28. Dezember 2024
Der Konflikt zwischen rechten Hooligans eines großen Jerusalemer Fußballvereins und dem deutlich kleineren, fangeführten Stadtrivalen ist bezeichnend für die politischen Verhältnisse in Israel.
Fans von Beitar Jerusalem, 3. August 2023
Für diesen Artikel wurden die Familie sowie Freunde von Hersh Goldberg-Polin Ende 2023 interviewt. Damals war Goldberg-Palin Geisel der Hamas. Mehrere Monate nach den hier geführten Interviews, am 31. August 2024, bestätigte die israelische Armee seinen Tod.
Vier Tage nach den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels war Dr. Yoram Klein im Tel HaShomer-Krankenhaus in Tel Aviv im Einsatz. Während der Attacke der Hamas hatten bewaffnete Kämpfer fast 1.200 Israelis getötet und rund 240 Geiseln genommen. Viele der verletzten Überlebenden wurden im Tel HaShomer behandelt, wo Klein die Traumaabteilung des Krankenhauses leitet. An diesem Nachmittag tauchte plötzlich ein Mob schwarz maskierter Männer auf. Es waren Fans von Beitar Jerusalem, einem der beliebtesten israelischen Fußballclubs. »Es waren junge Leute, schwarz gekleidet, die auf Motorrädern vorfuhren«, erinnert sich Klein. »Vom Aussehen her hätte das auch die Hamas sein können.«
Die Beitar-Anhänger hatten das Gerücht aufgeschnappt, ein verletzter Hamas-Kämpfer werde im Tel HaShomer behandelt. Das stimmte nicht; machte aber keinen Unterschied. Die Gruppe, die sich selbst La Familia nennt, »drang in das Krankenhaus ein«, begann, Stockwerk für Stockwerk zu durchforsten, und forderte die Herausgabe des nicht existierenden Patienten, berichtet Klein.
Am Eingang zur Notaufnahme kam es zu Handgreiflichkeiten. Das Krankenhauspersonal bat die Gruppe vergeblich, die dortigen Behandlungen nicht weiter zu stören. Im Gegenzug wurde es von La Familia mit Spott und Sprechchören bedacht. Zuerst hieß es »Tod den Terroristen«, dann »Tod den Arabern« und schließlich »Tod den Linken«, so der Arzt.
Seit ihrer Gründung im Jahr 2005 haben sich die (nicht selten kriminellen und stets strikt anti-arabischen) Mitglieder der Ultra-Gruppe zu einer Art politische Straßenkämpfer für die israelische radikale Rechte entwickelt. Während der Proteste gegen die Regierung, die seit 2020 immer wieder aufflammen, trat/tritt La Familia häufig als Gegengewicht auf, um Aktivistinnen und Journalisten niederzubrüllen und auch körperlich anzugreifen. Immer zum Schlagabtausch bereit ziehen sie durch die Straßen und brüllen ihre Schlachtrufe wie »Mohammed ist tot«, »Das ist der jüdische Staat, ich hasse alle Araber« und »Wo sind die Antifa-Huren?« Ein Minister hat nahegelegt, die Gruppe zu einer terroristischen Vereinigung zu erklären.
Beitar Jerusalem hat einen Stadtrivalen, das links geprägte Hapoel Jerusalem. Wo Profisportteams oftmals im Besitz von Milliardären sind, ist Hapoel eine Ausnahme, denn der Verein wird vollständig von den Fans geführt. Zu den erklärten Überzeugungen des Clubs gehört unter anderem Koexistenz und Solidarität zwischen Muslimen und Juden in Jerusalem. Hapoels Fans hätten somit den Anspruch, das »genaue Gegenteil« von La Familia zu sein, sagte mir eine Hapoel-Anhängerin.
