08. Oktober 2020
Warum er verlor und was das für uns bedeutet. Eine Analyse.
Bernie Sanders brachte keine Revolution, hat aber einen historischen Erfolg unter jungen Wählern verbucht.
An einem milden Nachmittag im April 2015, inmitten der ideologischen Todeszone der zweiten Amtszeit von Barack Obama, verließ Bernie Sanders seinen Arbeitsplatz im Senat und schlenderte über den Rasen vor dem Kapitol in Washington D.C. Mit einem zerknitterten Notizblatt in der Hand erläuterte er der Presse in weniger als zehn Minuten die Beweggründe für seine Präsidentschaftskandidatur: Amerikanerinnen und Amerikaner arbeiteten immer länger für einen geringeren Lohn, während sich die Reichen die Taschen vollstopften und Milliardäre das politische System fest im Griff hätten. Das Land stünde vor der größten Krise seit dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft im Jahr 1929.
Fünf Jahre später, an einem Aprilmorgen des Jahres 2020, stand Sanders abermals vor der Kamera, dieses Mal in seinem Wohnzimmer in Burlington im Bundesstaat Vermont, um das Ende seines zweiten Präsidentschaftswahlkampfes anzukündigen. Seine zweite, wie bereits seine erste Kandidatur, hatten mit einer Niederlage geendet. Obwohl Bernie eine inspirierende, fünfzehnminütige Rede hielt, in der er Nelson Mandela zitierte und seinen Unterstützerinnen für Blut, Schweiß, Tränen und Posts in den sozialen Medien dankte, so kam man doch nicht umhin sich zu fragen, wozu die ganze Leidenschaft am Ende gut war.
Die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den USA ist höher als jemals zuvor. Ein Milliardär sitzt im Weißen Haus, während die Opposition unter ihren eigenen Milliardären nach Führungsfiguren sucht. Durch die COVID-19-Pandemie stehen die Vereinigten Staaten nicht nur vor ihrer größten Krise seit 1929, sie stecken schon mittendrin.
Sanders hat verloren. Fünf Jahre lang führte er einen Kampf gegen die Milliardärsklasse und die Führung der Demokratischen Partei, um am Ende an beiden Fronten geschlagen zu werden. All jene von uns, die ihn dabei unterstützen müssen nun die bittere Bilanz über die Bedeutung dieser Niederlage ziehen.
Das politische Projekt von Sanders gehört zu den wichtigsten politischen Ereignissen des 21. Jahrhunderts. Erstmals verbanden sich im Zentrum des globalen Kapitalismus zwar minimalistische, aber grundlegende sozialistische Forderungen mit einer Basis in Millionenstärke. Bernies deutliche Niederlage im Frühjahr kam zu einer Zeit, die geprägt war von den apokalyptisch anmutenden Zuständen einer globalen Pandemie und sozialem Aufruhr. Da ist für die Linke die Versuchung groß, in Verzweiflung zu verfallen.
Bereits jetzt wird Sanders und das Vermächtnis seiner beiden Kampagnen eifrig zerrissen, sei es von der Ultralinken, die erfreut ist, sich von ihrem Umweg über die repräsentative Demokratie wieder verabschieden zu können, sei es von liberalen Zentristinnen, die den Horizont des Möglichen nur zu gern wieder eingeschränkt sehen. Auch die traditionalistische Rechte gibt sich erfreut und erklärt, die Linke werde nun wieder von Klassen- auf Kulturkämpfe umschwenken.
Ebenso hat die kommerzielle Presse die Chance ergriffen, Bernie – samt seiner Aufrufe zu massiver Umverteilung zulasten von Konzernprofiten – direkt auf den Müllhaufen der Geschichte zu verfrachten. Selbst die Massenproteste nach dem Polizeimord an George Floyd waren für die New York Times Anlass, das Ende der Sanders-Ära auszurufen: »Bernie Sanders sagte eine Revolution voraus, nur eben nicht diese«, blökte eine Schlagzeile und berief sich dabei auf die Analyse der intersektionalen Theoretikerin Kimberlé Crenshaw, die argumentierte, »jeder Konzern, der auch nur irgendetwas auf sich hielte« hätte Sanders beim Kampf gegen »strukturellen Rassismus und Ablehnung gegenüber Schwarzen« mittlerweile um Längen überholt. Von einer gesetzlichen Krankenversicherung für alle müssen wir uns nun verabschieden, aber immerhin haben wir ja Jeff Bezos’ flotte Sprüche gegen »All Lives Matter«. [Anm. d. Ü.: Die Parole »All Lives Matter«, also »Jedes Leben zählt«, wird in den USA von Gegnerinnen der Black-Lives-Matter-Bewegung verwendet und von letzterer als relativierend, verharmlosend und als Ausdruck von verkapptem Rassismus aufgefasst.]
All dies sind Resultate aus Sanders Niederlage. Sowohl seine Schönwetterfreunde wie seine Dauerfeinde erklären ihn nun für irrelevant. Doch weder seine Wahlniederlage noch ein sich wandelnder Diskurs sind Grund dafür, Bernies wesentliches Vermächtnis aufzugeben. Die Massenproteste gegen Polizeigewalt und Rassismus werden nur erfolgreich sein, wenn sie sich einer breiten, demokratischen Bewegung à la Sanders anschließen – breit genug, um die politische Agenda auf nationaler Ebene mitzubestimmen, entschlossen genug, das Kapital herauszufordern, und in der Lage, die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Gesellschaft der Freien und Gleichen zu erkämpfen.
Eine akkurate Bilanz der beiden Sanders-Kampagnen muss daher zwei Spalten umfassen: Die Errungenschaften, die durchaus substantiell sind und in den letzten 50 Jahren Politikgeschichte der USA ihresgleichen suchen, und die Beschränkungen, die nun, in der Rückschau auf den Wahlkampf 2020 größer und unüberwindbarer erscheinen als zu irgendeinem Zeitpunkt seit 2016.
Fügen wir unserer Bilanz noch eine dritte Spalte hinzu: Der Ausblick auf zukünftige Kämpfe, die gegenwärtig ein vorschnelles Ende fanden und in der nahen Zukunft nur unscharf zu erkennen sind, die auf aber längere Sicht nun bessere Aussichten haben.
Als Bernie seine Kandidatur 2015 ankündigte, berichtete die New York Times zwar darüber, allerdings fand sich der Beitrag weit hinter Artikeln über Obamas Präsidentschaftsbibliothek, einem Prüfungsskandal an Schulen in Atlanta und einer Regierungsbilanz des Ex-Bürgermeisters von Baltimore Martin O’Malley, der neben Clinton und Sanders ebenfalls bei den demokratischen Vorwahlen 2015/2016 kandidierte. Einem Kandidaten, der in Umfragen auf nur etwa drei Prozent kam, war dies angemessen. Die Zeitung hatte seit über einem Jahr nicht mehr über Medicare for All – also einer allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung – berichtet.
Aus der Perspektive von 2020 ist es schwer nachvollziehbar, wie eingeschränkt der politische Diskurs des linksliberalen Amerika in den Jahren vor Bernies Kampagne wirklich war. Progressive Prominente wie Keith Ellison, Michael Moore und Susan Sarandon versuchten, die Senatorin Elizabeth Warren zu einer Kandidatur zu bewegen, welche zusammen mit Tom Perez, dem Parteichef der Demokraten, auf dem Kongress des Gewerkschaftsverbands AFL-CIO im Januar 2015 aufgetreten war. Warrens »feurige Rede«, in der sie die »Trickle-down-Theorie« der neoliberalen Ökonomie anprangerte, fand ihren Weg in die Schlagzeilen. Warren forderte eine bessere Finanzmarktregulierung, die Durchsetzung bestehender Arbeitsgesetze, Schutz für die bescheidenen Sozialprogramme der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und eine nicht näher bezifferte Erhöhung des Mindestlohns.
»Bemerkenswert an dieser Wunschliste der Progressiven ist, dass darauf nichts steht womit Barack Obama oder Hillary Clinton nicht auch einverstanden wären«, kommentierte der Journalist Matthew Yglesias auf Vox.
Heute hört sich Warrens Reformpaket sehr nach dem Wahlprogramm von Joe Biden an und niemand außerhalb einer winzigen Kaste von Propagandisten würde es als explizit »links« bezeichnen. Obwohl Bernies fünfjähriger Kampf in einer Niederlage endete, brachte er der amerikanischen Linken zwei wichtige Erkenntnisse ein.
Erstens bewies Bernie, dass mutige, sozialdemokratische Ideen, die weit über die regulatorischen Ambitionen der Progressiven der Obama-Ära hinausgingen, in den Vereinigten Staaten eine Massenbasis für sich gewinnen können. Kompromisslose Forderungen nach einer Bundesregierung, die sich um die elementaren Bedürfnisse aller Amerikanerinnen kümmert – von der Gesundheitsversorgung bis zum kostenlosen Studium, Kinderbetreuung und Elternzeit – bildeten das Herzstück von Sanders politischem Projekt. Was bei drei Prozent begann wuchs über zwei Wahlkämpfe hinweg zu einer Bewegung an, die fast ausschließlich auf der Stärke dieses inhaltlichen Programms ruhte. Sanders wurde so zum einflussreichsten linken Herausforderer der modernen amerikanischen Geschichte.
Sicherlich gab es schon vor ihm Kandidaten wie Jesse Jackson und Dennis Kucinich, die sich für eine allgemeine Krankenversicherung stark gemacht hatten, doch ihre Kampagnen führten nicht dazu, dass sich in Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung für solche Ideen aussprach – ganz zu schweigen von überwältigenden Zustimmungsraten bei Demokratinnen und Wählern unter 65. Linke wie Michael Harrington und Ralph Nader prangern seit Langem an, dass eine parteiübergreifende, den Konzernen verpflichtete Elite das Land regiert, doch schufen sie aus dieser Einsicht keine Bewegung, mit der man die Vorwahlen in New Hampshire, Michigan oder Kalifornien gewann.
