27. April 2021
Zwei filmische Neuinterpretationen erzählen von der Lebensrealität afrikanischer Geflüchteter in Europa: Burhan Qurbanis »Berlin Alexanderplatz« und Milo Raus »Das neue Evangelium«. Was Rau gelingt, wird bei Qurbani zum ästhetischen Spektakel.
Passionsgeschichte in politischem Gewand: Milo Raus »Das neue Evangelium«.
Zwei kürzlich erschienen Filme nehmen die Flucht nach Europa zu ihrem Ausgangspunkt. Burhan Qurbanis Adaption Berlin Alexanderplatz und Milo Raus Das neue Evangelium werfen einen Blick auf die Konflikte und Probleme, die nach der Ankunft kommen.
Qurbanis Berlin Alexanderplatz, nach dem Roman von Alfred Döblin von 1929, feierte auf der Berlinale 2020 seine Premiere und läuft seit Februar auf Netflix. Im Mittelpunkt steht Francis, ein Schwarzer Geflüchteter aus Guinea-Bissau. Traumatisiert von der Flucht übers Mittelmeer, kämpft er im Berlin der Gegenwart um eine Perspektive – zunächst untergebracht in einer heruntergekommenen Geflüchtetenunterkunft und ausgebeutet auf einer unterirdischen Baustelle.
Das moralische Dilemma beginnt mit Reinhold, einem Deutschen, der in der Unterkunft auftaucht und versucht Francis und die anderen Bewohner als Drogendealer zu rekrutieren. Francis lehnt zunächst ab. Er hat sich geschworen, gut und anständig zu sein. Ein Vorhaben das, so verrät schon die Erzählerinnenstimme zu Beginn, nicht aufgehen wird.
Von Anfang an sticht die starke Ästhetisierung der Bilder ins Auge. Francis und seine Partnerin Ida drohen in rot beleuchtetem Wasser zu ertrinken; die Baustelle, auf der er arbeitet, wirkt mit der großen, undefinierten Maschine und den choreografierten Arbeitsabläufen beinahe wie ein Opern-Szenenbild; ein Ausschnitt eines Musikvideos unterbricht die Handlung, wird dann sogleich als Fernsehbild erklärt. Am Anfang funktioniert das sehr gut. Es erinnert an das Theater, wo zeitgenössische Neuadaptionen klassischer Stoffe gängiger sind.
In einer Rückblende rutscht diese Ästhetisierung jedoch in plumpen Afrika-Kitsch ab: Eine Priesterin mit Gesichtsbemalung legt Francis in einer Slumhütte eine Kette um; ein Tieropfer wird angedeutet. Von da an werden die Bilder naiver, klischeebehaftet und die visuelle Klarheit geht verloren.
Auch die Dialoge über Rassismus und körperliche Selbstbestimmtheit, die den Figuren in den Mund gelegt werden, wirken am Anfang noch parabolisch und im besten Sinne wie Slogans. Doch lange hält diese Wirkung nicht an, und gerade in der zweiten Hälfte ergibt sich eine unfreiwillige Komik, wenn die Schauspielenden in den gestelzten Pappdialogen hilflos wirken.
Francis: »Warum – warum hast du das getan?«
Reinhold: »Weil ich dich umbringen wollte. Ich hab dich von der Straße gekratzt, hab dich bei mir aufgenommen, hab dich gefüttert, ich hab dir eine Heimat gegeben, einen Job, so viele Frauen wie du ficken kannst und du? Du hast mich verraten!«
Der Franz Biberkopf der Vorlage ist ein Triebtäter und Vergewaltiger. Francis soll aus gutem Grund nicht als ein solcher dargestellt werden, um keine rassistischen Vorurteile zu reproduzieren. Das pathologische Böse, gegen das Francis kämpft, wird auf die Figur des Reinhold ausgelagert. Die inneren Kämpfe, die er in Bezug auf seine Sexualität austrägt, werden umgemünzt auf einen Konflikt um das Andenken an seine tote Partnerin: Als er zum ersten Mal mit seiner späteren Freundin Mieze schläft, findet er sich im rot beleuchteten Meer wieder und stößt Ida im Überlebenskampf von sich weg. Später im Film ist Francis wie in der Vorlage Miezes Zuhälter. Allein die Vorgeschichte dazu fehlt und wird nur kurz und kleinlaut erwähnt. Anstatt den Kontext, den die neue Hauptfigur mit sich bringt, konsequent zu Ende zu denken und, wo nötig, aus der Vorlage auszubrechen, findet die Übertragung nur in Ansätzen statt. So entsteht das Portrait eines Konflikts in dem politische Realitäten zu moralischen Fragen verklärt werden.