Die israelische Reaktion auf die Anschläge vom 7. Oktober 2023 hat zur Zerstörung Gazas und dem Tod von weit über 40.000 Menschen geführt. Um diese Verwüstung zu begreifen, ist ein Blick auf die politische Realität des modernen Israel hilfreich. Dort ist eine rechtsradikale Regierung der Ansicht, sie führe einen existenziellen Kampf, zu dem auch gehört, die internationale Kritik am Massensterben von Zivilistinnen und Zivilisten zu ignorieren.
Die politischen Spaltungen im Land spiegeln sich auch in der Rivalität zwischen Hapoel und Beitar wider: Während sich die Anhänger von Hapoel für Frieden einsetzen und damit eine Randgruppe sind, hat sich die radikale Weltanschauung, für die La Familia steht, immer mehr zum Mainstream in Israel entwickelt. Seit dem 7. Oktober manifestiert sich diese Spaltung auf extreme neue Weise – und gibt Anhaltspunkte dafür, wie das zukünftige Israel aussehen könnte.
Einer der Menschen, die am 7. Oktober als Geiseln genommen wurden, war ein 23-jähriger amerikanischer-israelischer Mann namens Hersh Goldberg-Polin, der bei den von der Hamas geführten Angriffen seinen linken Arm verlor. Er war Teil der Brigade Malcha, einer Hapoel-Fangruppe, die in praktisch direktem Gegensatz zu La Familia steht. Auf einem Foto von Goldberg-Polin bei einem Hapoel-Spiel (das seit seiner Entführung oft online geteilt wurde), schwenkt er mit nacktem Oberkörper eine Hapoel-Fahne und sieht aus, als würde er gleich über eine Brüstung springen. »Als wir dieses Gesicht [in den Nachrichten] sahen«, sagt Hapoel-Vorstandsmitglied Tal Ben Ezra, »wussten wir genau – das ist Hersh. Wir sehen in ihm nicht nur einen Fan. Er ist unser Freund. Er ist ein Mitglied unserer Familie. Diese Verbindung hält ewig. Wir lieben ihn. Er liebt uns.«
Beitar Jerusalem wurde 1936 von radikalen Zionisten gegründet, die schon vor der Gründung des Staates Israel im britisch kontrollierten Palästina aktiv waren. Die Ultragruppe La Familia entstand erst 2005, mischte sich aber schnell und gewalttätig in die vereinsinternen sowie nationalen politischen Debatte ein. Ihre Mitglieder sind zwar nur eine Minderheit der gesamten Fangemeinde von Beitar, machen aber regelmäßig Schlagzeilen. In den ersten Jahren nach ihrer Gründung häuften sich die Geschichten über angebliche Verbrechen: Angriffe mit Äxten, bewaffnete Raubüberfälle, Ausschreitungen vor, während und nach den Spielen.
Im Jahr 2013 gab die Vereinsführung von Beitar bekannt, dass der Verein zwei Spieler aus Tschetschenien verpflichtet hatte. Als Reaktion darauf setzten Mitglieder von La Familia den Trophäenraum im Vereinsheim in Brand. Der Grund für diesen »Protest«: Die neuen Spieler waren Muslime.
Das nächste Spiel von Beitar nach dem Brandanschlag war gegen den FC Bnei Sachnin, einen traditionsreichen arabisch-israelischen Club aus der nordisraelischen Stadt Sachnin. Ich war an diesem Abend im Stadion. Über 700 Polizisten und Securitys waren im Einsatz. Die Blitzlichter der Journalistenkameras zuckten unentwegt. Praktisch jeder Beitar-Anhänger – gekleidet in den unübersehbaren schwarz-gelben Farben des Vereins oder im Blau-Weiß der israelischen Flagge – gestikulierte wild. Autohupen mischten sich in die Polizeibefehle über Funkgeräte. Bekannte Friedensaktivisten wurden mit wüsten Beschimpfungen bedacht.
