10. Januar 2024
Der Berliner Kultursenat will die Vergabe von Kunstförderung künftig an ein Bekenntnis zur umstrittenen Antisemitismus-Definition der IHRA binden. Dieser Schritt, der den demokratischen Diskurs schützen soll, bringt ihn stattdessen noch mehr in Gefahr.
Auf der Kundgebung »We Still Still Still Still Need to Talk« am 10. November 2023, organisiert von jüdischen Kulturschaffenden in Berlin, demonstrieren Menschen gegen die schrumpfenden Debattenräume in Deutschland und für eine Waffenruhe in Israel/Palästina.
In Berlin gab es kürzlich einen versuchten Angriff mit Molotowcocktails auf ein jüdisches Gemeindezentrum. Und vor wenigen Tagen wurden Menschen in Neukölln mutmaßlich deshalb angegriffen, weil sie Hebräisch sprachen. Das sind nur zwei unerträgliche Belege für die Tatsache, dass der Antisemitismus weder aus Deutschland, noch aus Europa oder der Welt verschwunden ist. Der Kampf dagegen in dem Land, von dem der Holocaust ausging, ist fundamental wichtig.
Eben weil der Antisemitismus eine reale Bedrohung für jüdische Menschen in Deutschland darstellt, ist es dringend notwendig, dass dieser Kampf ernsthaft geführt und nicht politisch instrumentalisiert wird. Leider ist in Berlin zurzeit das Gegenteil der Fall. Anfang dieser Woche hat die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt angekündigt, bei allen Zuwendungen ab sofort eine sogenannte Antidiskriminierungsklausel zur Anwendung zu bringen – eine geradezu zynische Bezeichnung, wie sich zeigt.
Staatliche Mittel sollen an ein Bekenntnis der geförderten Kunstschaffenden geknüpft werden. Soweit es die Verwaltung in ihrer Pressemitteilung konkretisierte, soll sich danach zur »vielfältigen Gesellschaft und gegen jede Form von Antisemitismus gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung« bekannt werden. Jetzt legt die CDU nach und erklärt die Einführung einer solchen »Klausel« auch für die Wissenschaft als notwendig.
»Eine Verwaltung, die sich für ›gesellschaftlichen Zusammenhalt‹ zuständig bezeichnet, bewirkt mit dieser Maßnahme das genaue Gegenteil.«
Wenn der Staat Künstlerinnen und/oder Wissenschaftlern politische Bekenntnisse abverlangt, sollte das grundsätzlich befremden. Gleichwohl lässt sich gegen die Bindung von Fördergeldern an die »vielfältige Gesellschaft« und Antisemitismusbekämpfung schwerlich etwas einwenden. Zu einem gravierenden Angriff auf die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit wird dies aber dann, wenn man sich auf die Antisemitismus-Definition der IHRA stützt. Wissenschaftlerinnen wie Künstler sollte das alarmieren, denn die Freiheit ihrer Disziplinen wird durch derartige administrative Maßnahmen ernstlich bedroht. Mehrere Tausend Kunstschaffende haben sich deshalb auch mit scharfen Worten in einem offenen Brief an den Senat gewandt.
Doch das betrifft nicht nur Menschen, die in Kunst und Wissenschaften tätig sind. Eine Verwaltung, die sich für »gesellschaftlichen Zusammenhalt« zuständig bezeichnet, bewirkt mit dieser Maßnahme das genaue Gegenteil. Sie spitzt das politische Meinungsklima dramatisch zu und verengt den Diskursraum auf einer Art und Weise, die in anderen europäischen Ländern geradezu undenkbar wäre.
»Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen«, lautet die IHRA-Arbeitsdefinition. Nicht nur, wer sich mit juristischen Texten und Definitionen auseinandersetzt, erkennt, dass diese Definition völlig konturlos und unpräzise ist. Diese Uneindeutigkeit räumen auch die Erläuterungen und Beispiele nicht aus, die von der IHRA angefügt wurden. Sie überrascht auch insofern nicht, als die Konsensfindung unter den Staaten nicht einfach gewesen sein wird. Bei der IHRA handelt es sich nämlich um eine zwischenstaatliche Organisation mit 34 Mitgliedsländern.
