02. November 2023
Schon wieder monatelang auf einen Termin beim Amt warten? Der desolate Zustand der öffentlichen Verwaltung in Berlin und anderswo in Deutschland ist kein Versehen, sondern hat System.
Lange Wartezeiten auf dem Amt sind eine politische Entscheidung.
Im Juni 2023 zirkulierte ein Brandbrief, der parteiübergreifend von allen Bezirksbürgermeisterinnen und -bürgermeistern Berlins unterschrieben wurde, in der Hauptstadtpresse. Den Bezirken, die sich in Berlin vor allem über Geldzuweisungen des Landes finanzieren, mangelt es an Mitteln. Es fehlten mindestens 250 Millionen Euro, um den Status quo aufrechtzuerhalten. Um den bekanntermaßen desolaten Zustand der öffentlichen Verwaltung in Berlin zu beheben, bräuchte es noch viel mehr.
Zwar stellte das Land den Bezirken daraufhin zusätzliche 100 Millionen Euro zur Verfügung, doch damit ist das Problem der strukturellen Unterfinanzierung längst nicht gelöst. Die hohe Inflation ist nur ein Grund für die Misere. Auch die neoliberale Neuordnung der Verwaltung im Rahmen des »Neuen Steuerungsmodells«, das Managementtechniken der kapitalistischen Privatwirtschaft in die öffentliche Verwaltung eingeführt hat, sorgt systematisch dafür, dass Geldzuweisungen des Landes an die Bezirke möglichst gering ausfallen. Auf der Strecke bleibt dabei die Qualität der staatlichen Dienstleistungen. Die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zählen in diesem Modell wenig.
Staatliche Dienstleistungen kommen oft eher den unteren Einkommensgruppen zugute, also insbesondere der Klasse der Lohnabhängigen und den kleinen Selbstständigen. Infolge des Spardrucks müssen Beratungsstellen, Familienzentren und Jugendfreizeiteinrichtungen schließen und die Menschen immer länger auf Termine beim Jobcenter und bei Ämtern warten. Die Ämter, speziell im Jugend- und Gesundheitsbereich, sind überlastet, die Beschäftigten in den Bezirken werden im Vergleich mit der Landes- oder Bundesverwaltung deutlich schlechter bezahlt und staatliche Aufgaben werden breit in die sogenannte freie Trägerlandschaft outgesourct, wo vielfach prekäre Beschäftigungsbedingungen herrschen. So spüren die Bürgerinnen und Bürger Berlins sowie die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst tagtäglich die Folgen dieser Reformen. Und das, auch wenn die Bezirke rein rechnerisch positive Haushaltsabschlüsse aufweisen.
»New Public Management« bezeichnet eine Strömung innerhalb der Verwaltungswissenschaften, die eine neoliberale Reform der Verwaltung anstrebte. Die Maßnahmen, die sie vorschlug, umfassen Privatisierung, mehr »Eigenverantwortlichkeit« von Verwaltungseinheiten, die Einführung von Wettbewerbselementen in das Verwaltungshandeln sowie die Übernahme privatwirtschaftlicher Managementmethoden in den Öffentlichen Sektor. Das New Public Management forderte weniger Staat und mehr betriebswirtschaftliche Instrumente aus der kapitalistischen Unternehmensführung und war damit eine tragende Säule des weltweiten neoliberalen Gesellschaftsprojektes. Die Schlagworte lauteten damals »Modernisierung« oder »Effizienz« und »Ressourcenschonung«, ja sogar »Kundenorientierung« – der Staat arbeite ineffektiv und verschwenderisch und müsse sich mehr an der angeblichen Effizienz der privaten Kapitalinitiative orientieren.
»Damit die Bezirke einen zusätzlichen Sparanreiz haben und sich nicht gegen den Berliner Senat verbünden, werden die Zuweisungen des Landes über eine künstlich herbeigeführte Konkurrenz gesteuert.«
Die deutsche Variante dieses Reformprogramms, das »Neue Steuerungsmodell« (NSM), wurde von der damaligen Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGst) entwickelt. In (West-)Berlin, so der Stadt- und Regionalsoziologe Henrik Lebuhn, arbeitete man ab 1984 daran, dieses neoliberale Reformprogramm umzusetzen. »Alle zentralen Elemente des NSM« wurden ihm zufolge ab den 1990er Jahren nach und nach in ganz Berlin eingeführt. Hinter den Forderungen nach effizienterer Verwaltung versteckte sich dabei das banale Interesse des Kapitals an niedrigeren Steuern und neuen Investitionsmöglichkeiten.
Mit den Staatsausgaben sanken immer auch die Steuern für Unternehmen und Reiche. Gleichzeitig wurden Teile der Daseinsfürsorge durch Privatisierung und Teilprivatisierung der demokratischen Kontrolle entzogen und Profitinteressen von privaten Investoren unterworfen. Rund 150.000 landeseigene Wohnungen und über 3.000 landeseigene Grundstücke wurden verkauft, die Berliner Wasserwerke und das städtische Energieversorgungsunternehmen Bewag privatisiert.