Ich berichtete für Grantland über die tschetschenischen Spieler bei Beitar. »Das wird nicht lange dauern. In ein, zwei Wochen sind die Tschetschenen weg«, sagte mir damals der Beitar-Fan Elad. »Aber was, wenn sie gute Spieler sind?«, fragte ich. Für ihn gab es offensichtlich Wichtigeres: »Wir wollen keine Moslems im Team. Es ist egal, wie sie spielen.«
Elad sollte Recht behalten: Die Tschetschenen mussten rund um die Uhr von Sicherheitskräften bewacht werden; bei Spielen hagelte es Anfeindungen und Beleidigungen; und vor der nächsten Saison wechselten die beiden jungen Spieler zu Vereinen außerhalb Israels. »[La Familia] kann bestimmen, wer bei Beitar spielen darf und wer nicht«, fasst Sophia Solomon zusammen, eine Soziologin an der Ben-Gurion-Universität, die über die Gruppe geforscht hat. »In den zehn Jahren [nach dem Vorfall mit den Tschetschenen] hat es tatsächlich keinen einzigen arabischstämmigen Spieler bei Beitar gegeben.«
Hersh Goldberg-Polin war gerade acht Jahre alt, als seine Familie aus dem US-amerikanischen Richmond in Virginia nach Jerusalem zog. Kurz nach ihrer Ankunft nahmen Freunde der Familie sie mit zu einem Fußballspiel. »Wir waren ja Amerikaner – wir verstanden absolut nichts«, erinnert sich seine Mutter Rachel Goldberg. Die jugendlichen Söhne der Freunde hängten Hersh einen Schal um den Hals und nahmen ihn mit auf die Stehplätze.
Er war sofort mit dem Hapoel-Virus infiziert. Als Teenager reiste Hersh durchs ganze Land, um Auswärtsspiele zu besuchen. Wenn seine Mutter etwas dagegen einzuwenden hatte, flehte er sie an: »Du verstehst das nicht, das ist das wichtigste Spiel der Saison«. Es schien erstaunlich viele wichtigste Spiele der Saison zu geben; sie ließ ihn gehen. Hersh unternahm lange Busreisen mit anderen Hapoel-Fans, kam spät nach Hause und schaffte es gerade noch, vor dem Unterricht ein paar Stunden zu schlafen.
»Als Teenager entwickelte er etwas, das ich als ein eher unausgereiftes politisches Bewusstsein für die Welt bezeichnen würde«, so Goldberg weiter. »Er wurde immer gehänselt, weil er Frieden wollte. Er war der Träumer, der Müsli-Hippie«. Die ehrenhaften, wenn auch unausgereiften Überzeugungen konnte er auch bei Hapoel ausleben. Anfangs machte sich Goldberg Sorgen über die Liebe ihres Sohnes zum Club. Warum sollte man einem Fußballverein derart viel Zeit und Energie widmen? Nach mehreren Jahren seines Fanseins begann sie jedoch, Hapoel als eine Vereinigung zu sehen, die für soziale Gerechtigkeit steht – »ein sozialer Zusammenschluss, der quasi nebenbei zu einer Fußballmannschaft geworden war«.
Über die Geschehnisse des 7. Oktober hat die Familie folgende Details zusammengetragen: Goldberg-Polin war auf dem Open-Air-Musikfestival, dass die von der Hamas angeführten Kämpfer attackierten. Er suchte Schutz in einem Bunker. Als die Angreifer Granaten warfen, wurde er schwer verwundet: Der Linkshänder verlor seinen linken Arm. Er band sich selbst einen Druckverband. Dann wurde er auf die Ladefläche eines Pick-ups gesetzt und als Geisel genommen.
Nach dem 7. Oktober 2023 setzten sich die Goldberg-Polins für Frieden ein. Dabei verbreiteten sie unter anderem Fotos von Hershs Schlafzimmer online. Es ist mit dem Rot von Hapoel Jerusalem gesäumt. Hinzu kommen raumhohe Poster und Sticker mit den Konterfeis von Che Guevera und Tupac, zerschlagenen Hakenkreuzen und einem Pro-Flüchtlingsslogan. Auf einem offenbar selbst gestalteten Poster, das den Felsendom zeigt, steht auf Hebräisch, Englisch und Arabisch: »Jerusalem ist für alle da«. Das Poster scheint wie eine physische Verkörperung der – wie Goldberg es ausdrückt – »liebenswert schlichten und unverfälschten« Sehnsucht ihres Sohnes nach Frieden.