Eine Szene sticht hier allerdings heraus. In ihr soll Francis, wie Reinhold am Anfang des Films, Männer in der Geflüchtetenunterkunft für den Drogenhandel gewinnen. Er versucht es zunächst auf die gleiche Weise wie sein Capo Reinhold, erfolglos, also wechselt er die Strategie: Er wurde »Flüchtling« genannt, erzählt er, aber er ist gekommen, um zu bleiben. Er wurde von den Deutschen nicht beachtet, weil er schwarz ist. Jetzt hat er Geld, ein deutsches Auto, eine deutsche Frau. Er lebt den deutschen Traum. »Ich bin Deutschland!«, ruft Francis, unter Jubel der Umstehenden. Reinhold fühlt sich davon bedroht, weil ihm Francis seinen Platz streitig macht: Rassismus ist dabei Reinholds Deutungsmuster, um sich die eigene Prekarität zu erklären.
Auch in einer Szene in Milo Raus Das neue Evangelium will der Protagonist in einer heruntergekommen Unterkunft andere Geflüchtete für seine Sache gewinnen. Nur anstatt für den Drogenhandel rekrutiert Ivan für den Arbeitskampf.
Mit Das neue Evangelium hat auch der Theaterregisseur und Filmemacher Rau eine Vorlage aktualisiert und die Hauptrolle mit einem Schwarzen Mann neu besetzt: Das 1. Evangelium – Matthäus von Pier Paolo Pasolini, wobei die Hauptrolle des Jesus jetzt von dem ehemaligen Landarbeiter und heutigen Gewerkschafter Yvan Sagnet gespielt wird. Der Film ist gleichzeitig Passionsspiel und Dokumentation des Arbeitskampfes der afrikanischen Erntehelfer, die sich gegen die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung auf den Feldern um die italienische Kleinstadt Matera wehren, wo sowohl Pasolini 1964 als auch Mel Gibson 2004 ihre Passionsverfilmungen drehten.
Rau gelingt es, die sozialpolitischen, revolutionären Themen aus Pasolinis Evangelium ins heutige Italien zu übertragen. In einer Szene erklärt er auf der Pressekonferenz zum Projektstart, er hätte keinen Jesusfilm machen können, ohne die Geflüchteten, die im Umland von Matera unter freiem Himmel schlafen, mit einzubeziehen. Er schafft es dabei, die Motive – die Bilder der Vorlage und der Bibel, den Arbeitskampf, die Lebensrealität der Geflüchteten und die Reflexion über die Produktion des Films – miteinander zu verweben. Der Film vermischt laufend seine Realitätsebenen, bleibt aber stets intuitiv nachvollziehbar.
Während Berlin Alexanderplatz die Verortung im Hier und Jetzt nur oberflächlich vollzieht, sich dabei einer konservativen, cleanen Filmsprache bedient, lässt Das Neue Evangelium vieles offen. Rau macht aus dem allseits bekannten Drehbuch, der Bibel, ein inklusives Theater auf den Straßen. Dabei zeigt er sich selbst als Regisseur und die Produktion des Films. In einer Szene wird deutlich, wie der Film das Demonstrationsgeschehen der Aktivisten behindert. Der Punkt ist nicht nur, dass Rau die Produktionsbedingungen transparent macht, während Qurbani sie verschleiert. Vor allem kommt man der Lebensrealität seiner Protagonistinnen und Protagonisten näher. Seien es die beiden Landarbeiter und Aktivisten, die sich am Strand in fast biblischer Sprache über die Erinnerung an ihre Überfahrt austauschen oder die ehemalige Prostituierte, die über ihre Beweggründe spricht, als Streetworkerin zu arbeiten. Oder eben Yvan Sagnet, dessen Verband die Landarbeiter von den mafiösen Strukturen unabhängig macht und dafür eigene Tomatenprodukte vertreibt. Dabei werden nicht Inkarnationen des Guten beschworen, sondern Menschen gezeigt, die sich im politischen Kampf um ein Leben in Würde verausgaben.
Julius Vapiano ist Autor, Künstler und Herausgeber des Kölner Kritik- und Literaturprojekts »It Tastes Like Ashes«.
Julius Vapiano ist Autor, Künstler und Herausgeber des Kölner Kritik- und Literaturprojekts »It Tastes Like Ashes«.