18. Mai 2022
Hochschulpolitiker behaupten, prekäre Arbeitsbedingungen seien im Interesse der wissenschaftlichen Qualität. Doch fehlende Zukunftsperspektiven fördern den wissenschaftlichen Wettbewerb nicht, sondern führen zu intellektueller Eintönigkeit.
Befristungsketten und finanzielle Unsicherheit stehen kritischer Forschung im Weg.
Wer die hochschulpolitische Debatte in den Zeitungen verfolgt, stößt immer wieder auf irritierende Argumentationen. So gibt es tatsächlich noch immer Universitätspräsidentinnen und -präsidenten, die in Reaktion auf #IchbinHanna mehr Wettbewerb fordern und sich dabei gerne idealisierend auf die USA berufen. So lobt Peter-André Alt – Präsident der Hochschulrektorenkonferenz – in seinem neuen Buch die »Stärke des amerikanischen Systems«, das auf einer privatwirtschaftlichen Organisationsstruktur und eigenständigem Management beruht. Der Grundtenor Alts und seiner Kollegen ist, dass die privaten US-amerikanischen Universitäten flexibler und daher wettbewerbsfähiger und erfolgreicher seien. In dieser Debatte werden komplexe Begriffe wie »Bestenauslese«, aber auch »Risiko« zu unhinterfragten Leitmotiven gemacht.
»Nur die besten sollen bleiben«, forderte jüngst Ludwig Kronthaler – bis vor kurzem Vizepräsident für Haushalt, Personal und Technik der Humboldt-Universität – in einem Gastbeitrag in der FAZ. Er konstatierte, dass die »Bestenauslese« im »harte[n] Wettbewerb der Wissenschaft« insbesondere in den USA »funktioniert«. Dort müssen sich Promovierte bis zu einer Entfristung auf sogenannten Tenure-Tracks innerhalb einer sechsjährigen Probezeit bewähren. Der US-amerikanische Wettbewerb sei vor allem für privatfinanzierte Eliteuniversitäten zentral. Denn diese seien von der Strahlkraft der »Besten« abhängig, um zahlungskräftige Studierende anzulocken. Promovierte, die nicht an eine der privaten Universitäten berufen werden, könnten ihr Glück noch immer an einer öffentlichen Universität versuchen. In Deutschland allerdings sollten, wenn es nach Kronthaler ginge, Forscherinnen und Forscher ohne Entfristungsperspektive die Wissenschaft so schnell wie möglich verlassen.
Kronthalers Beschreibung des US-amerikanischen Systems hält einer genaueren Analyse nicht stand: Mehr als die Hälfte der US-amerikanischen universitären Forschung ist öffentlich finanziert. 2017 kamen 40 von 70 Billionen Dollar den privaten Elitenunis zugute. Eine Privatuniversität wie Princeton erhält für jeden Studierenden zehnmal so viel Geld vom Staat wie die öffentliche Hochschule von nebenan. Aber auch öffentliche Universitäten – unter ihnen Eliteadressen wie Berkeley und Ann Arbor – erhalten ihre Mittel zu 37 Prozent aus öffentlichen Kassen. Ein Zusammenhang von Finanzierungsmodell und erfolgreichem Wettbewerbsmodell lässt sich also nicht erkennen.
Das Schlagwort »Risiko« brachte zuletzt der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen in die Debatte ein, der bis vor kurzem noch Präsident der Universität Hamburg war. Er ist der Ansicht, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten nur »unter Risiko […] kreativ bleiben«. An keiner Stelle bietet Lenzen allerdings einen fundierten Begriff von Risiko an, sondern greift auf Allgemeinplätze wie den Vergleich mit der Kunst zurück. Zu seiner Behauptung hat ihn wohl auch nicht die persönliche Erfahrung geleitet, denn Lenzen selbst wurde in den 1970er Jahren im Alter von 28 verbeamtet – damals durchaus nicht unüblich.
Heute sieht das anders aus: Wer in Deutschland nach Jahren prekärer Beschäftigung im Alter von durchschnittlich 42 Jahren eine der wenigen Dauerstellen namens Professur erhält, gilt als konkurrenzfähige Wissenschaftlerin. Augenscheinlich fehlen auf diesen Positionen Frauen, Menschen mit Behinderungen, mit Migrationsgeschichte und aus nicht-akademischen Haushalten. Alles deutet darauf hin, dass die derzeitige »Bestenauslese« eben nicht die Anerkennung von Leistung widerspiegelt. Welche inhaltlichen Folgen diese Homogenität auf die thematische Vielfalt in der Forschung hat, bleibt zu fragen.
Die Homogenisierung in der Professorenschaft erklärt sich unter anderem auch durch die niedrigen Entfristungsquoten des wissenschaftlichen Personals. Diese liegen bei gerade einmal 8 Prozent ohne Berücksichtigung der Professuren und bei 15 Prozent unter Einbezug der Professuren. Das führt befristete Forscherinnen und Forscher nicht nur in biografische Sackgassen, sondern verhindert auch langfristig angelegte, ambitionierte Forschungsvorhaben. Auf der Basis von Verträgen mit einer Laufzeit von mehrheitlich ein bis zwei Jahren kann eine solche Forschung nicht verfolgt werden, ohne dafür ein immenses materielles Risiko einzugehen. In Deutschland können gerade jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kaum unabhängig ihre Ideen verfolgen.