Hapoel Jerusalem wurde 1926, also zehn Jahre vor Beitar, von Teilen der einst allmächtigen israelischen Gewerkschaft Histadrut gegründet. »Hapoel« ist das hebräische Wort für »Arbeiter«. Das Wappen des Vereins zieren Hammer und Sichel. Gemessen an der Zahl der Fans gehört Hapoel Jerusalem nicht zu den größten Clubs des Landes, aber seine Anhängerschaft ist leidenschaftlich. Nach Jahren schwacher sportlicher Leistungen und finanzieller Misswirtschaft durch die Eigentümer kam es 2007 zu einer Revolte seitens der Fans, die ein eigenes Team gründeten, das sie Hapoel Katamon nannten.
Hapoel Katamon begann in der fünften Liga, der untersten Spielklasse Israels. Die Spiele fanden teilweise in Wüstendörfern statt, in denen es mehr Esel als Zuschauer gab. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts kämpfte sich Katamon aber nach oben, Aufstieg um Aufstieg. Zeitgleich sanken die Einnahmen des Original-Clubs immer weiter, bis er 2019 in Konkurs ging. Katamon kaufte die verbleibenden Vermögenswerte auf und übernahm Hapoel Jerusalem somit.
In der Regel sind die Eigentümer von Sportmannschaften Industriemagnaten, Risikokapital-Milliardäre, Erben von Familienvermögen und zunehmend auch riesige Staatsfonds aus erdölreichen Ländern. (Beitar hatte seinerseits eine Reihe ebenso schillernder wie bizarrer Eigentümer. Zuletzt war dies Moshe Hogeg, der sowohl ein mutmaßlicher Krypto-Betrüger als auch ein mutmaßlicher Menschenhändler ist. Der derzeitige Eigentümer des Clubs, der Sushi-Restaurant-Unternehmer Barak Abramov, wurde einst der Geldwäsche für das organisierte Verbrechen beschuldigt.) Heute haben die Besitzer bei vielen Clubs die absolute Kontrolle. Fans werden meist als lästiges Fußvolk angesehen, dass Geld auszugeben, für Stimmung zu sorgen und ansonsten den Mund zu halten hat. Hapoel hingegen wird vollständig von seinen Anhängern kontrolliert. Für etwa 400 Dollar im Jahr erhalten die Fans eine Dauerkarte und das Recht, bei den Wahlen für den Vereinsvorstand abzustimmen, der wiederum den Geschäftsführer kontrolliert. So können die Hapoel-Fans die gesamte Geschäftstätigkeit ihres Vereins direkt überwachen.
Hapoel bemüht sich darüber hinaus aktiv um die Integration und das Miteinander arabischer und jüdischer Fans. Es gibt soziale Initiativen, die Jungen und Mädchen aus den unterschiedlichen sozioökonomischen Enklaven Jerusalems zu Fußballspielen und zum Sprachaustausch zusammenbringen. Vor einigen Jahren war Hersh Goldberg-Polin an der Organisation eines Fußballturniers als Freizeitveranstaltung für inhaftierte Asylbewerber aus dem Sudan beteiligt. Ebenso fungierte er als Dolmetscher, als eine befreundete Fan-Gruppe aus Deutschland gemeinsam mit Hapoel-Anhängern und den Einwohnerinnen und Einwohnern eines nahegelegenen, arabisch geprägten Dorfes ein Graffiti malten: Goldberg-Polin sprach mit den arabischen Kids hebräisch; mit den deutschen Ultras englisch.
