25. Oktober 2024
Im Berliner ÖPNV sind Notfahrpläne zur neuen Normalität geworden. Anstatt das anhaltende U-Bahn-Chaos zum Anlass für eine Investitionsoffensive zu nehmen, plant die CDU-Verkehrsministerin, die BVG auf Sparkurs zu setzen.
Die Berlinerinnen und Berliner sind genervt von ihrer BVG. Überfüllte Bahnen, Busausfälle und lange Wartezeiten auf den Anzeigetafeln sind mittlerweile zur neuen Normalität der Berliner Verkehrsbetriebe geworden. Die Krise spitzte sich derart zu, dass Betriebschef Rolf Erfurt das Unternehmen bis zum Jahresende verlassen muss. Strategische Differenzen in der Unternehmensentwicklung mussten als Grund herhalten. Das ist schon allein deshalb ein bemerkenswerter Vorgang, weil die BVG mit ihrem Führungstrio um Henrik Falk, Jenny Zeller und Rolf Erfurt Anfang 2024 zum ersten Mal seit Jahren wieder einen vollständigen Vorstand vorzuweisen hatte. Nun beginnt offenbar erneut eine Phase, in der die Führung des Berliner Nahverkehrs nur provisorisch besetzt ist – und das mitten in einer schweren Krise.
Dass diese Krise nicht durch einige kurzfristige Maßnahmen überwunden werden kann, zeigt ein Blick auf die tieferliegenden strukturellen Ursachen im Technik- und Personalbereich. Nirgends zeigt sich das so deutlich wie bei der Berliner U-Bahn: Jeder zehnte Zug ist in den vergangenen Wochen ausgefallen. Das sind fünfmal so viele Züge, wie laut BVG-Chef Henrik Falk verkraftbar wäre. Auf den schmaleren Linien U1 und U3 im sogenannten Kleinprofil fehlen außerdem funktionstüchtige Wagen. Hier müssen viele Fahrten mit kurzen Zügen auskommen. Die Fahrzeuge sind schlichtweg zu alt. Sie sind im Schnitt seit dreißig Jahren im Einsatz, manche sogar doppelt so lang.
Schon 2019 hat die Stadt Berlin deshalb einen Auftrag für neue Fahrzeuge ausgeschrieben. Der ging an den Schweizer Hersteller Stadler, der auch ein Werk in Berlin-Pankow betreibt und die ersten Züge bis 2022 liefern sollte. Der Zusammenbruch der Lieferketten während der Corona-Pandemie und anhaltende Produktionsprobleme verzögerten die Auslieferung aber immer wieder. Vor allem die Software, die zum Betrieb der Fahrzeuge notwendig ist, machte zuletzt Probleme. Deshalb sind die Werkshallen bei Stadler zwar mittlerweile voll mit den neuen Bahnen, eine Überführung in den Regelbetrieb ist laut Henrik Falk aber frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2025 möglich. Die Berlinerinnen und Berliner müssen sich also vorläufig mit den ausgedünnten Takten der mittlerweile normalisierten Notfahrpläne begnügen.
Wo nicht Ausfälle durch veraltete Technik den Betrieb lahmlegen, hat die BVG ein ausgemachtes Personalproblem. Das zeigt sich teilweise bei den Straßenbahnfahrern, insbesondere aber bei den Busfahrerinnen. Ein Bericht der Krankenkasse AOK Nordost für die erste Jahreshälfte 2024 hat ermittelt, dass das Fahrpersonal der BVG im Schnitt 25,5 Krankentage pro Kopf im Jahr verbucht – zweieinhalbmal so viel wie der Berliner Durchschnitt.
Die Verantwortung, einen mehr als 20 Tonnen schweren Gelenkbus inklusive Fahrgäste Tag für Tag sicher durch den hektischen Großstadtverkehr zu steuern, ist für die Fahrer eine extreme Belastung. Schon seit den 1980er Jahren gibt eine Reihe von Studien Aufschluss über die verschiedenen Faktoren, die gerade bei Busfahrerinnen und Busfahrern zu teils extremen Belastungen führen können. »Die BVG ist nicht das Problem, Berlin ist das Problem«, resümierte ein Busfahrer diesen Sommer im Interview mit der Berliner Zeitung.