Auch war Sanders Teilerfolg kein hohler »Diskurssieg«. Bernie lieferte den praktischen Beweis für eine Behauptung, für die man von Politikbeobachtern im Mainstream vorher ausgelacht worden wäre, und die von der amerikanischen Linken zuvor zwar proklamiert, jedoch nie belegt worden war: Und zwar, dass ein »demokratischer Sozialismus«, der auf einer Ablehnung der Herrschaft der Milliardärsklasse und auf der universellen Verfügbarkeit öffentlicher Gütern gründet, nicht nur Tausende, sondern Millionen in Amerika für sich gewinnen kann. Seit einem halben Jahrhundert stellen sich Aktivistinnen mit ihren Megaphonen hin und behaupten das einfach so, aber Bernie Sanders hat es verdammt noch mal bewiesen.
Bernies Niederlage stellt aber auch klar, dass sich gute Umfragewerte nicht zwangsläufig in politische Macht übersetzen. So legte die Sanders-Kampagne nicht nur das ungenutzte Potenzial der amerikanischen Sozialdemokratie frei, sondern offenbarte auf dramatische Art und Weise auch die Entschlossenheit ihrer Gegner. Hierin liegt die zweite Lektion: Die geschlossene und konsequente Ablehnung, mit der die Eliten in der Demokratischen Partei nicht nur Sanders selbst, sondern seinem ganzen politischen Programm begegneten.
Dies ließ sich bereits im frühen Stadium der Kampagne von 2016 erkennen. Demokratische Politikerinnen, TV-Kommentatoren und Journalistinnen prestigeträchtiger Medien des gesamten politischen Spektrums – von Zentristinnen wie Claire McCaskill oder Chris Matthews bis zu linksliberalen wie Barney Frank und Paul Krugman – wetterten unisono gegen Sanders und seine Agenda.
Und doch: Die Tiefe der Ablehnung der Demokraten ließ sich vielleicht bis zu diesem Jahr nicht wirklich ausloten, weder von Bernies Verbündeten noch seinen Feinden. Im Februar, als Sanders die Vorwahl in New Hampshire gewann und dann auch in Nevada abräumte, brach auf den zentristischen Kommentarseiten Panik aus. Der Ruf wurde laut, die verbliebenen Bewerberinnen mögen sich hinter einem einzigen Kandidaten versammeln, der Sanders die Stirn biete. Es war eine allgemeine Nervosität spürbar, was wiederum offenbarte, dass sie selbst nicht daran glaubten, dass dies gelingen könnte. Dass sich eine »kritische Masse« von Sanders Rivalinnen in letzter Sekunde zurückziehen würde, erschien der New York Times am 27. Februar als »das am wenigsten wahrscheinliche Szenario«.
Wir alle wissen, was als nächstes geschah. Nur drei Tage später, am Abend vor dem Super Tuesday – bei dem mehrere Vorwahlen auf den selben Tag fallen und der daher als wichtigster Wahltermin im Vorwahlkalender gilt – zogen sich der Zentrist Pete Buttigieg und die Parteirechte Amy Klobuchar aus dem Rennen zurück und sicherten Joe Biden ihre Unterstützung zu. Der ehemalige Kandidat und Kongressabgeordnete Beto O’Rourke und der ehemalige Senator und Fraktionschef der Demokraten Harry Reid sowie ein Dutzend prominenter Demokratinnen und hochrangiger Mitglieder der Obama-Regierung taten es ihnen gleich.
Diese große Konsolidierung um Biden, die auf seinen Sieg in South Carolina folgte, erzeugte etwa denselben Effekt wie hundert Millionen Dollar an »kostenloser« positiver Berichterstattung – mehr als Sanders über seine ganze Kampagne hinweg für Werbung ausgegeben hatte. Hinzu kam, dass diese mediale Aufmerksamkeit an einem einzigen, entscheidenden Wochenende vor dem wichtigsten Vorwahltag aufflammte. Als Resultat dominierte Biden den Super Tuesday und gewann sogar Staaten wie Texas und Maine, wo Sanders bis zuletzt vorne gelegen hatte. Biden erhielt so einen überwältigenden Vorsprung, den er nie mehr aufgeben musste.
Im Rückblick erscheint es vielleicht naiv, dass Sanders und seine Verbündeten so lange daran glaubten, das demokratische Feld würde bis zuletzt gespalten bleiben. Doch auch Bernies bitterste Feinde scheinen diesem Glauben aufgesessen zu sein. Dutzende Partei-Insider verrieten der New York Times im späten Februar, dass man Sanders noch am ehesten stoppen könne, wenn man ihm die absolute Mehrheit verweigern und beim Parteitag Stimmen für einen Gegenkandidaten zusammentrommeln würde.
Buttigieg wurde in Iowa zum Sieger ausgerufen – obwohl am Ende die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen an Sanders gingen – und kam in New Hampshire auf den zweiten Platz. Noch nie zuvor in der modernen Geschichte der Vorwahlen zog sich ein so erfolgreicher Kandidat so früh zurück. Selbst als ideologisches Projekt, um die Linke abzuwürgen, war die Vereinigung der Partei um Biden von einer Geschwindigkeit und fast perfekten Koordination, die ihresgleichen sucht. Als Jesse Jackson 1988 kurz zum Favorit aufstieg, blieben seine Rivalen aus dem Establishment wie Michael Dukakis, Al Gore, Dick Gephardt und Paul Simon all bis Ende März im Rennen – einem Zeitpunkt, zudem mehr als fünfunddreißig Vorwahlen bereits stattgefunden hatten.
Dieses Mal gelang es dem Establishment, das Feld breites nach vier Vorwahlen zu räumen. Als einziger zentristischer Kandidat neben Biden blieb damit nur noch der eitle Milliardär Michael Bloomberg im Rennen. Dass sich Elizabeth Warren zu diesem Zeitpunkt nicht zurückzog, schadete Bernie und nicht Biden, denn ihr flogen eher Stimmen aus dem linken Lager zu. Nach dem Super Tuesday beendete auch Bloomberg seine Kandidatur sofort und sagte Biden seine Unterstützung zu. Als Warren schließlich den Posten hinwarf, stellte sie sich hingegen nicht hinter Sanders.
Obwohl die Demokratische Partei heute in vielerlei Hinsicht schwächer ist als vor dreißig Jahren – sie kontrolliert zum Beispiel deutlich weniger Parlamentsmehrheiten in den Bundesstaaten –, ist die Parteiführung mächtiger denn je und übt einen größeren Einfluss auf Politikerinnen aus als jemals zuvor. Buttigieg, der in den Super-Tuesday-Staaten einen starken Wahlkampf hingelegt hatte, zog sich nicht zurück, weil er in South Carolina erwartbar schlecht abschneiden würde (doch selbst dort erhielt er das vierte Mal in Folge immerhin noch mehr Stimmen als Warren).
»Das Grundproblem ist weniger, dass das wirtschaftsnahe Establishment die Partei kontrolliert, sondern dass dieses Establishment weiterhin Mehrheiten erzielt.«
Klar ist, dass Buttigieg die Millionen von Dollar, die er in seinen Wahlkampf investiert hatte, und die etwa dreißigtausend freiwilligen Wahlkampfhelfer, die er für den Super Tuesday mobilisieren konnte, nicht einfach so aufgab – er tat es, weil Barack Obama ihn dazu aufforderte, und weil er wusste, dass seine Karriereperspektiven bei den Demokraten weniger von der Unterstützung der Wählerinnen abhingen würden als von seinem Einsatz beim Projekt, Sanders zu stoppen und »die Partei zu retten«.
Die Geschwindigkeit und Gründlichkeit der Konsolidierung der Eliten – die Biden auch die sofortige Unterstützung der Großspender zusicherte – veranschaulicht, wie absurd die in den Medien präsente Behauptung mancher Beobachter ist, dass sich Sanders einfach nur geschickter dabei hätte anstellen müssen, die Parteiführung für sich zu gewinnen.
Obama, Hillary Clinton und ihre wirtschaftsnahen Verbündeten – von den Beraterinnen, Hedge-Fund-Managern und Tech-Bossen, die »Mayor Pete« [Buttigieg] erst zu seiner Popularität verhalfen, ganz zu schweigen – schlossen die Ränge gegen Bernie nicht, weil er sie nach seinem Sieg in Nevada nicht genug um ihre Unterstützung gebeten hatte. Ihre tiefe ideologische Ablehnung des Sanders-Projekts war schon lange offensichtlich. Überraschend war dennoch, wie schnell und effektiv ihre private Ablehnung in offensichtliche Fakten umgemünzt werden konnte.
Diese harte Lektion sollte ausreichen, um dem Sanders-Lager die Idee auszutreiben, dass Bidens Kampagne zu signifikanten Zugeständnissen bereit sein würde. Sie zeigt die institutionellen Grenzen der demokratischen Partei klar auf. Was auch immer demokratische Wählerinnen denken mögen – die meisten stimmen dem Programm von Bernie Sanders zu –, die dominante Gruppe innerhalb der Parteiführung lehnt es fundamental ab und wehrt sich mit einer Entschlossenheit und einem Organisationsgrad dagegen, den man sich von den gleichen Leute in der Auseinandersetzung mit den Republikanern nur wünschen kann.
2016 gewann Sanders etwa 40 Prozent der Stimmen, doch er erhielt das Endorsement von lediglich 3,7 Prozent der Demokratischen Fraktion im Repräsentantenhaus (das sind gerade einmal sieben von 187 Abgeordneten). In einem sehr viel unübersichtlicheren Feld gewann Sanders 2020 die ersten vier Wahlen mit etwa 35 Prozent der Stimmen, und doch erzielte wieder nur die Unterstützung von 3,8 Prozent der Fraktion (neun von 232 Abgeordneten). Institutioneller Fortschritt sieht anders aus.