Die politischen Haltungen oder Ambitionen von Hapoel sollten nicht überbewertet werden: Die Mitglieder kämpfen nicht aktiv gegen die Besatzung oder versuchen, den Angriff auf Gaza zu stoppen. Es handelt sich im Grunde um ein gemeinschaftliches Projekt, das innerhalb seines begrenzten Einflussbereichs agiert. Das wichtigste Betätigungsfeld bleibt das Stadion. Wie Ben Ezra erklärt: »Wir wollen… nun, wie soll ich das sagen… shafoi sein, vernünftig… ein vernünftiger Ort, an dem alle Menschen in Frieden Fußball schauen können.«
Während Beitar eines der beliebtesten Teams Israels ist, war Hapoel gerade in der jüngeren Geschichte ein kleiner Fisch. Der Hass zwischen den beiden Vereinen fußt weniger auf sportlicher Rivalität als auf den politischen Spaltungen, die schon vor Jahrzehnten entstanden, daher tief verwurzelt sind und durch die räumliche Nähe noch verstärkt werden (die beiden Clubs teilen sich sogar das sogenannte Teddy-Stadion). 2022, nach vielen Niederlagen und dem jahrelangen Herumdümpeln in den unteren Ligen, besiegte Hapoel Beitar zum ersten Mal seit 31 Jahren.
Angesichts der vorherrschenden Sichtweise im Land ist Hapoels Streben nach Koexistenz ein winziger und rarer Lichtblick. 2022 wurde die rechteste Regierung der israelischen Geschichte ins Amt gewählt. Diese Koalition brachte bald Gesetze auf den Weg, mit denen der Oberste Gerichtshof entmachtet werden sollte – ein Schritt, um eines der letzten institutionellen Bollwerke gegen die radikal siedlerfreundliche und ebenso fanatisch anti-arabische Politik der Regierungskoalition zu beseitigen.
Seit dem 7. Oktober 2023 hat der Rassismus gegen arabische Menschen in Israel nochmals stark zugenommen. Vor diesem Hintergrund wirken die Ziele von Hapoel noch utopischer, der Kampf gegen Windmühlen noch schwerer: »Wir sind uns der gesamten politischen Situation natürlich bewusst«, sagt Ben Ezra, »aber nichts wird uns von dem abbringen, was wir für richtig halten. Die Menschen trauern, aber wir müssen an den Frieden glauben. Wir müssen daran glauben, dass wir einander als Menschen lieben müssen. Daran werden wir festhalten, solange wir können«. Er lacht verlegen. »Ja, daran halten wir fest.«
Itamar Ben-Gvir ist Mitglied der Regierungskoalition für die Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke). Er ist ein Anhänger des Kahanismus, einer ultranationalistischen Ideologie, die sich für die Massendeportation von palästinensischen Menschen einsetzt, sowie Israels Minister für nationale Sicherheit – und ein langjähriger Anhänger von Beitar Jerusalem.
Im Staat Israel gibt es traditionell eine Spaltung zwischen den Aschkenasim, also den Jüdinnen und Juden mit Wurzeln in Europa – der privilegierten Bevölkerungsgruppe – und den Mizrachim mit Wurzeln in der arabischen Welt. Beitar gilt als der Verein der Mizrachim und damit implizit auch als der Verein für den Arbeiter, den »einfachen Mann«. Ben-Gvir, der selbst aus einer irakisch-jüdischen Familie stammt, baut auf die Beitar-Fangemeinde, um sein eigenes politisches Ansehen zu stärken: So ist er regelmäßig im Teddy-Stadion zu Gast und macht Selfies, während die Fans ihre anti-arabischen Slogans skandieren. Hier poliert er sein populistisches Image auf.