Eine besondere Rolle in diesem Reformprogramm spielt die Kosten-Leistungs-Rechnung. Sie entscheidet, wie die Gelder, die das Land Berlin insgesamt bereitstellt, auf die einzelnen Bezirke verteilt werden. Wie die Haushalte der Bezirke zustande kommen, ist komplex und kaum politisiert. Von außen betrachtet erscheint die sogenannte Budgetierung vor allem als bürokratisch-technischer Akt. So wurde die politische Entscheidung des Berliner Senats, ein neoliberales Sparprogramm für die Bezirke durchzusetzen und politische und finanzielle Spielräume zu begrenzen, in einen vermeintlichen Sachzwang verwandelt.
Die Senatsverwaltung für Finanzen schreibt den Haushalt auf Grundlage der Ausgaben aller zwölf Bezirke aus dem vorletzten Jahr fort, verbunden mit Annahmen zu erwarteten Kostenentwicklungen. Die so errechnete Summe, die auch die Einsparungen der Vorjahre mit fortschreibt, nennt sich Bezirksplafonds. Schon hier lassen sich auch Entscheidungen treffen, wie man die Ausgaben der Bezirke durch technische Argumentationen nach unten drücken kann, zum Beispiel, indem der Ausgleich der Inflation, wie im Entwurf im Sommer 2023, zu niedrig angesetzt wird. Sollen die Bezirke aus Sicht des Berliner Senates sparen, so legt dieser einfach einen möglichst knappen Bezirksplafonds vor. Die »Eigenverantwortlichkeit«, die Neoliberale stets hochhalten, heißt dann in der Praxis, dass Kommunen wie die Berliner Bezirke eigenverantwortlich entscheiden müssen, wo sie kürzen wollen, um zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen.
Anders als viele andere Kommunen in Deutschland haben die Berliner Bezirke keine eigenen Steuereinnahmen und dürfen keine Schulden aufnehmen. Mangelt es ihnen an Geld, bleibt ihnen keine andere Wahl, als Sparmaßnahmen zu treffen. In Zeiten knapper Mittel kürzen Kommunen in der Regel zuerst bei den »freiwilligen Leistungen«, die nicht zu ihren Pflichtaufgaben gehören, also bei Bildung, Sozialem, im Jugendbereich, sowie bei Investitionen.
Damit die Bezirke einen zusätzlichen Sparanreiz haben und sich nicht gegen den Berliner Senat verbünden, werden die Zuweisungen des Landes über eine künstlich herbeigeführte Konkurrenz gesteuert. Dem ehemaligen Staatssekretär und Bezirksstadtrat für Finanzen Jens-Peter Heuer zufolge betrifft das ungefähr zwei Drittel der Geldzuweisungen des Landes. Nicht die Bedarfe nach staatlichen Dienstleistungen sind Grundlage für die Zuweisungen – so wie es vor den Reformen des NSM war – sondern die Abschlussergebnisse der Kosten- und Leistungsrechnungen der einzelnen Bezirke.
»Von der beschworenen fiskalischen Disziplin profitieren die, die von staatlichen Leistungen mit breiter Wirkung nichts, aber von ihrer Beschneidung viel zu erwarten haben.«
Dafür werden sogenannte »Produkte« definiert und ihre Bereitstellungskosten in den verschiedenen Bezirken verglichen. Die Ausstellung eines Personalausweises, der Besuch einer Jugendfreizeiteinrichtung oder die Verwaltungskosten für Hilfszahlungen sind Beispiele für solche Produkte, derer es Hunderte gibt. Bezirke, die ihre jeweiligen Produkte unter dem Durchschnittspreis »produzieren«, werden durch höhere Zuweisungen belohnt, während teurere Bezirke durch niedrigere Zuweisungen bestraft werden.
So hat jede Verwaltungsstelle ein Interesse daran, möglichst effizient, also auf dem Papier billig, die geforderten Leistungen zu erbringen. Die kostengünstig wirtschaftenden Bezirke setzen den Standard – auch bei der Qualität der Leistung. Zwar produziert diese künstliche Konkurrenz kurzfristig auch Gewinner, aber die Bezirke, die »gut wirtschaften« und die Kosten für einzelne Produkte erfolgreich nach unten drücken, tragen damit indirekt auch zur Verknappung der zu verteilenden Mittel in den nächsten Haushalten bei. Sinken die Ausgaben für Produkte im Durchschnitt, dann sinken auch die Zuweisungen des Landes. So wird der Kostendruck auf die Bezirke stetig aufrechterhalten.
