18. November 2021
Die EU wirft Belarus vor, Geflüchtete als Druckmittel zu instrumentalisieren. An der Außengrenze in Polen reagiert die nationalistische Regierung mit Pushbacks – und Europa schaut zu.
Am geschlossenen Grenzübergang Kuźnica-Bruzgi werden Geflüchtete unter Einsatz von Tränengas zurückgedrängt, 16. November 2021.
Die kritische Lage an der polnisch-belarussischen Grenze, wo Tausende Geflüchtete versuchen, in die EU zu gelangen, droht eine tiefe geopolitische Krise auszulösen. Warschau und Brüssel werfen dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vor, einen »hybriden Krieg« gegen Polen und die EU zu führen. Lukaschenko ermutige Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus dem Nahen Osten, über Belarus nach Deutschland zu kommen, während der Kreml die Operation stillschweigend unterstütze, um seine europäischen Gegner zu destabilisieren.
Unterdessen spielt sich im eiskalten Grenzgebiet eine humanitäre Katastrophe ab: Die Geflüchteten, die in Lagern festsitzen, benötigen Lebensmittel, adäquate Unterkunft und medizinische Versorgung. Die Zustände sind so dramatisch, dass Geflüchtete versuchten, die EU-Grenze zu stürmen. Die polnische Grenzpolizei drängte sie mit Gewalt zurück. Insgesamt wurden 33.000 versuchte Grenzübertritte registriert: Eine Aktivistin, die vor Ort Hilfe organisiert, verglich das Hin und Her mit einem Fußballspiel. Letzten Freitag wurde in der Nähe des Dorfes Wólka Terechowska die Leiche eines jungen Syrers gefunden – es ist die neunte Todesmeldung seit Beginn der Krise.
Die Vorwürfe, die die EU gegen Lukaschenko und seine Pläne erhebt, mögen zutreffen. Dennoch lässt sich das, was Lukaschenko tut, nicht als »hybrider Krieg« bezeichnen. Er versucht der EU einen Deal abzuringen, bei dem Belarus – ähnlich wie die Türkei – dafür bezahlt wird, Migrantinnen und Migranten aus Europa raus zu halten. Vor allem hofft er, Brüssel dazu zu bewegen, die Sanktionen aufzuheben, die nach der Repression der landesweiten Proteste im letzten Sommer verhängt wurden. Die Blaupause für dieses Vorgehen liefert Recep Tayyip Erdoğan, der von der EU seit 2016 6 Milliarden Euro an Hilfen erhalten hat, um syrische Geflüchtete in der Türkei von der Weiterreise abzuhalten. Erdoğan hat sogar gedroht, die Grenzen zu öffnen, wenn er von der EU nicht das bekommt, was er will. Das ist kein Krieg, sondern ein Deal – ausgehandelt von einem gerissenen Opportunisten.
Lukaschenko wird von Europa scharf dafür kritisiert, Migrantinnen und Migranten zu instrumentalisieren. Das kann er jedoch nur deswegen tun, weil sich die EU von ihrem eigenen repressiven Grenzregime abhängig gemacht hat. Lukaschenko weiß um den Rassismus einer Europäischen Union, die sich gerne humanitär gibt, und er ist sich wohl bewusst, dass Brüssel die »Festung Europa« nicht abrüsten kann. In der Konsequenz blamiert sich die EU jeden Tag, wenn sie Lukaschenkos Druck nachgibt und ihren vermeintlichen »Werten« so offensichtlich widerspricht.
In Warschau wiederum nutzt man die Grenzkrise aus, um die eigene »patriotische« Glaubwürdigkeit zu steigern. Die polnische Regierung beruft sich auf die These vom »hybriden Krieg«, um die harte Linie, die sie um Umgang mit Geflüchteten an den Tag legt, zu legitimieren – aber auch, um sich mit ihrer nationalistischen Haltung zu brüsten. Die Regierungspartei PiS sieht sich selbst als die einzige Kraft, die im postsozialistischen Polen für Ordnung sorgen kann – auch wenn die Maßnahmen, die sie zu diesem Zweck durchsetzt, die soziale Spaltung weiter vertiefen, wie die heftigen Proteste gegen ihre Anti-Abtreibungspolitik gezeigt haben. Der harte Kurs der PiS in der Grenzkrise zeigt, dass sie entschlossen ist, die Aufrechterhaltung der »Ordnung« zu einer großen Show zu machen, auch wenn die Sturheit, mit der sie vorgeht, die Krise noch verschärft.
Polen reagiert auf die zusammengepferchten Massen an seiner Grenze in erster Linie mit Pushbacks. Der Staat hat noch nicht einmal das polnische Asylsystem eingeschaltet. Stattdessen hat Polen mit dem Bau eines Grenzzauns begonnen und 13.000 Grenzschützer und Soldaten an die polnisch-belarussische Grenze entsandt. Unter Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern werden Geflüchtete zurückgedrängt. Am 2. September wurde der Ausnahmezustand verhängt, sodass es für Journalistinnen, Menschenrechtsbeobachter und humanitäre Helferinnen nahezu unmöglich ist, die Grenze zu erreichen.
Die polnische Regierung spricht nun öffentlich davon, ihre NATO-Partner konsultieren zu wollen. Sie zieht in Erwägung, Artikel 4 des NATO-Vertrags zu aktivieren, der nur in Anspruch genommen werden kann, wenn »die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist«. Das bedeutet eine weitere Militarisierung des Konflikts.
Die polnische Regierung ist bereit, für ihren nationalistischen Eifer eine humanitäre Krise und eine geopolitische Eskalation in Kauf zu nehmen. Für Premierminister Mateusz Morawiecki ist die polnische Grenze »nicht nur eine Linie auf der Karte, sondern ein Heiligtum, für das Generationen von Polen ihr Blut vergossen haben«. Als am 11. November der polnische Unabhängigkeitstag begangen wurde, verkündeten sowohl der Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, als auch der polnische Präsident Andrzej Duda, dass ihr Vaterland in Gefahr sei und verteidigt werden müsse.
Die PiS nutzt die Situation, um sich als Elite des Landes zu positionieren. Einen solchen Legitimationsschub hat sie bitter nötig. In den letzten Wochen war die Regierung wegen Corona-Hilfsgeldern in Milliardenhöhe in Konflikt mit Brüssel geraten. Die Gelder werden Polen derzeit vorenthalten, weil die PiS Kontrolle über die Justiz erhebt und deren Unabhängigkeit untergräbt. Diese Zwangslage hat die Opposition befeuert, die befürchtete, dass ein völliger Bruch mit der EU ins Haus steht – eine äußerst unbeliebte Perspektive in Polen, das von den EU-Finanzmitteln profitiert. Die Hysterie über einen belarussischen »hybriden Krieg« hat der Regierungspartei jedoch zu neuer Stärke verholfen.
Die Aufrüstung des Grenzschutzes an der polnisch-belarussischen Grenze, die Mobilisierung der Armee und die großspurige Rhetorik von Duda, Kaczynski und Morawiecki wurden von der EU hingenommen. Die europäischen Liberalen und die polnischen Nationalisten, die noch vor kurzem zerstritten waren, haben durch das Zusammenspiel aus Eigeninteresse und Selbsttäuschung zueinander gefunden. Europas pathologische Angst vor Migration ergänzt die patriotischen Exzesse der polnischen Regierung – und Lukaschenko ist durchtrieben genug, um die Schwächen von Polen und der EU in seinem Interesse auszunutzen.
Cyryl Ryzak arbeitet für eine Gewerkschaft und lebt in New York.