In den vergangenen Jahren kam es in Israel zu Massenprotesten gegen Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Koalition. Die Gründe waren vielfältig, darunter Netanjahus stümperhafte Politik während der Coronavirus-Pandemie oder der bereits angesprochene Versuch seiner Regierung, den Obersten Gerichtshof auszuschalten. In Reaktion auf die Proteste hat der rechte Flügel der israelischen Politik mehrfach per Social Media gefordert, La Familia solle zur Unterstützung der Regierung auf die Straße gehen. Manchmal sind diese Botschaften eindeutig: »La Familia, ihr seid das Mittel gegen diese Anarchisten«. Manchmal sind sie vage: »Geht raus und gebt dem Volk seine Stimme zurück.«
Die Beziehungen zwischen der politischen Rechten und La Familia sind implizit und symbiotisch, sagt auch die Wissenschaftlerin Solomon: Rechte Politiker könnten La Familia ansprechen, ohne deren Namen explizit nennen zu müssen. Bei einer Demonstration 2023 – wo Friedensaktivistinnen und arabische Schaulustige gleichermaßen angegriffen wurden – tauchte Ben-Gvir inmitten der Menschenmengen auf den Straßen auf, um die Mitglieder von La Familia anzufeuern und sich selbst bejubeln zu lassen.
Etwa zur gleichen Zeit gab Ben-Gvir ein Fernsehinterview. Als er darin wegen seiner Verbindung zu La Familia kritisiert wurde, rastete der Minister aus: »Bei La Familia gibt es Offiziere der Armee! Es gibt Menschen, die [beim Militär] dienen und moralisch sind und sehr gute Werte haben [...]. Bitte hört doch endlich auf, hier Rufmord zu begehen.«
Die Ähnlichkeit zu Donald Trump, der »sehr gute Leute auf beiden Seiten« sehen wollte, nachdem weiße Rassisten in Charlottesville randalierten, war wahrscheinlich unbeabsichtigt, bringt uns aber zu einer kurzen Neben-Anekdote: Als Trump die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegte, gab es bei Beitar gewisse Personen, die tatsächlich kurzzeitig in Erwägung zogen, den Vereinsnamen in Beitar Trump Jerusalem zu ändern.
Seit den Anschlägen vom 7. Oktober kann Ben-Gvir mit sehr wenig Gegenwind agieren. In seiner Eigenschaft als Minister für nationale Sicherheit hat er die Erteilung von Waffengenehmigungen beschleunigt. So gelangen tausende Feuerwaffen in die Hände seiner fanatischen Wählerinnen und Wähler. Kritiker sagen, er ermutige damit nicht nur Möchtegern-Bürgerwehrler, die gegen arabische Menschen vorgehen wollen, rhetorisch, sondern bewaffne sie auch. Seit George H. W. Bush im Jahr 1991 haben US-Präsidenten es weitgehend abgelehnt, die Lieferung von Hilfsgütern an Israel an irgendwelche Bedingungen zu knüpfen. Ben-Gvirs Vorgehen war allerdings so dreist, dass es beinahe dazu gekommen wäre, die Lieferung amerikanischer Waffen zu unterbrechen.
Die scheidende Biden-Regierung hat des Weiteren ihre Besorgnis über die seit dem 7. Oktober 2023 zunehmende Gewalt von Siedlern im Westjordanland gegen palästinensische Menschen zum Ausdruck gebracht. Das US-Außenministerium kündigte ein Verbot der Vergabe von US-Visa für gewalttätige Siedler an. Freilich hat Präsident Joe Biden trotzdem ein 14 Milliarden Dollar schweres Unterstützungspaket für Israel durchgesetzt. Auch die Vorstellung, dass israelische Siedler ihre Gewalt eingrenzen aus Furcht, demnächst nicht mehr Milwaukee besuchen zu können, wirkt lächerlich. (Viele dieser gewalttätigen Siedler würden übrigens keine Visa benötigen, da sie ohnehin schon amerikanische Pässe haben.) Währenddessen verteilt Ben-Gvir munter weiter seine Waffen, so schnell er kann.