Einsparmöglichkeiten, um unter den Durchschnitt zu kommen, gibt es viele. Zum Beispiel können die Bezirke trotz Tarifverträgen im Öffentlichen Dienst beim Personal sparen, indem sie ihre Mitarbeitenden in möglichst niedrige Tarifgruppen einsortieren oder den Personalschlüssel zur Erfüllung von Aufgaben knapphalten. Im Zeitraum zwischen 1991 und 2011 wurden insgesamt 54 Prozent des Personals in den Bezirksverwaltungen durch verschiedenste Maßnahmen abgebaut.
Eine beliebte Methode, Kosten zu drücken, die längst nicht nur die Bezirke für sich entdeckt haben, ist das Outsourcing von staatlichen Aufgaben an Dritte. Von Jugendfreizeiteinrichtungen über Flüchtlingshilfe zu Beratungsstellen ist dadurch ein riesiger Arbeitsmarkt prekär Beschäftigter bei den »freien Trägern« geschaffen worden. Diese Beschäftigten haben deutlich ungünstigere Arbeitsbedingungen als die ohnehin oft bereits schlecht bezahlten Beschäftigten in der Bezirksverwaltung. Bei den meisten sozialen Trägern gibt es keine oder nur niedrige Haustarifverträge und im Gegensatz zum Öffentlichen Dienst kaum gewerkschaftliche Vertretung oder Betriebsräte.
Die freien Träger konkurrieren zudem untereinander um staatliche Finanzierung. Das drückt wiederum die Kosten, zu denen die jeweiligen Dienstleistungen bereitgestellt werden. Und wieder leiden darunter letzten Endes die Beschäftigten dieser Träger. Dazu kommt, dass bei knappen Haushalten die so finanzierten Projekte jene Verfügungsmasse sind, an der sich besonders flexibel kürzen lässt. Da nach jedem Haushaltsplan Änderungen vorgenommen werden, wissen die Beschäftigten in der freien Trägerlandschaft dabei oft nicht, ob sie im nächsten Jahr überhaupt noch einen Job haben.
Dieser technische Ablauf verschleiert die politische Entscheidung, die hinter dem Finanzierungssystem steht. Während die Bundes- und Landesregierungen Sparmaßnahmen am Staat vornahmen, senkten nämlich die Bundesregierungen unter SPD, CDU, Grünen und FDP zugleich die Steuern auf hohe Einkommen, etwa indem sie die Abgeltungssteuer einführten, die Einkünfte aufgrund von Kapitalbesitz gegenüber der Lohnarbeit steuerlich privilegiert, oder die Körperschaftssteuer von Unternehmen reduzierten. Die Abschreibungsmöglichkeiten für das Kapital, die Christian Lindner in der Ampel-Regierung durch das sogenannte Wachstumschancengesetz durchgesetzt hat, ist ein jüngeres Beispiel dafür, wie Kosten für die »Entlastung« von Unternehmen und Reichen unmittelbar auf die Kommunen abwälzt werden.
»Die Neuorganisation der Kommunen fügt sich ein in einen allgemeinen Trend zur Umverteilung von unten nach oben und zur weiteren Entdemokratisierung des Staates.«
Von der im NSM beschworenen fiskalischen Disziplin profitieren die, die von staatlichen Leistungen mit breiter Wirkung nichts, aber von ihrer Beschneidung viel zu erwarten haben. Das Kapital ist in der Regel an möglichst niedrigen Staatsausgaben interessiert. Das Hauptziel der Verwaltungsneuordnung des NSM bestand darin, Kosten zu drücken und die Debatte über die Probleme der Kommunen von der Einnahmenseite – Steuern und Abgaben – auf die Ausgabenseite zu verschieben. Dabei erkennt man zwar an, dass staatliche Ausgaben unvermeidbar sind, da sie für den sozialen Frieden und damit die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Status quo notwendig sind. Die Kosten dafür sollen jedoch möglichst gering gehalten werden.
Indem die Neuorganisation der Kommunen nach dem NSM anstelle politischer Entscheidungen (die man immerhin noch abwählen könnte) betriebswirtschaftliche Regeln setzt, fügt sie sich ein in einen allgemeinen Trend zur Umverteilung von unten nach oben und zur weiteren Entdemokratisierung des Staates. Die Reformen in den Kommunen sind ein Instrument des Klassenkampfes, um die Kosten für die Reproduktion der Gesellschaft vom Kapital auf die Beschäftigten in der Verwaltung und bei den freien Trägern abzuwälzen und auch gegen sich ändernde politische Mehrheiten abzusichern, dass die staatlichen Ausgaben sich auf das »Nötigste« beschränken. Die neoliberale Organisation der lokalen öffentlichen Verwaltung läuft den Interessen der Lohnabhängigen und kleinen Selbstständigen – und damit dem Interesse der breiten Mehrheit der Bevölkerung – diametral entgegen. Und Berlin ist leider nur ein Beispiel unter vielen.
Fabian Nehring ist Politikwissenschaftler und aktives Mitglied bei der LINKEN in Berlin.