Selbst im Congressional Progressive Caucus (kurz: CPC, ein linksliberaler Zusammenschluss der Demokraten im Repräsentantenhaus, dem etwas mehr als ein Drittel der Fraktion angehört), dessen Ko-Vorsitzende Sanders tatkräftig unterstützten, gab es vor dem Super Tuesday 12 Endorsements für Biden, aber nur acht Endorsements für Sanders. In der kurzen Phase des Zwei-Personen-Rennens vom 3. März bis 17. März gewann Biden die Unterstützung von 20 weiteren CPC-Abgeordneten, Sanders nur die eines einzigen CPC-Mitglieds.
In diesem kritischen Aspekt sind die Institutionen der Demokraten zwischen 2015 und 2020 keineswegs »nach links gerückt«. Zwar haben es verschiedene Elemente der Sanders-Agenda in das eher bedeutungslose offizielle Parteiprogramm und auf die Webseiten einer Vielzahl individueller Kampagnen geschafft. Einige, wie etwa der Mindestlohn von 15 Dollar, wurden sogar auf der Ebene einzelner Bundesstaaten umgesetzt. Doch auf nationalem Niveau wird die Demarkationslinie zwischen universellen Forderungen nach einer gesetzlichen Krankenversicherung, kostenloser Bildung und der Unterstützung für Familien, wie sie Sanders fordert, und temporären Lösungsvorschlägen im Stil der Obama-Regierung strikter kontrolliert als je zuvor.
Diese hart errungene Lehre kann eine Waffe gegen die liberalen Eliten sein, die diese Unterschiede zwischen der Parteilinken und dem Establishment oft lieber herunterspielen, als sich der Auseinandersetzung darüber zu stellen. »Bernie Sanders Ideen sind so beliebt, dass Hillary Clinton jetzt mit ihnen Wahlkampf macht« tönte Vox im April 2015. Natürlich wird dieses Narrativ von der Partei auch 2020 gerne wieder bedient, doch den Millionen von Sanders-Wählerinnen, die gerade dabei zusehen durften, wie das Establishment fünf Jahre lang alles daran setzte, um Forderungen nach einer allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung und der Abschaffung von Studiengebühren zu ersticken, kann man das nur noch schwerlich glaubwürdig vermitteln.
Die Haupterrungenschaft der fünfjährigen Sanders-Kampagne liegt also im Aufbau einer gestärkten und inhaltliche klareren Bewegung für einen amerikanischen demokratischen Sozialismus – ausgestattet mit einem neuen Optimismus für die Popularität ihres Programms und doch im Bewusstsein über die Macht ihrer Gegner. Sanders hinterließ eine selbstbewusstere und selbstkritischere Linke, die sowohl der Versuchungen erfolgloser Außenseiter-Kandidaturen jenseits der Demokratischen Partei widerstehen kann und auch nicht auf die falschen Versprechen von weichgespülten »Progressiven« der Parteiführung reinfällt.
Und doch beginnt genau hier das eigentliche Problem: Die Linke nach Bernie ist endliche stark genug um zu begreifen, wie schwach sie eigentlich ist.
Das Grundproblem ist weniger, dass das wirtschaftsnahe Establishment die Partei und ihre Politikerinnen weiterhin kontrolliert, sondern dass dieses Establishment bei parteiinternen Vorwahlen weiterhin Mehrheiten erzielt. Bei der Wahl zwischen einer »Rückkehr zur Normalität« unter Joe Biden und einer Neuauflage des New Deal unter Bernie Sanders entschieden sich etwa 60 Prozent der demokratischen Wählerinnen für Ersteres.
Die schmerzhafte Wahrheit, die wir über sechs Frühlinge hinweg lernen mussten, ist deshalb, dass es unter den demokratischen Wählerinnen noch keine sozialdemokratische Mehrheit gibt, und schon gar nicht in den Vereinigten Staaten als Ganzes. Sanders hat der Linken eine neue Relevanz auf nationaler Ebene gegeben, doch um diese Relevanz in Macht zu verwandeln, müssten wir Mehrheiten gewinnen. Diese Aufgabe wird nicht in ein- oder zwei Wahlsaisons gestemmt werden können – man wird sich ihr eher über das kommende nächste Jahrzehnt hinweg stellen müssen, vielleicht auch noch darüber hinaus.
Sanders Kampagne von 2016 war die größte linke Kampagne in der Geschichte der Demokratischen Partei. Er gewann mehr Stimmen und Delegierte als Jesse Jackson, Ted Kennedy, sogar mehr als der erfolgreiche George McGovern. 2020 war er von Anfang an einer der aussichtsreichsten Kandidaten, keinesfalls ein Außenseiter. Letztendlich unterlag er jedoch Joe Biden, der eine Koalition hinter sich vereinen konnte, die der von Hillary Clinton im Jahr 2016 in gewisser Weise ähnelte.
Wenn man sich die Ergebnisse der beiden Wahlen auf lokaler Ebene anschaut, wird man feststellen, dass drei entscheidende Faktoren zu Sanders zweiter Niederlage beitrugen: Erstens gelang es ihm trotz ernsthafter Bemühungen nicht, seine Stimmanteile bei Afroamerikanern zu verbessern. Dieses Problem sollte sich als deutlich schwieriger herausstellen, als es vor vier Jahren noch erschien. Zweitens scheiterte der Versuch, die Wahlbeteiligung der Arbeiterinnenklasse deutlich zu erhöhen, auch wenn im Vergleich zu 2016 ein Zuwachs in dieser Wählergruppe – vor allem unter Latinos – zu verzeichnen war. Drittens – und das ist besonders wichtig – wurde Bernie von einer Welle gestiegener Wahlbeteiligung derjenigen Wählerinnengruppe überrollt, bei der die Demokraten aktuell die größten Zuwächse verbuchen: Ehemalige Republikanerinnen in größtenteils weißen, wohlhabenden und gebildeten Vorstädten.
Betrachten wir also jeden dieser Faktoren gesondert.
Nachdem Sanders schlechtes Abschneiden bei Schwarzen Wählern ihn 2016 die Wahl kostete, unternahm die Kampagne 2020 viel, um bei Afroamerikanerinnen besser anzukommen, sowohl inhaltlich als auch im Stil. Das Ziel, wie Adolph Reed und Willie Legette argumentiert haben, war nie, eine singuläre, homogene und mystifizierte »Schwarze Stimme« zu gewinnen. Doch um bei einer Vorwahl der Demokraten für das Präsidentenamt erfolgreich zu sein, musste Sanders mehr Schwarze Wählerinnen auf seine Seite ziehen.
2019 veröffentlichte die Sanders-Kampagne einen ambitionierten Plan, um die Mittel für historisch afroamerikanisch geprägte Universitäten zu erhöhen. Mit der Unterstützung von Akademikern wie Darrick Hamilton und Politikern wie Chokwe Antar Lumumba, dem Bürgermeister von Jackson in Mississippi, verschärfte Sanders seine Rhetorik, wenn es um die eklatanten Vermögensunterschiede zwischen Schwarzen und weißen Amerikanerinnen ging, und präsentierte umfangreiche Pläne diese rassifizierte Vermögenslücke zu schleißen. Seine Kampagne lenkte viele Ressourcen nach South Carolina – einem Bundesstaat mit hohem afroamerikanischem Bevölkerungsanteil, vor allem unter Demokratinnen –, und Sanders besuchte den Staat öfter als Joe Biden oder Elizabeth Warren. Und schließlich gab er öffentlich zu, dass sein Wahlkampf von 2016 »zu weiß« gewesen sei.
Nichts davon scheint einen messbaren Unterschied gemacht zu haben. In South Carolina, wo Sanders 2016 von afroamerikanischen Wählerinnen 14 Prozent der Stimmen bekam, erlangte er bei Nachwahlumfragen im Jahr 2020 17 Prozent. In den fünf Landkreisen des Staates, in denen der afroamerikanische Bevölkerungsanteil über 60 Prozent beträgt, erhöhte er sein Ergebnis von 11 auf 12 Prozent.
Am Super Tuesday und danach wurde es nicht besser. Im ländlichen Süden kam Sanders in mehrheitlich Schwarzen Landkreisen oft auf weniger als 15 Prozent. In einigen urbanen, afroamerikanischen Wahlbezirken verbesserte Sanders seine Ergebnisse gegenüber 2016 leicht und erreichte in einigen Fälle bis zu einem Drittel der Stimmen, in anderen Wahlkreise fiel Sanders jedoch weiter zurück. Alles in allem schlug ihn Biden dort genauso deutlich wie Clinton vier Jahre zuvor.
2016 hätte man optimistischerweise noch argumentieren können, dass Clintons Stärke unter Schwarzen Wählerinnen auf ihren Bekanntheitsgrad und ihre bessere Ressourcenausstattung zurückzuführen war, und dass sich Sanders zu stark auf die frühen Wahlen in den größtenteils weißen Bundesstaaten Iowa und New Hampshire konzentriert hatte. Die besten Umfragedaten zeigten, dass Bernies wichtigste Forderungen unter Schwarzen Wählern beliebt waren und enthusiastisch aufgenommen wurden. Mit einer besseren Message und mehr Aufwand beim Erreichen dieser Wählerinnengruppe wäre es wohl möglich, dass ein linker Herausforderer die »Firewall« des demokratischen Establishment bei Schwarzen durchbräche und gute Ergebnisse erzielen könnte.