Diese Freiheit wird nur den Älteren und Etablierten gewährt. Allerdings werden paradoxerweise genau diese »Besten« mit ihrer Entfristung auf der Professur in einen komplexen Verwaltungsapparat eingebunden. Dieser beinhaltet nicht zuletzt auch das Management befristeter Mitarbeitender. Für die eigene Forschung bleibt dann nicht mehr viel Zeit. Die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) bietet – basierend auf einer repräsentativen Umfrage – einen Einblick in die verheerenden Folgen der aktuellen Befristungspraxis.
Die gepriesenen und im Ranking gewinnenden US-amerikanischen Universitäten bieten deutlich solidere Rahmenbedingungen für die Karriereplanung – und somit auch für Kreativität und Erfolge in der Wissenschaft. Zwar haben sich die Arbeitsbedingungen des wissenschaftlichen Personals in den letzten zwanzig Jahren auch in den USA zusehends verschlechtert, aber im Jahr 2019 hatten immerhin noch 37 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen unbefristeten Vertrag oder eine Aussicht darauf. In Großbritannien waren es sogar satte 67 Prozent. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es in Großbritannien kein Sonderbefristungsrecht wie das deutsche Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) gibt. Kein Wunder, dass in Deutschland »Berufungen aus dem Ausland« nur in »Ausnahmefällen« gelingen, wie auch Peter-André Alt in seinem Buch einräumen muss. Forschende aus dem Ausland, aber auch viele deutsche, zieht es daher kurz nach der Promotion – wenn man noch vergleichsweise jung und mobil ist – in Länder, wo sie eine Entfristung oder zumindest eine Aussicht darauf erhalten.
Höhere Entfristungsquoten tun der wissenschaftlichen Leistung in den USA und Großbritannien offenbar keinen Abbruch. Die Nobelpreise in der Wissenschaft gingen in den letzten Jahren mehrheitlich an US-Amerikaner. Auch die Briten schnitten besser ab. Die Gewinner wurden durchschnittlich im Alter von 33 Jahren entfristet. Es wäre ein Trugschluss zu argumentieren, dass sie entfristet wurden, weil Universitäten die Jahrzehnte später folgenden Nobelpreise vorhersehen konnten. Gewiss ist aber, dass sich diese und tausende weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler frei von finanzieller Unsicherheit ihrer Forschung widmen konnten. Wir stellen fest: Materielles Risiko wird in anderen Wissenschaftskontexten nicht nur viel öfter, sondern auch viel früher ausgeschaltet.
Mit diesen Überlegungen soll aber keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass das US-amerikanische und das britische System nicht ihre eigenen Probleme hätten. Neoliberale Reformen, aber auch populistische Angriffe (wie etwa im Falle von Mexiko und Ungarn) haben die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft weltweit verschlechtert. Die prekären Bedingungen, die Forschende hierzulande unter #IchbinHanna schildern, sind in vielen OECD-Ländern vorzufinden. Der Blick über den deutschen Tellerrand hilft jedoch, Alternativen zu prüfen. Angelehnt an das US-amerikanische Tenure-Track-Modell und das britische Lecturer-Modell diskutiert ein Papier des NGAWiss fünf Alternativen für Personalmodelle für Universitäten in Deutschland, mit denen Kosten und Lehrdeputat konstant gehalten, die Karrierewege der Beschäftigten aber deutlich verbessert werden könnten. Diese Alternativen gilt es standort- und fachbezogen als reale Optionen zu diskutieren.
Wenn die Hochschulen in Deutschland – wie es in anderen Ländern üblich ist – reguläre Entfristungsoptionen nach der Promotion oder aber ein Tenure-Track-Modell anbieten würden, so wäre damit der Wettbewerb in der Wissenschaft nicht ausgeschaltet. Nach der Entfristung kann Wettbewerb weiterhin darüber bestimmen, wer etwa die bestdotierten Stellen an den attraktivsten Standorten erhält. In den führenden Wissenschaftsnationen funktioniert das – basierend auf öffentlichen Geldern – schon heute so.
Es ist an der Zeit, zu erkennen, dass Mythen wie »Bestenauslese« lediglich Kampfbegriffe von Hochschulpolitikerinnen und Hochschulpolitikern sind, die den Status quo verteidigen wollen. Sie hoffen, dass hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgrund der Befristung fügsam bleiben. Das ist jedoch nicht im Interesse der Wissenschaft. Die Debatte sollte, anders als bisher, mit Blick auf Personalmodelle geführt werden, die in anderen Wissenschaftsnationen bereits umgesetzt werden. Wir brauchen Alternativen zu dem gegenwärtigen WissZeitVG. Nur so kann verhindert werden, dass in Deutschland tätige Forschende in andere Länder abwandern oder der Wissenschaft auf dem Höhepunkt ihrer Karriere den Rücken kehren müssen. Forschung darf kein materielles Lebensrisiko sein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen Rahmenbedingungen, in denen sie sich tatsächlich auf intellektuelle Risiken einlassen können. So könnten sie sich auch international im wissenschaftlichen Wettbewerb behaupten.
Dr. Lisa Janotta ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik der Universität Rostock.
Dr. Álvaro Morcillo Laiz war Professor am CIDE in Mexiko-Stadt und Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster »Contestations of the Liberal Script« an der FU Berlin.
Beide sind im Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) aktiv.
Dr. Lisa Janotta ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik der Universität Rostock.
Dr. Álvaro Morcillo Laiz war Professor am CIDE in Mexiko-Stadt und Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ an der FU Berlin.