Als wäre diese Gemengelage nicht diffus und kontrovers genug, mischte sich 2019 noch der Deutsche Bundestag ein und dichtete im Rahmen seiner BDS-Resolution der IHRA-Definition eine Verschärfung hinzu, die da lautet: »Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.«
Die »Antidiskriminerungsklausel« der Senatsverwaltung nimmt ausdrücklich auf diese Erweiterung Bezug. Dabei verfremdet die Ergänzung des Bundestags schon die IHRA-Definition. Die Bezugnahme zur Kritik am Staat Israel wird in der IHRA-Definition nämlich mit dem Satz ergänzt: »Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.« Dieser Zusatz findet sich in der »deutschen Ergänzung« nicht wieder. Kritik an Israel wird damit viel früher unter Antisemitismus-Verdacht gestellt. Dazu kommt, dass die IHRA-Definition von den Urhebern selbst nicht als rechtsverbindlicher Text gedacht war.
»Schon jetzt werden auch jüdische und israelische Kritikerinnen und Kritiker Israels des Antisemitismus bezichtigt.«
Hunderte kritischer Stimmen aus verschiedenen Ländern haben sich gegen die Definition gewandt. Insbesondere liefert die Jerusalem Declaration on Antisemitism, die von mehr als 359 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – mitunter aus den Gebieten der Jüdischen, Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahoststudien – unterzeichnet wurde, in Ablehnung der IHRA-Definition eine andere Definition von Antisemitismus. Bei den Differenzen geht es im Kern um die Frage, ob und/oder ab wann Kritik an der Regierung beziehungsweise dem Staat Israel legitim und wann sie antisemitisch ist. Außerdem wird diskutiert, ob Antisemitismus grundsätzlich getrennt von Rassismus oder beide zusammen als Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu betrachten sind.
Auch die Jerusalem Declaration spricht israelbezogenen Antisemitismus an. Sie nimmt aber Abstand davon, Kritik am Staat Israel durch Antisemitismus-Vorwürfe einzuhegen. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass die schärfste Kritik an der israelischen Regierung mitunter von Jüdinnen und Juden sowie linken Israelis kommt, werden auf diese Weise einige Abstrusitäten vermieden. Darüber hinaus heißt in den Leitlinien: »Politische Äußerungen müssen nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig sein […]. Im Allgemeinen ist die Trennlinie zwischen antisemitischen und nicht antisemitischen Äußerungen eine andere als die Trennlinie zwischen unvernünftigen und vernünftigen Äußerungen.«
Die Definition von Antisemitismus ist also wissenschaftlich wie politisch seit Langem hochumkämpft. Wie weitreichend die Konsequenzen sind, zeigt sich nach den fürchterlichen Angriffen in Israel am 7. Oktober 2023. Die Reaktion des Staates Israel – die noch immer andauernde Bombardierung des Gazastreifens, der die Region jetzt schon unbewohnbar gemacht hat – entzweit die Weltgemeinschaft: in das Lager von zehn Staaten, namentlich neben Israel, unter anderem die USA, Deutschland, Großbritannien, Italien und Österreich auf der einen und fast allen anderen Staaten der Welt, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern, auf der anderen Seite.
In der heftigen Debatte über den Krieg werfen staatliche Vertreterinnen und Vertreter Israels kritischen Stimmen in schärfster Form Antisemitismus vor. Die israelische UN-Delegation etwa hat sich im November 2023 einen gelben Davidstern angeklebt, um die Kritik am Agieren ihres Staates als antisemitisch darzustellen. Prompt kritisierte der Direktor der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Dani Dayan, diese Referenz auf die Nazidiktatur als eine Schande.
Es mag politischen Akteurinnen und Akteuren freistehen, eine bestimmte Antisemitismus-Definition zu vertreten. Eine wissenschaftlich wie politisch hochumstrittene Definition als staatliche Doktrin auszuweisen, ist allerdings ein Übergriff. Schon jetzt und bereits ohne eine solche Klausel, die staatliche Fördergelder an Bekenntnisse knüpft, werden auch jüdische und israelische Kritikerinnen und Kritiker Israels des Antisemitismus bezichtigt, wie die Ausladungen, Absagen und Anfeindungen gegen Intellektuelle und Künstlerinnen wie Candice Breitz, Deborah Feldman, Masha Gessen, A.L. Kennedy, Susan Neiman, Ilan Pappe oder Adania Shibli zeigen.