Leider war Bernie nicht dieser Herausforderer, weder 2016 noch 2020. Nach Jahren des Misserfolgs müssen wir die Annahme in Frage stellen, dass bessere politische Kommunikation genug ist, um die politische Präferenz von Schwarzen Wählerinnen für Establishment-Demokraten zu überwinden. Sanders ist schließlich bei weitem nicht der einzige Linke, der bei dieser Gruppe Schwierigkeiten hatte.
Bei den Bürgermeisterwahlen von Chicago im Jahr 2015 schlug der Zentrist Rahm Emanuel den Linken Chuy García bei der Schwarzen Wählerschaft mit deutlichem Abstand. Dasselbe Muster konnte man bei den Gouverneursvorwahlen in Virginia, New Jersey, Michigan und New York beobachten, wo Schwarze Wählerinnen in ihrer überwältigenden Mehrheit die Zentristen Ralph Northam, Phil Murphy, Gretchen Whitmer, and Andrew Cuomo ihren linken Konkurrentinnen vorzogen. Bei den Staatsanwaltschaftswahlen in Queens letztes Jahr schlug die Zentristin Melinda Katz die Linke Tiffany Cabán, wenn auch knapp, vor allem dank Schwarzer Wähler im Süden des Bezirks.
Auch Schwarzen Anti-Establishment-Kandidatinnen ergeht es nicht besser. Jamaal Bowmans inspirierender Sieg über Eliot Engel war ein wichtiger Erfolg für die Linke, doch nur wenige Kandidaten haben das Glück, gegen einen so eklatant abgehobenen, weißen Gegner in einem afroamerikanisch geprägten Wahlkreis anzutreten. Meist gehen solche Rennen anders aus. Bei den Bürgermeisterwahlen in Atlanta schlug die wirtschaftsnahe Establishment-Kandidatin Keisha Lance Bottoms den von Bernie Sanders und Musiker Killer Mike unterstützten Vincent Fort deutlich. Bei Kongressvorwahlen von St. Louis bis Chicago scheiterten linke, Schwarze Herausforderer, weil sich afroamerikanische Wählerinnen in der großen Mehrzahl für Amtsinhaberinnen des Establishments entschieden.
Die Unterstützung, die Standard-Demokraten von Schwarzen Wählerinnen zuteil wird, ist fast schon kein Trend mehr, sondern ein fundamentaler Fakt der amerikanischen Politik. Erklärungsansätze, die sich auf die Person Bernie Sanders konzentrieren, greifen hier daher zu kurz.
Nach der Wahl von 2016 wurde der Ruf laut, Bernie möge dem Thema »Racial Justice« mehr Aufmerksamkeit widmen und Aktivistinnen, die sich damit befassen, auf seine Seite ziehen, um bei Schwarzen Wählerinnen besser anzusprechen. Doch im Rückblick auf 2020 lassen sich kaum Belege für diese These finden – das gilt für Sanders genauso wie für seine linksliberale Konkurrentin Elizabeth Warren. Warren wartete mit einem Wahlprogramm auf, in dem sie versprach, sich um die hohe Sterblichkeit unter Schwarzen Müttern zu kümmern sowie mehr Gelder für Schwarze Gründerinnen bereitzustellen und afroamerikanischen Landwirten durch gezielte Reformen zu helfen.
»Ärmere Schwarze aus der Arbeiterinnenklasse – wie die gesamte Arbeiterinnenklasse – bilden einen immer geringeren Anteil der demokratischen Wählerinnenkoalition.«
Diese Rhetorik fand bei Schwarzen Aktivistinnen Anklang, jedoch kaum bei Schwarzen Wählern: Laut Nachtwahlumfragen schnitt Warren bei Afroamerikanerinnen nicht nur schlechter als Biden und Sanders ab, sondern sogar noch schlechter als Bloomberg, und das in jedem einzelnen Bundesstaat, sogar in ihrem Wohnsitz Massachusetts.
Eine weitere, häufig geäußerte Ansicht ist, dass Schwarze Wählerinnen schlicht und einfach mehr Angst vor Donald Trump und den Republikanern haben und daher konventionelle, »wählbarere« Demokraten bevorzugen. Dieser Faktor hat sicherlich bei Bernies Niederlage von 2020 eine Rolle gespielt, doch es fehlen Belege dafür, dass dieser Mechanismus nicht genauso bei weißen Demokratinnen greift. Umfragen zufolge ist eher das Gegenteil der Fall. Angst vor einer Wahlniederlage gegen die Republikaner erklärt auch nicht, warum schwarze Wählerinnen bei den Vorwahlen im vierzehnten Kongresswahlbezirk von New York im Jahr 2018 für Joe Crowley anstatt für Alexandria Ocasio-Cortez stimmten oder weshalb sie bei den New Yorker Gourverneusvorwahlen Andrew Cuomo gegenüber Cynthia Nixon vorzogen. Dieser Erklärungsansatz gibt keinen Aufschluss darüber, warum Schwarze das Establishment generell auch bei Wahlen unterstützen, bei denen die Republikaner keinerlei Chancen auf einen Sieg haben.
Man kann das Phänomen auch nicht durch tatsächlichen ideologischen Konservatismus oder Vorbehalte gegenüber einer Politik der materiellen Umverteilung erklären. Denn Fakt ist, dass Schwarze Wählerinnen eine allgemeine gesetzliche Krankenversicherung zu einem höheren Prozentsatz befürworten als kaum eine andere demographische Gruppe im Land.
Es ist hingegen der institutionelle Konservatismus der meisten Schwarzen Amtsträgerinnen, der den Linken das Leben schwer macht. Einflussreiche Schwarze Politiker wie Jim Clyburn und Hakeem Jeffries unterstützen das Establishment, weil sie, wie es Perry Bacon ausdrückte, »selbst Teil des Establishments sind«. Der Congressional Black Caucus (ein Zusammenschluss Schwarzer Abgeordneter und Senatorinnen, dem gegenwärtig, im Gegensatz zur Vergangenheit, nur Demokraten angehören) versucht nicht erst, seine Feindseligkeit gegenüber linken Herausforderinnen zu verbergen, selbst wenn diese, wie Bowman oder McKayla Wilkes selbst Schwarze sind, die gegen weiße Zentristen wie Engel oder den Fraktionsvorsitzenden der Demokraten Steny Hoyer antreten.
Das Problem greift tiefer: Es ist schwierig, Schwarze Wählerinnen mit Opposition gegen ein Parteiestablishment für sich zu gewinnen, wenn die Hauptrepräsentationsfigur dieses Establishments immer noch Amerikas erster Schwarzer Präsident ist. Joe Bidens Kampagne hat gezeigt, dass es im Zeitalter von Obama es vielleicht einfacher ist, afroamerikanische Wählerinnen durch Appelle an institutionelle Kontinuität anstatt persönlicher Identität (wie Kamala Harrais lernen musste) oder politischer Ideologie zu überzeugen.
Wenn man 50 Jahre lang in einem politischen System überlebt hat, in dem materielle Verbesserungen fast unmöglich scheinen, und in dem Schwarze Politik – wie viele andere Bereiche der Politik – eine im Wesentlichen affektive Qualität angenommen hat, ist dieses Haltung mehr als verständlich. Schwarze bilden natürlich einen essentiellen Teil aller möglichen politischen Mehrheiten der Arbeiterinnenklasse. Doch solange alle institutionell einflussreichen afroamerikanischen politischen Persönlichkeiten mit Obamas Parteiführung verbunden sind und sich dazu verpflichtet fühlen, linke Herausforderinnen dieser Parteiführung zurückzuschlagen, werden es Anti-Establishment-Kandidatinnen bei Schwarzen Wählerinnen weiterhin schwer haben.
Falls sich die Linke in diesem Punkt Hoffnung machen darf, so besteht diese darin, dass die Unterstützung Schwarzer Wählerinnen für das Establishment eher verbissen als enthusiastisch wirkt – es handelt sich hier um eine relativ kleine Gruppe treuer Vorwählerinnen. Wenn man Kampagnen- und Presserhetorik einmal beiseitelässt, dann gab es für Joe Biden in dieser Wählergruppe keine überwältigende Unterstützung. Während der Vorwahlen im März, als die Wahlbeteiligung gegenüber 2016 deutlich stieg, nahm sie in Schwarzen Wahlbezirken im ganzen Land gleichzeitig ab.
In Michigan nahmen 2020 über 350.000 mehr Wählerinnen an den Vorwahlen der Demokraten teil als noch im Jahr 2016, doch die Wahlbeteiligung sank im ersten und zweiten Bezirk von Flint von 25 auf unter 21 Prozent. Ähnliche Rückgänge gegenüber 2016 gab es in Ferguson in Missouri, in North St. Louis, in Kashmere Gardens, Sunnyside und Crestmont Park in Houston, und im südöstlichen Durham, obwohl die Stimmenzahl auf Bundesstaatenebene in Missouri, Texas und North Carolina gleichzeitig deutlich zunahm.
Hier lässt sich ein Muster beobachten, dass sich bereits bei den Präsidentschaftswahlen von 2016 abzeichnete: Ärmere Schwarze aus der Arbeiterinnenklasse – wie die gesamte Arbeiterinnenklasse – bilden einen immer geringeren Anteil der demokratischen Wählerinnenkoalition.
Für Sanders ist dies ein schwacher Trost. Seine Wahlkampfstrategie basierte auf der Annahme, dass es möglich ist, die politische Partizipation der Arbeiterinnenklasse zu erhöhen. Doch die oben genannte Bilanz legt eher nahe, dass die Schwierigkeiten der Linken unter Afroamerikanerinnen ein Anzeichen einer generellen Schwäche bei Wählern aus der Arbeiterinnenklasse ist. Sanders Kampagne – sowohl was ihre bemerkenswerten Stärken als auch ihre letztendlich fatalen Schwachpunkte anbelangt – ist symptomatisch für dieses übergreifende Problem, das die Linke in vielen Teilen der entwickelten Welt heimsucht.