In Gaza sind derweil mehr als 40.000 Menschen getötet worden. Das +972 Magazine erfuhr von einer Geheimdienstquelle, dass bei israelischen Luftangriffen »nichts zufällig passiert. Wenn ein dreijähriges Mädchen in einem Haus in Gaza getötet wird, dann deshalb, weil jemand in der Armee entschieden hat, [...] dass das ein Preis ist, den es wert ist zu zahlen, um ein [anderes] Ziel zu treffen.«
Im November 2023 wurde eine einwöchige Waffenruhe vereinbart, in deren Verlauf Israel 240 palästinensische Gefangene und die Hamas 105 Geiseln freiließ. Die Mehrheit der von Israel freigelassenen Personen war nicht verurteilt worden; mehr als die Hälfte von ihnen sollten vor einem israelischen Militärgericht angeklagt werden, das eine Verurteilungsrate von 99 Prozent aufweist. In diesem Rechtsrahmen können Häftlinge ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam beziehungsweise Untersuchungshaft bleiben. Als die im Zuge des Gefangenenaustauschs freigelassenen palästinensischen Häftlinge auf dem Weg nach Hause zu ihren Familien waren, die einige von ihnen seit Jahren nicht gesehen hatten, bemühte sich Ben-Gvir, öffentliche Freudebekundungen zu verbieten.
Dass viele aus Ben-Gvirs rechtem Lager das Leben und die Rechte von palästinensischen Menschen missachten, mag nicht überraschend sein. Allerdings legen sie auch eine erstaunlich rücksichtslose Haltung mit Blick auf die israelischen Geiseln an den Tag. Ein Minister schlug die vollständige Vernichtung des Gazastreifens vor und erklärte ausdrücklich, dass er damit einverstanden wäre, das Leben der dort festgehaltenen Geiseln zu opfern, um dieses Ziel zu erreichen. Eine Gruppe von Siedlern im Westjordanland, die ausdrücklich Ben-Gvir unterstützt, hat sich gegen einen möglichen Geiselaustausch ausgesprochen, obwohl unter den Geiseln ihre eigenen Söhne sind. Tzvika Mor, einer der betroffenen Väter, sagte in einem Radiointerview: »Es sind unsere Kinder, und wir sagen dem jüdischen Volk: Die Sorge für und um unsere Kinder darf nicht auf Kosten des Krieges gehen.«
Während der Waffenstillstandswoche im November 2023 bestand kurzzeitig Hoffnung auf eine Verlängerung und weitere Gefangenenaustausche. Dann veröffentlichte Ben-Gvir eine Erklärung: »Kriegsende = Regierungsende«. Der Minister war offensichtlich so versessen auf mehr Krieg, dass er damit drohte, die eigene Regierungskoalition scheitern zu lassen. Am 1. Dezember endete die Waffenruhe und die Bombardierungen wurden wieder aufgenommen. Die meisten der freigelassenen israelischen Geiseln waren Frauen und Kinder. Mehr als hundert Geiseln befanden sich damals noch immer in Gaza.
»Du und ich, wir reden hier gerade miteinander, und ich wirke wahrscheinlich ziemlich aufgeräumt und normal«, sagt Rachel, die Mutter von Hersh Goldberg-Polin. »Aber ich muss all meine Reserven mobilisieren, um das zu tun. Wir alle durchstehen fürchterliche Qualen und sind ständig am Rande unserer Kräfte.«
Seit dem 7. Oktober 2023 lässt sich der Anti-Arabismus der Ultras von La Familia überall im Land beobachten. Kürzlich haben mehrere israelische Soldaten in den sozialen Medien Aufnahmen von sich selbst gepostet, wie sie palästinensische Gefangene schlagen und demütigen. In einem Video fordert ein Soldat sein Opfer auf, »Yalla Beitar« zu rufen. Während der Proteste im Jahr 2023 hielt ein Mann ein in den Vereinsfarben gehaltenes schwarz-gelbes Schild mit der Aufschrift »Transfer« hoch. Er forderte damit, die gesamte arabische Bevölkerung Israels müsse aus dem Land vertrieben werden.