»Die abstrakte Geltung von Freiheitsrechten bietet Schutz vor der vorschnellen Gewissheit, sich in Besitz der ›Wahrheit‹ und auf der moralisch ›richtigen‹ Seite zu befinden.«
Dass sich die Senatsverwaltung in Berlin – und, wie verlautbart wird, bald auch andere Bundesländer – mittels staatlicher Autorität in diesen offenen politischen Meinungskampf einschaltet, ist eine beispiellose autoritäre Zuspitzung. Debatten, die Gegenstand von künstlerischen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzungen sind, werden für beendet erklärt und staatlich vorgeschrieben. Selbst wenn es sich um ein freiwilliges Förderkriterium handelt, wird die staatliche Auslegung einer Definition zur »wahren« und förderwürdigen erklärt. Die Nichtunterzeichnung der Klausel beziehungsweise Ablehnung der Förderung könnte sogar zu einem Makel werden oder aber das Bemühen, das vage Bekenntnis einzuhalten, zur vorauseilenden Selbstzensur führen. »Gesellschaftlicher Zusammenhalt« liest sich im Namen der Verwaltung hiernach geradezu satirisch.
Das Grundgesetz gestaltet das Grundrecht auf Kunst- und Wissenschaftsfreiheit weitgehender als die anderen Kommunikationsgrundrechte wie die Garantie der Meinungsfreiheit. Anders als diese steht die Kunstfreiheit unter keinem Gesetzesvorbehalt. Nur andere Rechtsgüter von gleichem Verfassungsrang können die Wissenschafts- und Kunstfreiheit beschränken. Es ist diese abstrakte Geltung von Freiheitsrechten, die weithin als zentrales Unterscheidungsmerkmal demokratischer Verfassungsstaaten gegenüber autoritären Regimen gilt.
Auch bietet die abstrakte Geltung von Freiheitsrechten Schutz vor der vorschnellen Gewissheit, sich in Besitz der »Wahrheit« und auf der moralisch »richtigen« Seite zu befinden. Denn ihre Geltung führt zur Konfrontation mit den »Wahrheiten« anderer. Das ist für eine demokratische Gesellschaft unbedingt nötig, selbst wenn diese Konfrontation für viele Deutsche damit verbunden sein mag, dass grundlegende staatsstiftende und erinnerungspolitische Gewissheiten überprüft werden müssen. Wie wichtig das ist, hat jüngst der Schriftsteller Pankaj Mishra treffend herausgearbeitet. Diese abstrakte Geltung von Freiheitsrechten wird durch die Formulierung einer Art Staatsdoktrin bei der Definition von Antisemitismus infrage gestellt – und das sollte alarmieren.
Da es keinen Rechtsanspruch auf staatliche Kunstförderung gibt, wird eine derartige Einschränkung der Vergabe zum Teil als juristisch unproblematisch angesehen. Wer aber den »Markt« der Künste kennt und sich die zum Teil prekäre Lage und die ihr zugrundeliegenden Abhängigkeiten von Förderung vor Augen führt, muss zu einem anderen Schluss kommen: Eine selektive Kunstförderung läuft Gefahr, nicht mehr in Einklang mit den Grundsätzen der sogenannten Staatsferne (wie sie sich für den Bereich der Presse in der Rechtsprechung herausgebildet hat und auch auf die Kunst übertragen ließe), der Neutralität und der Gleichbehandlung im Wettbewerb zu stehen.
Die Klauseln bereiten den Weg zu einem Ungleichgewicht zwischen denjenigen, die bereit sind, sich dem staatlich auferlegten Bekenntniszwang zu verpflichten, und denen, die dies verweigern. So wie Presseunternehmen sich im gesellschaftlichen Raum frei bewegen können müssen, müssen es auch die Künste. Auch Kunstschaffende stehen miteinander in geistiger und mitunter wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt durch selektive Förderung empfindlich eingreifen würde. Eine besondere Brisanz, die für sich genommen grundrechtlich angreifbar sein wird, erlangt die Klausel schließlich dadurch, dass die Förderwürdigkeit am Maßstab nicht der künstlicheren Inhalte, sondern der Gesinnung festgemacht wird.
Wenn der Staat seine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger moralisch einordnet, sie kategorisiert und Bekenntnisse abverlangt, um Begünstigungen oder die Erteilung von Rechten entsprechend auszurichten, dann ist das brandgefährlich. Was hindert ihn daran, ein solches Vorgehen in jeden anderen erdenklichen Bereich auszuweiten? Furchteinflößend wird es aber, wenn Deutschland glaubt, Sonderwege zur Wahrheit zu kennen.
Moheb Shafaqyar ist Jurist und steht kurz vor dem Abschluss seines Rechtsreferendariats beim Kammergericht in Berlin. Er ist ehrenamtlich in der Kommunalpolitik in Friedrichshain-Kreuzberg tätig.