Vielleicht ist dies die zentrale Tatsache der transatlantischen politischen Realität der letzten 50 Jahre. Thomas Piketty beschreibt diese Problemlage in seinem Buch Kapital und Ideologie wie folgt: Seit den 1960er Jahren verloren Parteien links der Mitte in Europa und Nordamerika die Unterstützung der Arbeiterklasse, und verwandelten sich in eine »brahmanische Linke«, die vor allem von den Stimmen der Gebildeten abhängt. Konservative Parteien, denen es noch eher gelingt, mehr Stimmen aus der Arbeiterinnenklasse auf sich zu ziehen, stehen dennoch weiterhin größtenteils unter dem Einfluss der »merkantilen Rechten«.
Über die Gründe hierfür herrscht Uneinigkeit. Piketty, wie auch Autorinnen von Jacobin und andere Sozialistinnen, machen hierfür den globalisierten Kapitalismus, den Niedergang der Gewerkschaften und die zentristischen Hinwendung der Führungsriegen der Volksparteien verantwortlich. Viele Liberale – darin stimmen sie ironischerweise mit der »populistischen« Rechten überein – legen das Hauptaugenmerk hingegen auf den sich vertiefenden kulturellen Konservatismus ethnischer Mehrheiten innerhalb der Arbeiterinnenklasse.
Bernie Sanders mag sicherlich in seinem Versuch gescheitert sein, diesen globalen Trend über zwei Präsidentschaftswahlkämpfe umzukehren. Doch die Dynamiken dieses Scheiterns sind komplexer, als die meisten Analysen bis dato angeben.
Verglichen mit 2016 hatte Sanders 2020 Schwierigkeiten mit einer Gruppe, die von Kommentatoren gerne die »weiße Arbeiterklasse« genannt wird: Weiße ohne Universitätsabschluss. Gegen Hillary Clinton war Sanders bei dieser Gruppe stark, was ihm den Sieg in Bundesstaaten wie Indiana oder West Virginia einbrachte. Doch im Frühjahr 2020, wie viele Analystinnen betont haben, drehte Joe Biden den Spieß um und gewann in Landkreisen mit vielen Angehörigen der weißen Arbeiterinnenschicht.
Im Rückblick ist klar, dass Sanders’ Beliebtheit bei dieser Gruppe viel mit den besonderen Umständen von 2016 zu tun hatte: Caucuses [Anm. d. Ü.: Wahlversammlungen, wo statt einer Urnenwahl oder der Verwendung eines Wahlcomputers die Stimmabgabe per Gruppenbildung oder ähnlichen Verfahren stattfindet] mit niedriger Wahlbeteiligung ließen seine Beliebtheit in den ländlich geprägten Gegenden von Maine, Minnesota und Washington höher erscheinen, als sie tatsächlich war; wie damals von einigen bereits vermutet wurde spielte auch eine tiefe Abneigung gegenüber Hillary Clinton eine große Rolle, vor allem in konservativen Gegenden in den Appalachen, den Ozarks und den Great Plains.
Bernies Hauptgegner von 2020 hatte es auf diesem Terrain deutlich einfacher. Obwohl Bidens tatsächliche Karriere im Senat ganz der eines neoliberalen, wirtschaftsnahen Demokraten entspricht – er steht den Interessen der Arbeiterinnenklasse gleichgültig, wenn nicht gar feindselig gegenüber – so hat er durch eine Kombination von Alter, Verschmitztheit und gutmütiger Dämlichkeit eine Ausstrahlung, die nahezulegen scheint, er gehöre zu einer längst ausgestorbenen Art von New-Deal-Demokraten, die sich in Washington gut auskennen und doch für die Interessen der »kleinen Leute« kämpfen. Sanders Kampagne war sich von Beginn an darüber im Klaren, dass es schwierig werden würde, Biden in der Arbeiterinnenklasse zu übertrumpfen.
»Eine überwältigende Mehrheit der demokratischen Wählerschaft glaubt, dass Trump zu schlagen wichtiger ist, als alle anderen politischen Ziele zusammen.«
Den allerwichtigsten Unterschied zwischen den Vorwahlkämpfen von 2016 und 2020 machte aber der Amtsinhaber im Weißen Haus aus. Seit es die Vorwahlen in ihrer heutigen Form gibt, entscheiden sich Oppositionsparteien, die einen Kandidaten gegen einen zur Wiederwahl anstehenden Präsidenten suchen, fast immer für eine moderate und wählbare Option: Mitt Romney im Jahr 2012, John Kerry 2004, Bob Dole 1996, Bill Clinton 1992 und Walter Mondale 1984 passen alle in dieses Muster. (Die einzige Teilausnahme bildet hier Ronald Reagan, der allerdings gegen einen äußerst unbeliebten Jimmy Carter antrat, dem es noch nicht einmal gelang, sich den ernstzunehmenden Vorwahlkonkurrenten, Ted Kennedy, aus der eignen Partei vom Hals zu halten.) Scheinbar riskantere Kandidaten wie Donald Trump oder Barack Obama, die ein ambivalenteres Verhältnis zur bis dato etablierten Parteielite pflegen, haben eher bei Wahlen ohne Amtsinhaber auf dem Wahlzettel eine Chance.
Mit diesem Effekt haben Herausforderer bei Vorwahlen seit vierzig Jahren zu kämpfen, doch 2020 war er stärker als jemals zuvor, weil eine überwältigende Mehrheit der demokratischen Wählerschaft glaubt, dass Trump zu schlagen wichtiger ist, als alle anderen inhaltlichen politischen Ziele zusammen. Selbst 2004 äußerte weniger als die Hälfte der äußerst nervösen demokratischen Wählerschaft die Meinung, dass ein Sieg gegen George W. Bush von dieser übergeordneten Wichtigkeit sei.
Jeder Versuch, Bernies Niederlage dadurch zu erklären, weiße Arbeiterinnen hätten ihn verlassen, wird damit zu kämpfen haben, dass Sanders weiße Wählerinnen aller Schichten an Biden verlor – je reicher die Schicht, desto größer der Verlust, dazu später mehr. Wie Dustin Guastella argumentiert, hatte die Amtsinhaberschaft von Donald Trump generell den Effekt, die spezifischen Auswirkungen von Kampagnenstrategie und kultureller Ausrichtung zu überstrahlen.
In der Tat ist es einfach, Bernies Verluste unter der sogenannten »weißen Arbeiterklasse« hochzuspielen. In fast allen Bundesstaaten schnitt Sanders besser bei Weißen ohne Universitätsabschluss ab als bei solchen mit Hochschulbildung.
In Iowa, New Hampshire, Nevada, South Carolina, Kalifonien, Texas, Colorado und Vermont holte Sanders unter weißen Wählerinnen ohne Universitätsdiplom sogar gleich viele oder mehr Stimmen als Biden. Überall sonst lag Sanders bei weißen Männern der Arbeiterklasse noch viel deutlicher vorn; in allen oben genannten Staaten gewann er bei ihnen absolute Mehrheiten, zusätzlich noch in North Carolina, Tennessee, Maine und Washington. In Michigan und Missouri lag er bei weißen Männern ohne universitäre Bildung weniger als fünf Prozent hinter Biden – doch Biden gewann unter Frauen derselben Gruppe mit 17 beziehungsweise 30 Prozent Vorsprung.
Bernies besonders schwaches Abschneiden bei weiblichen Wählerinnen – denen eine Trump-Niederlage laut Umfragen viel wichtiger war als Männern – deutet weiter darauf hin, dass ein Rückgang bei der Unterstützung der weißen Arbeiterinnenklasse weniger mit kulturellen Fragen oder Ideologie zu tun hatte als mit deren Einschätzung über die Wählbarkeit der jeweiligen Kandidaten.
Eine ernsthafte Klassenanalyse der sich konstituierenden Sanders-Koalition darf eine weitere, sehr zahlreiche Wählerinnengruppe nicht auslassen, die Sanders 2020 für sich gewinnen konnte: die Latinos, die am schnellsten wachsende demographische Kategorie unter der Wählerschaft der Arbeiterinnenklasse in den USA. Im gesamten Südwesten, vom Tal des Rio Grande in Texas bis zum Central Valley in Kalifornien, holte Sanders in von Latinos dominierten Wahlbezirken überwältigende Mehrheiten, obwohl er dort vier Jahre zuvor gegen Hillary Clinton verloren hatte. Im von Latinos geprägten östlichen Los Angeles bis hin zur Northside in Houston bekam »Tío Bernie« oft mehr Stimmen als Biden, Bloomberg und Warren zusammen.
Dies war weder ein regionales Phänomen, noch auf mexikanisch-amerikanische Wählerinnen beschränkt. Sanders gewann auch puerto-ricanisch-amerikanische und dominikanisch-amerikanische Wählerinnen in Holyoke und Lawrence in Massachusetts. Auch im zentralen Los Angeles und im südwestlichen Houston, wo viele mittelamerikanische Einwanderer leben, erzielte Sanders starke Ergebnisse.
Dort überall hatte Sanders mit dem Gegenwind von Latinos der politischen Klasse zu kämpfen, die ihm kaum weniger feindselig gegenüberstanden als ihre afroamerikanischen Kolleginnen. Bis Anfang März gab es für Sanders nur zwei Endorsements aus dem Congressional Hispanic Caucus, für Biden hatten sich bis dato schon 14 Mitglieder ausgesprochen. Und doch: Biden fehlte ein Latino-Obama und die institutionelle Bindung zwischen Latino-Wählerinnen und der demokratischen Partei ist, wie wir dieses Jahr gelernt haben, möglicherweise relativ schwach.