»Weniger als ein Drittel der BVG-Beschäftigten ist der Meinung, dass die Arbeitsabläufe im Unternehmen gut organisiert sind.«
Der Berliner Senat hat nach wie vor kein zukunftsfestes Konzept zur Entlastung des ÖPNV im Straßenverkehr vorgelegt. »Sicher lässt sich nicht jedes Problem über Busspuren und günstigere Ampelschaltungen für Straßenbahnen lösen«, sagt Kristian Ronneburg, mobilitätspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. »Der Senat ist aber in der Pflicht, die Verantwortung für jene Dinge zu übernehmen, die in seiner Hand liegen und den ÖPNV zu priorisieren. Das ist er den Beschäftigten und den Verkehrsteilnehmerinnen gegenüber schuldig.« Dafür müsste man sich allerdings mit dem Autoverkehr anlegen, wozu im Moment weder die CDU noch die SPD bereit sind.
Neben verkehrspolitischen Versäumnissen sind auch aggressive Fahrgästen und Belastungen durch den Schichtdienst Faktoren, die den Kolleginnen und Kollegen zusetzen. Aus BVG-Kreisen erfährt man, dass nicht nur Berlin das Problem ist. Gerade für das Gesundheitsmanagement, das für Berufskraftfahrerinnen besonders wichtig ist, werden bei der BVG nämlich kaum ausreichende Ressourcen zur Verfügung gestellt.
Dass es auch an anderen Ecken und Enden hapert, zeigte die diesjährige Mitarbeiterbefragung der BVG. Weniger als ein Drittel der BVG-Beschäftigten ist der Meinung, dass die Arbeitsabläufe im Unternehmen gut organisiert sind. Nur etwas mehr als die Hälfte bewertet ihre individuellen Arbeitszeitregelungen als positiv und – besonders verheerend für Verkehrsbeschäftigte – mehr als die Hälfte der Kolleginnen kritisiert, dass es zu wenige Toiletten und sanitäre Anlagen in einem guten Zustand gibt.
Folgerichtig hat die BVG nicht nur Probleme, neues Personal zu gewinnen, sondern auch vorhandene Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden. Nicht wenige Busfahrer geben ihre Stelle bei der BVG auf und heuern bei einem der Verkehrsunternehmen im Berliner Speckgürtel an. Einerseits ist dort der Verkehr ruhiger, andererseits konnten die Fahrerinnen im Brandenburger Nahverkehr erst im März 2024 eine Entgelterhöhung von rund 500 Euro durchsetzen. Bei der BVG wiederum sind die Entgelte 2021 zum letzten Mal in einer Lohnrunde erhöht worden. Seitdem hat sich eine verheerende Energie- und Lebenskostenkrise durch die Geldbeutel der Beschäftigten gefressen.
»Was immer die nächsten Monate bringen: Es steht nicht gut um die soziale und ökologische Verkehrswende in der deutschen Hauptstadt.«
Hier nachzubessern, wäre also vor allem ein Thema für die kommende Tarifrunde bei der BVG. Damit sei es aber nicht getan, ist Kristian Ronneburg sich sicher: »Das Unternehmen muss Verantwortung übernehmen, um die Beschäftigten wieder fit zu bekommen und das Thema Gesundheit an die oberste Stelle setzen. Nur so kann das Unternehmen so früh wie möglich in die Konsolidierungsphase gehen.«
Währenddessen machen der Schwarz-Rote Senat und die Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) keinen Hehl mehr daraus, dass voraussichtlich auch die BVG den aktuellen Kürzungsplänen zum Opfer fallen wird. Jeremy Arndt von der Gewerkschaft Verdi zeigte sich daher gegenüber der Berliner Zeitung besorgt, dass das Unternehmen letztlich kaputtgespart werden könnte. Es ist in dieser Hinsicht zu befürchten, dass der Senat bei der anstehenden Revision des Berliner Verkehrsvertrags 2025 aus der aktuellen Not den neuen Normalzustand macht.
Der kürzlich bis 2029 angekündigte Sparfahrplan im öffentlichen Nahverkehr könnte somit vom Krisensymptom zur Richtschnur für die zukünftige Haushaltsplanung werden. Doch selbst wenn die notwendigen Infrastrukturinvestitionen nicht der Kürzungspolitik zum Opfer fallen, stehen mindestens Leistungsprojekte wie der Rufbus zur Disposition. Was immer die nächsten Monate bringen: Es steht nicht gut um die soziale und ökologische Verkehrswende in der deutschen Hauptstadt.
Sascha Döring lebt in Berlin und arbeitet im Bereich politische Kommunikation.