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik nur ein halbes Jahr lang 1.000 Euro pro Monat, müsste der Staat dafür ungefähr 500 Milliarden Euro aufbringen. Das ist nicht viel weniger, als Bund, Länder und Kommunen jährlich an Steuern einnehmen. Wer soll das Grundeinkommen erhalten? Vielleicht nur alle Deutschen? Gerade die Allerärmsten hierzulande besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit gar nicht und haben auch meist kein Konto, auf das man es überweisen könnte. Wie soll das Grundeinkommen refinanziert werden? Darüber einigen konnten sich seine Befürworterinnen und Befürworter nie, weil es unterschiedliche politische Richtungen propagieren, die mit ihm teilweise sogar gegensätzliche Zielsetzungen zu verfolgen.
Als das neuartige Coronavirus nach Deutschland gelangte, war klar, dass seine ungehemmte Ausbreitung den Wohlfahrtsstaat auf die härteste Bewährungsprobe seit der Vereinigung von BRD und DDR, vielleicht sogar seit dem Zweiten Weltkrieg stellen würde. Selbst in den Krankenhäusern fehlten zu Beginn der Pandemie die nötigen Desinfektionsmittel, Gesichtsmasken und Schutzbekleidung. Es bestätigte sich, was den politisch Verantwortlichen schon zu Beginn jener Reformen, die sie im Zuge der rot-grünen Agenda 2010 kurz nach der Jahrtausendwende umgesetzt haben, hätte bewusst sein müssen: Ein teilprivatisiertes, gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem garantiert keine optimale medizinische Behandlung der Kranken und in Krisensituationen wie einer Pandemie auch keine Versorgungssicherheit für die Bevölkerung.
Gerade in der pandemischen Ausnahmesituation hat sich der Sozialstaat als »systemrelevant« erwiesen. Ohne sinnvolle Leistungen wie das Kurzarbeitergeld wären beispielsweise viel mehr Familien während des Lockdowns und der teilweise darauf zurückzuführenden Rezession an den Rand des wirtschaftlichen Ruins geraten. Auch war es richtig, dass der Arbeitslosengeld-II-Bezug für von der Coronakrise gebeutelte Soloselbstständige vorübergehend erleichtert wurde, indem man für sie die strenge Vermögensprüfung aussetzte und die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte. Einsichtig ist jedoch nicht, warum diese Regelung keine Dauerlösung und kein Vorbild für weitere Schritte zur Entbürokratisierung des Sozialstaates und zur Vereinfachung des Antragsverfahrens in der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein sollte.
Daneben gibt es Zugangsbeschränkungen, Strukturdefizite und Leistungshemmnisse des Sozialstaates, die während der Covid-19-Pandemie klarer denn je zutage getreten sind. Obwohl auch Kinderlose pandemiebedingt erhöhte Ausgaben hatten, weil viele Tafeln geschlossen, preiswerte Lebensmittel wegen Hamsterkäufen eher Mangelware und Desinfektionsmittel teuer waren, stellte sich die Bundesregierung bei der Forderung nach einer vorübergehenden Erhöhung von Hartz IV taub. Die Jobcenter weigerten sich, die Anschaffung digitaler Endgeräte für Kinder von Hartz-IV-Berechtigten im Homeschooling als Sonderbedarf anzuerkennen. Ebenfalls abgelehnt wurde die Übernahme der Kosten für einen Corona-Test.
Erst im Herbst bekamen Eltern einen »Corona-Kinderbonus« von 300 Euro pro Kind. Kinderlose, Flüchtlingsfamilien und Geduldete gingen hingegen leer aus. Zwar half der in zwei Raten ausgezahlte Geldbetrag den Familien im Hartz-IV-Bezug ein wenig, weil er nicht auf das Arbeitslosengeld II beziehungsweise das Sozialgeld angerechnet wurde. Allerdings wurden Familien mit dieser Einmalzahlung abgefunden, während man kriselnden Unternehmen wie der Lufthansa und TUI eine kontinuierliche Förderung gewährte. Ebenso wünschenswert wie eine dauerhafte Förderung wäre eine passgenauere Hilfe für unterschiedliche Personengruppen gewesen, die das in diesem Zusammenhang vorgeschlagene bedingungslose Grundeinkommen auch nicht beinhalten würde.