Nur wenigen Latino-Politikerinnen gelang es, ihren Wahlkreis für Biden zu sichern. In den vier Kongresswahlbezirken in Südkalifornien, die von Lucille Roybal-Allard, Lou Correa, Tony Cárdenas, and Juan Vargas – allesamt Biden-Unterstützerinnen und Unterstützer – vertreten werden, erlangte Bernie überall absolute Mehrheiten.
Zahlenmäßig halten sich Bernies Gewinne bei den Latinos und seine Verluste bei weißen Arbeiterinnen wahrscheinlich die Waage. Die Tatsache, dass Sanders diese Gruppe vor allem für sich gewinnen konnte, indem er eine redistributive Agenda in den Fokus rückte, die Latino-Wählerinnen besonders wichtig ist, zeigt, dass Sanders Koalition von 2020 tatsächlich eher in der wirklichen Arbeiterinnenklasse der USA verwurzelt war, auch wenn sie in diesem Jahr kleiner ausfiel als noch 2016. Es ist also noch viel zu früh, um das Ende der Klassenpolitik innerhalb der Demokratischen Partei zu beweinen.
Doch zum Licht gehört auch Schatten: Sanders gewann unter Latinos zwar deutlich, jedoch ohne die Wahlbeteiligung insgesamt zu erhöhen. Im Wahlkreis von Roybal-Allard, der von der Arbeiterinnenklasse des südlichen Los Angeles geprägt ist, bekam Bernie 57 Prozent der Stimmen – sein erfolgreichster Wahlkreis im ganzen Land. Gleichzeitig nahmen hier fast 10.000 weniger Wählerinnen an den Vorwahlen Teil als noch im Jahr 2016. Ein ähnliches Bild zeigt sich in vielen Bernie-Hochburgen in Südkalifornien. Und auch im Tal des Rio Grande und in Houstons Bezirken, in denen Latinos die Mehrheit stellen, gewann Sanders deutlich, jedoch bei gleichbleibender oder sinkender Wahlbeteiligung.
Dies legt nahe, dass Sanders besonders unter den Latinos erfolgreich war, die 2016 noch für Clinton gestimmt hatten – was man durchaus als erstaunliche Errungenschaft werten darf. Es ist ihm jedoch nicht gelungen, neue Wählerinnen unter Latinos an die Urnen zu locken. Die andere Erklärung ist, dass Zugewinne an Neuwählerinnen unter Latinos durch gleichzeitige Verluste anderer Wählerinnen, die zu Hause blieben, wettgemacht wurden.
Einmal mehr zeigt sich hier das elementare Problem, vor dem jede linke Kampagne innerhalb der Demokratischen Partei steht: Die relative Abnahme der politischen Partizipation der Arbeiterinnenklasse – seien es nun Schwarze, Latinos oder Weiße.
In der Mainstream-Presse wurde die Niederlage von Michigan – das Waterloo der Kampagne von 2020 – der Tatsache zugeschrieben, dass die Arbeiterklasse, die ihm dort vier Jahre zuvor zum Sieg verholfen hatte, Sanders nun verlassen habe. Doch unter Wählerinnen in Michigan mit einem Jahreseinkommen unter 50.000 Dollar schlug er Joe Biden mit sieben Prozentpunkten Vorsprung – bei derselben Gruppe war er zuvor gegen Hillary Clinton mit nur drei Prozentpunkten in Führung gegangen.
Die Ursache für Sanders Niederlage liegt keinesfalls bei Wählerinnen mit kleinem Einkommen, deren Unterstützung in Michigan und anderswo solide war. Tödlich für Sanders Kampagne waren weder die Stimmen der Arbeiterinnen noch die der Mittelklasse, sondern vielmehr die der reichen Vorstädte.
In Wayne County in Detroit verlor Sanders mit etwa gleichem Abstand wie schon 2016. Im von der Mittelklasse bewohnten Macomb County, dem archetypischen Wohnort der »Reagan-Demokraten« und »Obama-Trump-Wechselwähler« zeigte er deutliche Schwächen und verlor er im Vergleich zu 2016 20.000 Stimmen. In den wohlhabenden Vorstädten mit hohem Bildungsgrad von Oakland County – dem reichsten Landkreis in Michigan – verlor Bernie sogar 50.000 Stimmen.
Es lohnt sich hier besonders, die Ergebnisse einzelner Wahlbezirke zu analysieren. Ein Blick auf drei kleinere Gebiete in Michigan offenbart ein klares Bild. In den zwei Bezirken der Arbeiterklasse im nordwestlichen Flint – darunter ein Viertel, das wegen Bleivergiftungen, die Kinder aufgrund defekter Wasserleitungen erlitten haben, traurige Berühmtheit erlangte – leben rund 90 Prozent Afroamerikanerinnen. Die nördlichen sieben Wahlbezirke von Bay City, nahe Saginaw, sind zu etwa 85 Prozent weiß, doch genau wie Flint leidet die Stadt unter den Folgen der Deindustrialisierung, besonders dem Niedergang von General Motors. Im reichen Birmingham im Landkreis Oakland County hingegen beträgt der Mittelwert eines Hauses stolze 488.000 Dollar und das Durchschnittseinkommen liegt mit 117.000 Dollar um ein fünffaches über dem von Bay City oder Flint.
Alle drei Gebiete sind demokratische Hochburgen und in allen drei Gebieten sind zwischen 16.900 und 18.100 Wählerinnen registriert. In den nordwestlichen Bezirken von Flint, wo die Wahlbeteiligung einbrach, bekam Biden 600 Stimmen weniger als Clinton 2016. Im nördlichen Teil von Bay City bekam Biden 300 Stimmen mehr als Clinton – gerade genug, um Sanders auf Stadtebene zu schlagen. Doch zwischen den hohen Zäunen und teuren Riesengaragen von Birmingham verbesserte sich Biden gegenüber Clinton um 2.300 Stimmen – mehr als genug, um Bernie weit hinter sich zu lassen.
Dieses Muster wiederholte sich in jedem Bundesstaat und Ballungsraum, wo auch immer eine Vorwahl stattfand. Von den Rentnerinnenkolonien an den Stränden von South Carolina bis zu den Anwesen von Contra Costa in Kalifornien stieg die Wahlbeteiligung bei dem demokratischen Vorwahlen am deutlichsten in reichen, suburbanen und weißen Gegenden an, was Bernie Sanders zu Lasten ging.
In North Carolina, wo die Wahlbeteiligung der Demokraten von den Sümpfen im Osten bis zu den Bergen im Westen des Bundesstaats zurückging, stieg sie in den reichen Vororten von Raleigh und Charlotte im Vergleich zu 2016 um 40 bis 50 Prozent an. In Missouri gingen sowohl in Ferguson wie in den Ozarks weniger Demokraten zur Vorwahl, doch in den Nobelvierteln von St. Louis kamen 50 Prozent mehr Wählerinnen an die Urnen. Und im wohlhabenden Fairfax County in Virginia – einem Landkreis, der wie kaum ein anderer für die suburbane Strategie der Demokratischen Partei des einundzwanzigsten Jahrhunderts einsteht – stieg die Wahlbeteiligung sogar um 70 Prozent, was Biden beinahe 100.000 zusätzliche Stimmen einbrachte.
Vielerorts wog das Gewicht neuer, suburbaner Wählerinnen so schwer, dass relativ kleine, aber wohlhabende Gemeinden einen stärkeren Einfluss auf das Wahlergebnis hatten als sehr viel größere Arbeiterstädte. In Massachusetts verlor Sanders in nur drei Nobelorten an der Südküste – Hingham, Duxbury und Norwell mit einer Gesamtbevölkerung von 51.753 Personen – mehr Stimmen an Biden und Bloomberg als im gesamten Hampden County, inklusive Springfield und seiner von der Arbeiterinnenklasse bewohnten Vororte, deren Einwohnerinnenzahl sich auf 466.372 beläuft.
Im Herbst 2019, als Elizabeth Warren in den Umfragen vorne lag, richtete sich der Fokus der Öffentlichkeit auf die sogenannten »Patagonia-Demokraten«: Reiche, linksliberale Wählerinnen in für die Demokraten sicheren Wahlkreisen, die von Warrens detailreichem Wahlprogramm angezogen wurden. Wie viele Unterstützer von Sanders war ich damals skeptisch, ob diese Wählerinnen der gebildeten Mittelklasse – ganz gleich, welche Angaben sie in Umfragen machten – wirklich als Basis für eine Agenda der Umverteilung taugen würden.
»Hier zeigt sich ein klares Muster: Je reicher und konservativer die Gemeinde, desto stärker der Anstieg der Wahlbeteiligung.«
Im Rückblick muss gesagt werden, dass sowohl Jacobin als auch Vox die wichtigste Wählerinnengruppe der Vorwahlen von 2020 übersehen haben. Es handelte sich dabei nämlich nicht um linksliberale à la Warren, sondern um eine sehr viel konservativere Gruppen reicher Vorstadtbewohner – enttäuschte Republikaner, die sich seit 2016 den Demokraten zugewandt haben. Im gesamten Sun Belt – von Arizona bis Virginia – wurde Joe Biden nicht nur von Patagonia-Demokraten, sondern auch von frisch geläuterten Chevron-, Raytheon- und Halliburton-Demokraten gewählt.
Nach der Wahl von 2016 wurde der »Never-Trump-Republican« zur Witzfigur der Linken – ein angebliches liberales Hirngespinst über eine Partei, in der Trump Zustimmungsraten von über 90 Prozent genoss. Konservative Wichtigtuer wie Jennifer Rubin und David Frum kritisierten den Präsidenten in ihren Kolumnen, die angeblich weniger Leserinnen als die entsprechenden
Redaktionen Mitarbeiterinnen hätten. Doch im Jahr 2020 wurden die konservativen »Never-Trump-Republicans« in den Medien geschickt zu »Moderaten« umdeklariert, ihr einstiges Werben für den Irakkrieg war auf einmal vergessen. In den kommerziellen liberalen Medien bekamen sie eine ungleich große Bühne, von der sie sich, wie sich herausstellte, nicht etwa an die verbleibenden Republikaner, sondern an die Parteiabtrünnigen in den Vororten der Swing States wandten, mit denen sie sowohl ihren kulturellen Snobismus gegenüber Trump also auch ihre materielle Abneigung gegenüber Sanders gemein hatten.
