05. September 2022
»Zeitenwende« heißt: Das Militär ist der Regierung dreimal so viel wert wie die Bevölkerung.
Eines muss man Olaf Scholz lassen. Er findet in Krisensituationen stets das eine Wort, das eine neue Wirklichkeit beschreibt und das er zugleich für seine politischen Zwecke instrumentalisieren kann. So war es kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie, als sich der ökonomische Druck auf Unternehmen und Privathaushalte verstärkte. Der damalige Finanzminister setzte die Schuldenbremse aus – für einen alteingesessenen Technokraten eine überraschend schnelle Kehrtwende – und dafür die »Bazooka« ein. Diese kriegerische Metapher prägte sich sofort ein und wurde von den Medien gern zitiert. Mit einem Volumen von über einer Billion Euro umfasste die Bazooka beispiellose Wirtschaftshilfen und Entlastungspakete, also etwas Ziviles.
Genau andersherum verhält es sich mit der »Zeitenwende«, die der Bundeskanzler drei Tage nach Ausbruch des Ukraine-Krieges bei einer Sondersitzung des Bundestags ausrief. Hier steht ein zwar gewaltiges, aber ganz und gar nicht martialisches Wort für ein riesiges Sondervermögen fürs Militär. Scholz selbst sagte in seiner Rede, dass es sich um eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik handele. Ihm ist die historische Tragweite also durchaus bewusst. Wie der neue Kanzler agiert, erinnert an seine Vorgängerin Angela Merkel: kaum Bewegung, technokratisches Durchregieren, aber wenn es zu großen Erschütterungen kommt, wird auch kurzerhand mal der Atomausstieg beschlossen, werden Banken aufgefangen, wird die Autoindustrie gerettet, werden Bazookas rausgeholt.
Die Zeitenwende bedeutet weit mehr als die bloße militärische Aufrüstung. Sie bringt eine lange geplante Wende in der deutschen Außenpolitik auf den Begriff und steht zugleich in einer Zeit der Krisen mit Inflation und explodierenden Energiepreisen für einen Moment, in dem die herrschende Politik des Zentrums ihre Legitimität bewahren muss. Wer wieviel entlastet wird, wer einsparen und wer frieren muss, wird nach Möglichkeit unter dem Mantel der Zeitenwende verdeckt.
Tatsächlich trägt bereits die Sonderausgabe des Reports der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2020 den Titel Zeitenwende | Wendezeiten. Schon dort werden eine strategische Neuorientierung und mehr Geld für das Militär gefordert. Die Konferenz, die im wesentlichen ein Zusammenkommen von Regierungsvertreterinnen und Waffenlobbyisten ist, hat natürlich nicht wirklich die Aufgabe, »Sicherheit« zu schaffen – sie ist aber ein guter Indikator dafür, wohin sich die herrschende Außen- und Sicherheitspolitik bewegen wird. Durch jährliche Steigerungen des Militärbudgets und eine Annäherung an das 2-Prozent-Ziel der NATO hatte die Bundesregierung bereits vor dem russischen Angriff massiv auf Aufrüstung gesetzt.
Die Zeitenwende begann also schon vor Jahren, vollzog sich aber eher subtil. Jahrelang beschwerte man sich über die schlechte Ausrüstung der Bundeswehr, doch die Bedrohung durch China oder Russland war eher diffus und ökonomischer Natur – es fehlte ein wirklicher Anlass, einen militärischen Paradigmenwechsel vom Zaun zu brechen.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist nun genau das Möglichkeitsfenster, auf das die Waffenlobby gewartet hat. Pläne für die Aufrüstung lagen bereits in den Schubladen, sodass die Summe von 100 Milliarden Euro, die Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner ohne Absprache mit den eigenen Parteien oder dem Koalitionspartner zwei Tage nach Kriegsbeginn proklamierten, schnell in konkrete Käufe schweren Geräts umgemünzt wurde. Es ist zweifellos wahr, dass die Bundesregierung schnell reagieren musste. Ebenso wahr ist aber, dass diejenigen, die von Kriegen profitieren, nicht lange auf sich warten ließen, um ihr Geschäft anzukurbeln.
Ende Juli schreibt Scholz in einem Gastbeitrag in der FAZ, der den nüchternen Titel »Nach der Zeitenwende« trägt, »dass wir uns nach Ende des Kalten Krieges in falscher Sicherheit gewiegt haben«. Aus dem Angriff auf die Ukraine ergäbe sich ein Handlungsauftrag für Deutschland und die EU. Man müsse das Land »sicherer und widerstandsfähiger« machen, die EU solle – das wird im Original sogar fett gedruckt – zum »geopolitischen Akteur« werden. Energie- und Wirtschaftsminister Robert Habeck setzt etwas niedriger an, spricht aber auch davon, dass Deutschland »dienend führen« solle.
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Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.