Man kann geradezu von einer Fehlkonstruktion der staatlichen Finanzhilfen sprechen, die sich nicht am Bedarf der ärmsten Bevölkerungsgruppen orientierten. Statt der »Leistungsgerechtigkeit«, die den ökonomischen Erfolg prämiert, hätte die Bedarfsgerechtigkeit das Ziel, Hilfsmaßnahmen aller Bemühungen der politisch Verantwortlichen sein und das Motto lauten müssen: Wer wenig hat, soll besonders viel, und wer viel hat, muss entsprechend wenig Unterstützung seitens des Sozialstaates bekommen.
Kleinstrentnerinnen und -rentner sowie Studierende, die mit ihrem regulären BAföG-Satz nicht auskamen und von ihren Eltern nicht unterstützt werden (können), verloren wegen des Lockdowns, Geschäftsaufgaben und Betriebsschließungen häufig ihren Nebenjob – etwa in der Gastronomie –, der ihren Lebensunterhalt bis dahin gesichert hatte. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I und II beantragen konnten, waren Geldmangel und teilweise Studienabbrüche die Folge. Hieraus sollte der Schluss gezogen werden, dass Minijobs endlich in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden müssen.
Menschen, die durch sämtliche Maschen des bestehenden Systems der sozialen Sicherung fallen, dürfen nicht in Wohnungslosigkeit, Überschuldung, Insolvenz und andere existenzielle Bedrängnisse geraten. Nötig wäre eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf Personen, die Unterstützung benötigen, um in Würde leben und überleben zu können. Das gilt für prekär Beschäftigte, Leiharbeiter, Randbelegschaften ebenso wie für Soloselbstständige, manche Freiberuflerinnen und Kleinunternehmer, die über zu geringe finanzielle Rücklagen verfügen, um eine ökonomische Durststrecke überstehen zu können. Neben den Räumungsklagen und den Zwangsräumungen müssten auch Mieterhöhungen für eine Übergangszeit ausgesetzt werden.
Obdachlose könnten im Winter in leerstehenden Hotels und Pensionen untergebracht werden. Denn sonst droht diesem Personenkreis eine weitere Verelendung. Wenn die preiswerte Versorgung durch Lebensmitteltafeln und karitative Einrichtungen ausfällt, ohne dass die Regelbedarfe für Hartz IV, die Sozialhilfe sowie die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sachgerecht ermittelt und deutlich erhöht werden, wäre die befristete Gewährung eines Ernährungszuschlags von mindestens 100 Euro monatlich auf den Regelbedarf unabdingbar. Für den Fall, dass die Miete wegen Verdienstausfalls oder ausbleibender Aufträge nicht bezahlt werden kann, wäre eine Notfall-Komponente im Wohngeld die richtige Maßnahme.
Sinnhaftigkeit, Finanzierbarkeit und Realisierbarkeit des bedingungslosen Grundeinkommens sind gleichermaßen umstritten. Bei nüchterner Abwägung seiner Vor- und Nachteile gelangt man zu dem Ergebnis, dass es besser geeignete, obgleich womöglich nicht so einfache und eingängige Konzepte zur Lösung der mit ihm angegangenen Probleme gibt.
Ginge es nach den Grünen, könnte man das bedingungslose Grundeinkommen einführen und die Sozialversicherung gleichzeitig zu einer Bürgerversicherung ausbauen. Dabei verhalten sich Bürgerversicherung und bedingungsloses Grundeinkommen zueinander wie Feuer und Wasser. Dies gilt zum einen für ihre Organisations- und Konstruktionsprinzipien: Die Bürgerversicherung ist beitragsfinanziert, Sach- und Dienstleistungen sind bedarfsorientiert und die Geldleistungen nach der Beitragshöhe gestaffelt. Das Grundeinkommen hingegen ist steuerfinanziert, die Geldleistungen pauschaliert, Sach- und Dienstleistungen sind nicht vorgesehen. Doch auch mit Blick auf die Kosten wird klar: Beide sind nicht gemeinsam zu haben, es sei denn, über die Hälfte des Volkseinkommens würde dafür aufgewendet.