Obwohl die demokratische Wahlbeteiligung in den reichen Vorstädten überall zunahm, vom Silicon Valley bis zu den Vorstädten von Boston, zeigte sich ein klares Muster: Je reicher und konservativer die Gemeinde, desto stärker der Anstieg der Wahlbeteiligung. In Virginia wurde das reiche Fairfax County mit 70 Prozent Zuwachs nur noch vom benachbarten Loudon County – dem reichsten Landkreis in den USA – übertroffen, wo sich die Wahlbeteiligung bei den Demokraten gegenüber 2016 fast verdoppelte.
Einmal mehr ist das Bild umso bezeichnender, wenn man die Ergebnisse einzelner Wahlbezirke betrachtet. In der Metropolregion Houston gewann Biden am meisten in den reichen, traditionell republikanischen Vororten wie Bellaire und West University Place, die vom Republikaner Mitt Romney zur Demokratin Hillary Clinton übergewechselt waren, und die im Jahr 2018 die konservative Demokratin Lizzie Pannill Fletcher ins Repräsentantenhaus schickten. Die Vorwahlbeteiligung verdoppelte sich hier gegenüber 2016 und spiegelte wider, wie erfolgreich es den Demokraten gelungen war, diese Romney-Clinton-Wechselwählerinnen dauerhaft an sich zu binden.
Relativ gesehen kamen die größten Zuwächse nicht aus den Wahlbezirken von Houston, welche die Demokraten 2016 oder 2018 gewonnen hatten, sondern aus denen, die sie verloren. In den extrem wohlhabenden und konservativen Bezirken River Oaks, Afton Oaks und Tanglewood – der Nachbarschaft, in der Jeb und George W. Bush aufwuchsen und die vom Ölreichtum geprägt ist – verdreifachte sich die Wahlbeteiligung bei den Vorwahlen der Demokraten vielerorts, fast ausschließlich zugunsten von Biden oder Bloomberg.
Sicherlich haben einige dieser Wählerinnen nur deshalb dieses Mal ihr Kreuz bei den Demokraten gemacht, weil auf republikanischer Seite keine entsprechend spannende Vorwahl stattfand. Auch in dieser Hinsicht kam der Amtsinhaber Trump der Sanders-Kampagne teuer zu stehen. Falls Trump im November klar verlieren sollte, wird ein Teil dieser reichen Vorstädter wieder zu einer so gestraften Republikanischen Partei zurückkehren.
Die Mehrzahl von ihnen scheint allerdings die Absicht zu haben, Halliburton-Demokraten bleiben zu wollen. Der suburbane Anstieg der Wahlbeteiligung von 2020 fügt sich in ein langfristiges Bild ein: In Tanglewood, der Heimat der Familie Bush, gewannen die Demokraten bei den Wahlen von 2012 18 Prozent, 2016 aber bereits 30 und 2018 34 Prozent der Stimmen – einen Rekord, den sie aller Voraussicht nach dieses Jahr übertreffen werden.
In letzter Zeit haben die Demokraten versucht, sich als die Partei von George Floyd darzustellen, doch es ist wichtig festzuhalten, dass in River Oaks, in dem unter anderem Jeffrey Skilling, der ehemalige Chef der Skandalfirma Enron seinen Wohnsitz hat, mittlerweile mehr Stimmen für die Demokraten zusammenkommen als im dritten Bezirk, wo George Floyd geboren wurde und aufwuchs.
In den USA zumindest ist also der Unterschied zwischen Pikettys »brahmanischer Linken« und der »merkantilen Rechten« also alles andere als eindeutig, besonders am oberen Ende der Einkommensverteilung. Viele Handelsprinzen der Milliardärsklasse – vielleicht sogar die Mehrheit von ihnen, wenn man von einigen extraktiven Industriezweigen absieht – stehen den Demokraten bereits näher als den Republikanern, und die Vasallen ihrer Konzerne in den reichen Gegenden von Houston, Charlotte oder Grand Rapids ähneln ihnen darin zunehmend.
Es kann gut sein, dass es die Halliburton-Demokraten waren, welche die Wahlsaison 2020 für Bernie Sanders verhagelt haben. Mit einer lauten Medienstimme im Rücken und von den früh erfolgreichen Kandidatinnen umgarnt, bewirkten sie, dass die Demokraten nach der Vorwahl einen neokonservativen Schwenk machten. Und es ist unwahrscheinlich, dass sie die demokratische Koalition auf absehbare Zeit verlassen werden.
Sicher kann man aus Sanders Kampagne von 2020 einige taktische Lehren ziehen, sowohl was die Erfolge, als auch die Misserfolge angeht. Doch die Hauptfaktoren, die Sanders den Sieg kosteten – also die Präferenz von Schwarzen Wählerinnen für Kandidatinnen des Establishments und die abnehmende Wahlbeteiligung von Demokraten der Arbeiterklasse bei gleichzeitigem Massenzulauf reicher Vorstädter – lagen alle bereits vor Sanders Kandidatur vor, und werden sie wohl auch überdauern.
Was wir also in diesen fünf Jahren gelernt haben ist, dass nationale Präsidentschaftswahlkämpfe diese Trends nicht alleine aufhalten oder umkehren können.
Demokratischer Sozialismus von Stil Sanders hat in den USA noch nie Mehrheiten gewonnen, weder innerhalb noch außerhalb der Demokratischen Partei. Noch keine Mehrheit zu haben ist jedoch keine gute Ausrede dafür, keine aufzubauen. Und obwohl Sanders Koalition von 2020 noch nicht bereit zum Sieg war, heißt das nicht, dass sein fünfjähriger Kampf für sozialdemokratische Reformen uns nicht auf einen Weg zu einer Mehrheit innerhalb des nächsten Jahrzehnts geführt hat.
In beiden Wahlkämpfen gewann Sanders junge Wählerinnen mit historischem Abstand, nicht durch Stil oder Charisma, sondern mit dem vielleicht unverhohlen ideologischsten Wahlprogramm in der Geschichte der demokratischen Vorwahlen. Seine fünfjährige Kampagne spiegelte die Weltsicht einer ganzen Generation junger Wählerinnen wider, und verstärkte und fokussierte sie. Damit schuf er eine neue, belastbare Verbindung zwischen den materiellen Umständen von Amerikanerinnen unter 45 und seiner Vision einer »Sozialdemokratie des Klassenkampfs«.
Wenn es um eine linke Strategie der 2020er Jahre geht, ist Bernies Dominanz bei der jüngeren Wählerschaft, wie Jacobin-Autor Connor Kilpatrick argumentiert hat, vor allem aus zwei Gründen relevant:. Erstens mag eine Skepsis gegenüber einer »Generationenpolitik« zwar durchaus angebracht sein, dennoch gibt es einfach keine historische Parallele für einen derart deutlichen Sieg eines hochideologischen Kandidaten bei jüngeren Wählerinnen – dies trifft weder auf George McGovern, und schon gar nicht auf Barack Obama zu, dessen Unterstützungsniveau in dieser Gruppe viel geringer und weniger gleichmäßig verteilt war. Im Jahr 2008 gewann Obama die Vorwahl gegen Hillary Clinton in Kalifornien bei den unter 30-Jährigen mit fünf Prozentpunkten Vorsprung, in Texas mit 20. Dieses Jahr, in einem Rennen mit sehr viel mehr Kandidatinnen, gewann Bernie diese Gruppe in beiden Staaten mit mehr als 50 Punkten Vorsprung.
In beiden Kampagnen überzeugte Sanders junge Weiße, junge Schwarze und junge Latinos – bei letzteren holte er einen schier unglaublichen Vorsprung von 84 Prozentpunkten in Staaten wie Kalifornien. Es ist zudem auch wahrscheinlich, dass er junge Asiaten, junge Muslime und junge Native Americans mit ähnlichem Abstand und Enthusiasmus für sich gewinnen konnte.
»Bei jungen Städterinnen und Städtern mit niedrigem Einkommen war Sanders landesweit stark. Sie bildeten das Herzstück seines Bündnisses.«
Auch war er nicht nur bei frischgebackenen Absolventinnen beliebt: Über die ganzen fünf Jahre war er bei Wählerinnen im mittleren Alter bis in die 40er beliebt. In den 20 Staaten, in denen Nachwahlumfragen durchgeführt wurden, gewann Sanders in 16 von ihnen mehr Stimmen bei den Wählerinnen unter 45 als alle »moderaten« Demokraten – Biden, Bloomberg, Buttigieg und Klobuchar – zusammen.
In Missouri und Michigan gewann er bei den unter 45-Jährigen mit absoluter Mehrheit. Und in anderen wichtigen Staaten wie Texas, Massachusetts und Minnesota, wo er die Vorwahlen verlor, gewann er Wählerinnen unter 50 mit zweistelligem Abstand.
Wie allgemein bekannt ist, war die Wahlbeteiligung unter jüngeren nicht hoch genug, um Sanders am Super Tuesday und darüber hinaus zu retten. Doch die in den Medien weit verbreitete Behauptung, die Wahlbeteiligung junger Wähler hätte generell abgenommen, basierte auf fehlerhaften Nachtwahlumfragen von 2016, deren Methodologie seither signifikant gerändert wurde, weshalb sich die Daten nicht direkt vergleichen lassen.