Der rechte Flügel Israels glaubt seit langem an das Konzept »Sicherheit durch extreme Militanz«. Andererseits hat diese Regierungskoalition eines der größten Sicherheitsversagen in der Geschichte des israelischen Staates zu verantworten. Die israelische Zeitung Haaretz berichtet, dass eine Geheimdienstoffizierin der israelischen Streitkräfte ihren Vorgesetzten wiederholt »beunruhigende« Warnungen vor einem bevorstehenden Angriff der Hamas übermittelt hatte, aber ignoriert wurde. Laut New York Times hatte die israelische Armee sogar Zugriff auf eine Kopie des tatsächlichen Angriffsplans der Hamas, tat diesen aber als in der Realität nicht durchführbar ab.
Neria Smith (35) ist Hapoel-Fan. Viele seiner Familienmitglieder leben in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen. Am 7. Oktober wurden seine Tante und sein Onkel in ihrem Kibbuz getötet. Sieben weitere Mitglieder seiner Großfamilie wurden fünfzig Tage lang im Gazastreifen festgehalten, bevor sie im November im Rahmen des Gefangenenaustauschs freigelassen wurden.
Smith kannte Goldberg-Polin seit dessen Kindheit, als sie sich bei den Ultras der Brigade Malcha kennenlernten. Smith sagt, er habe Goldberg-Polin immer als kleinen Bruder gesehen. »Das Leben der Geiseln ist für uns von größter Bedeutung«, betont er. »Wir wollen, dass sie zurückgebracht werden, bevor irgendwelche Militäraktionen fortgesetzt werden.«
Viele Familien der Opfer des Hamas-Angriffs haben sich für den Frieden eingesetzt und sogar in ihren Trauerreden Aussöhnung angemahnt: »Schreibt den Namen meines Vaters nicht auf eine Granate« und »Missbraucht unseren Verlust und unseren Schmerz nicht, um Tod und Schmerz zu anderen Menschen und anderen Familien zu bringen«.
Der Fußballverein Hapoel Jerusalem stellt sich nicht offiziell gegen den Krieg; viele Spieler und Fans von Hapoel dürften ihn mit Sicherheit unterstützen. Smith persönlich teilt diese Ansicht nicht und lehnt Rache ab: »Ich möchte, dass dieser Krieg aufhört.« Er sei sicher, dass sein Freund Hersh Goldberg-Polin »ebenfalls Frieden wollen würde – ich glaube, das wäre Hershs Botschaft. Er würde keine Rache wollen.«
Goldberg-Polins Mutter muss lächeln, wenn sie daran denkt, welche unerwartet große Rolle der Fußball und vor allem Hapoel Jerusalem in ihrem Leben spielen. Sie selbst halte nichts vom Fußball. Hinter vorgehaltener Hand, als wenn ihr Sohn sie rügen könnte, sagt sie: »Fußball ist so langweilig«. Sie scherzt noch, vielleicht hätten die langen Auswärtsfahrten ihres Sohnes zu (vermeintlich) unbedeutenden Spielen ihn entspannt: »Da sitzt du zwei Stunden rum und am Ende steht es 1:0? Das sind ja fast schon Zen-Übungen. Vielleicht hilft ihm das.«
Ihr [zum Zeitpunkt des Interviews noch lebender] Sohn spiele auch selbst, erzählt Goldberg. Er stehe im Tor. Mit Verweis auf seinen verletzten Arm sagt sie: »Das ist natürlich schlecht. Ein Torhüter mit nur einer Hand? Ich denke mir: Wenn er zurückkehrt, besorgen wir ihm eine Prothese. Eine richtig große, eine Riesenhand; größer als seine eigene. Dann wird er ein noch besserer Torwart.«
Amos Barshad ist der Autor von No One Man Should Have All That Power: How Rasputins Manipulate The World. Er lebt in London.