Anstatt über allen Bürgerinnen und Bürger denselben Geldbetrag auszuschütten und den Bismarck’schen Sozialversicherungsstaat damit zu zerstören, sollte man diesen zu einem inklusiven Sozialstaat weiterentwickeln, der allen Bedürftigen gezielt hilft. Soloselbstständige, Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler sowie Honorarkräfte gehören nicht bloß zu den existenziell von der Pandemie und ihren wirtschaftlichen Verwerfungen mit am stärksten Betroffenen, sondern auch zu den besonders vulnerablen Gruppen, die der bestehende Sozialstaat kaum zu schützen vermochte. Daher müssen sie baldmöglichst in eine solidarische Bürger- oder Erwerbstätigenversicherung aufgenommen werden.
Wenn das System der sozialen Sicherung trotz Umbrüchen im Arbeitsleben und sich wandelnder Lebensformen funktionsfähig erhalten werden soll, sind tiefgreifende Reformen erforderlich, die in Richtung einer allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung zielen müssten.
Allgemein zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung sämtliche geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien umstrukturiert werden. Selbst aus rein taktischen Erwägungen ist es nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworterinnen und Befürworter dieser Reformoption tun. Die gesetzliche Unfallversicherung stellt insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber und staatlichen Zuschüssen speist. Der einzige hier bisher noch nicht erwähnte Versicherungszweig, die Arbeitslosenversicherung, könnte in eine »Arbeitsversicherung« für alle Erwerbstätigen umgewandelt werden, die nicht erst Leistungen erbringt, wenn der Risikofall eingetreten ist.
Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren würden. Private Versicherungsunternehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge, den sogenannten Bestandsschutz, mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe ein weites Betätigungsfeld für das private Versicherungswesen erhalten; seine Existenz wäre nicht gefährdet und das Argument hinfällig, die Bürgerversicherung verstoße gegen die Gewerbefreiheit.
Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Dabei wären Beträge nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten wie Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Miet- und Pachterlöse zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies aber nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.
Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch eine Beitragsbemessungsgrenze geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte ganz oder teilweise zu entziehen. Was die Beitragsbemessungsgrenze angeht, stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Vorschulkinder, Schülerinnen, Studierende, Landwirte, Unfall-, Zivilschutz- und Katastrophenhelferinnen sowie Blut- und Organspender.
Bürgerversicherung heißt, dass alle Wohnbürgerinnen und Wohnbürger aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Gesellschaftsmitglieder in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Ministerinnen noch Migranten mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Einerseits geht es darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum, den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Denn ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.
Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, selbst Beiträge entrichten und dementsprechend verfassungsrechtlich geschützte Ansprüche erwerben, die ein Grundeinkommen gerade nicht bietet. Natürlich muss sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen, wodurch auf ihn erhebliche finanzielle Belastungen zukämen. Diese wären aber mittels einer sozial gerechteren Steuerpolitik zu tragen, die sich stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger orientiert.
Auf der Basis einer solidarischen Bürgerversicherung könnte eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung, die ohne Sanktionen auskommt, dafür sorgen, dass niemand durch Armut, Unterversorgung oder Überschuldung seiner sozialen Bürgerrechte beraubt wird.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zusammen mit Kuno Rinke das Buch »Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell« (Beltz, 2018) herausgegeben. Zuletzt ist von ihm das Buch »Ungleichheit in der Klassengesellschaft« (PapyRossa, 2020) erschienen.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt Deutschland im Krisenmodus und Umverteilung des Reichtums.