Im Kontext der tatsächlich gestiegenen Wahlbeteiligung kann es als fast sicher gelten, dass die Wahlbeteiligung jüngerer Wählerinnen 2020 ebenfalls zunahm. In South Carolina, wo staatliche Stellen Zahlen dazu veröffentlicht haben, gab es unter den unter 45-Jährigen mehr als 40.000 neue Wählerinnen bei den demokratischen Vorwahlen in diesem Jahr. Obwohl sie den älteren, reicheren Halliburton-Demokraten zahlenmäßig unterlegen waren, unterstützten sie Bernie dennoch massenhaft und ermöglichten es ihm, seine Koalition geographisch umzugestalten.
Obwohl Sanders in vielen ländlichen Gegenden Probleme hatte, die er vier Jahre zuvor gewonnen hatte, machte sein starkes abschneiden in den Städten diese Verluste wett. Hier war er besonders bei einer jüngeren, ethnisch diversen Wählerschaft in ärmeren Stadtteilen populär, die von 2016 auf 2020 tatsächlich anwuchs. Mit jüngeren Latinos auf seiner Seite räumte Bernie in den Barrios des östlichen Los Angeles ab und gewann riesige Mehrheiten in den durchmischten, von Einwanderern geprägten Bezirken von San Diego, Denver, Seattle und Las Vegas.
Bei jungen Städterinnen mit niedrigem Einkommen war Sanders landesweit stark. Im mehrheitlich nichtweißen neunten Bezirk von Minneapolis, wo George Floyd ermordet wurde, bekam Bernie eine absolute Mehrheit. In kleineren Städten im Nordosten und Mittleren Westen bekam er ähnlich gute, wenn nicht sogar bessere Ergebnisse als im Jahr 2016 – jüngere, urbane Wählerinnen hielten bei frühen und späteren Vorwahlen zu ihm, von Portland in Maine bis Duluth in Minnesota.
Die urbane Koalition war für Sanders keine Sache Latte-schlürfender, gentrifizierender, linker Masterstudentinnen, obwohl es von Kritikern gerne so dargestellt wird. Vielmehr erstreckte sich diese Koalition durch Arbeiterstädte wie Manchester in New Hampshire und Brownsville in Texas. Eine sehr viel breitere Gruppe junger und überdurchschnittlich urbaner Wählerinnen, die weniger Geld verdient und sehr viel weniger Vermögen besitzt als die Gesamtwählerinnenschaft der Demokraten, bildeten das Herzstück seines Bündnisses.
Während sich auf der ganzen Welt, von Norwegen bis Neuseeland, die Linke brahmanisierte, hat sich der Anspruch und Horizont ihrer Politik verschoben. Die Linke verlor ihr Interesse an transformativer Umverteilung – ein Versprechen, dass sie zunehmend sowieso nicht mehr halten konnte. Im Zuge dessen wandte sie sich Themengebieten wie dem Umweltschutz oder der kulturellen Repräsentation zu.
Sozialisten wie Bernie Sanders verstehen, dass nur wenige dieser Kämpfe für mehr Gerechtigkeit dauerhaft gewonnen werden können, ohne dass gleichzeitig eine Macht- und Ressourcenverschiebung in großem Stil zugunsten einer zum Sieg entschlossenen Arbeiterinnenklasse stattfindet.
Für sich genommen war Bernies fünfjähriger Kampf nicht erfolgreich darin, die Klassenpolitik des 20. Jahrhunderts wiederzubeleben. Doch wenn es eine Hoffnung auf die Wiederkehr des Wahlbündnisses gibt, dass jede größere sozialdemokratische Reform der Geschichte bewirkte – nämlich eine diverse Koalition der Arbeiterinnenklasse rund um unbedingte Forderungen nach Umverteilung –, so ruht sie auf der Kohorte von Sanders-Wählerinnen unter 45.
Nicht nur unterstützen zwei Drittel oder mehr dieser jüngeren, ärmeren Amerikanerinnen eine allgemeine gesetzliche Krankenversicherung, Vermögenssteuern und andere signifikante Reformen. Über zwei Vorwahlkämpfe hat sich auch gezeigt, dass diese fundamentalen redistributiven Überzeugungen ihre Wahlentscheidungen bestimmen. Dies ist noch keine sozialistische Mehrheit, doch vielleicht die embryonale Form einer solchen.
Trotz des Alterungsprozess der US-Bevölkerung wächst diese Mehrheit von Jahr zu Jahr und innerhalb jeder demographischen Gruppe. Und der allgemeinen Annahme zum Trotz, die behauptet, Wählerinnen würden im Alter immer konservativer werden, besagt die Forschung, dass ideologische Präferenzen biographisch gesehen ziemlich stabil sind. Ältere Millennials, die von einem zunehmend ungleichen Wirtschaftsgeschehen weiterhin ausgeschlossen sind, scheinen sich keinesfalls nach rechts zu bewegen. Die absolute Mehrheit, die heute eine gesetzliche Krankenkasse für alle will, wird dasselbe sicher auch morgen noch wollen.
Auch wenn Bernie nicht der Abraham Lincoln der Linken des 21. Jahrhunderts werden sollte und keine politische Revolution unter eigener Flagge gewann, so ist er vielleicht unser John Quincy Adams, der »eloquente alte Mann«, dessen leidenschaftliche Breitseiten gegen die Macht der Sklavenhalter in den 1830er und 1840er Jahren die Radikalen inspirierten, die sie eine Generation später zu Fall bringen sollte.
Im kommenden Jahrzehnt wird diese embryonale Mehrheit mindestens zwei ernsthafte Herausforderungen stemmen müssen. Zuerst muss sie ihren Hauptgegner innerhalb der demokratischen Vorwählerinnenschaft besiegen: Die ältere, wohlhabendere und wachsende Koalition der Fairfax- und Halliburton-Demokraten, um deren Stimmen die Parteiführung mit patriotischer Rhetorik und dem Versprechen von Steuersenkungen wirbt.
»Ein Fokus auf linksliberale Wahlkreise an den Küsten riskiert auf längere Sicht, dass die Linke von den fundamentalen Fragen der materiellen Umverteilung abgelenkt wird.«
Auf kurze Sicht ist hierbei der aussichtsreichste Angriffswinkel die zahlreichen hauptsächlich urbanen Wahlkreise, von Los Angeles und Denver bis San Antonio, wo jüngere Wählerinnen dominieren und wo Sanders absolute Mehrheiten holte. Die jüngsten Siege linker Herausforderinnen in Philadelphia, Pittsburgh, Washington D. C. und New York legen nahe, dass es im Nordosten ebenfalls noch viel urbanen Raum für eine demokratisch-sozialistische Politik gibt.
Doch auch in naher Zukunft werden die jüngeren urbanen Wahlkreise für die Sanders-Linke nicht ausreichen, um sich eine fraktionsinterne Mehrheit gegenüber den Fairfax-Demokraten zu verschaffen – und schon gar nicht, um nennenswerte Macht über die Budgets der Bundesstaaten oder im Kongress auszuüben.
Ein messerscharfer Fokus auf linksliberale urbane Wahlkreise an den Küsten – also eine elektorale Strategie, die den brahmanischen Progressiven überallhin folgt, wohin sie gehen – riskiert auf längere Sicht, dass die Linke von den fundamentalen Fragen der Klassenmacht und der materiellen Umverteilung abgelenkt wird.
Für einige brahmanische Aktivistinnen liegt genau hier der entscheidende Punkt: Sie behaupten, rückwärtsgewandter Fokus auf Klassenfragen hielte die Linke davon ab, zu erkennen, dass ihre natürliche Basis aus gut ausgebildeten Vorstädtern bestünde, die in kulturellen Fragen bereits liberal denken. »Ich kann mir viel eher jemand nehmen, der sich ernsthaft über das Patriarchat Gedanken macht, und kann dieser Person erklären, wie Patriarchat und Kapitalismus zusammenhängen«, argumentiert etwa der Aktivist Sean McElwee. Es hingegen viel schwieriger »jemandem, der wütend ist, dass General Motors seine Stelle gestrichen hat, den Sozialismus nahezubringen«. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist die abnehmende politische Partizipation der Arbeiterinnenklasse eine gute Sache, wenn sie dazu führt, dass mehr republikanische Wahlkreise den Demokraten zufallen.
Sanders hatte aber eine andere Theorie und seine Kampagne versammelten eine andere Koalition, in der sich jüngere, ärmere Wählerinnen von Brownsville bis Duluth wiederfanden. 2020 war diese Koalition nicht groß genug, um die demokratischen Vorwahlen zu gewinnen. Und nein, Sanders ist es nicht gelungen, die Geschichte auf den Kopf zu stellen und das riesige Reservoir entfremdeter, apolitischer Arbeiterinnen zurück an die Vorwahlurnen zu führen.
Doch im Jahr 2032 werden Bernies Wählerinnen unter 50 vielleicht eine Mehrheit, ganz sicher aber einen signifikanten Block bei den Vorwahlen bilden. Welcher Art von Linken werden sie begegnen? Wird es eine progressive Bewegung sein, die mit dem Sanders-Projekt ganz und gar abgeschlossen hat und deren Prioritäten durch den Diskurs auf den Sozialen Medien, durch von Milliardären finanzierte NGOs und durch eine freundliche Beziehung zur wirtschaftsnahen demokratischen Partei bestimmt ist?
Oder wird es eine politische Linke sein, die Sanders, um es in den Worten von Lincoln in Gettysburg zu sagen, »so weit und so edelmütig vorangebracht« hat? Eine Linke, die fest in der Klassenpolitik verankert ist und sich an der Mehrheitsbildung für die materielle Umverteilung – für universelle Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeitsplätze und der Unterstützung aller Familien, bezahlt von den Reichen – orientiert? Die Zukunft bleibt umgeschrieben.
Matt Karp ist Professor für Geschichte an der Princeton University und Contributing Editor bei Jacobin.