30. April 2020
Mit dem Ende der Sanders-Kandidatur wird der Weg zum demokratischen Sozialismus länger und steiniger. Doch seine Kampagnen zeigten, dass linke Politik massentauglich ist.
Bernie Sanders bei einer Wahlkampfveranstaltung in Phoenix, Arizona.
Wir beginnen heute mit einer politischen Revolution, die unser Land wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und ökologisch transformieren wird. Heute sagen wir laut und klar: Genug ist genug. Diese großartige Nation und ihre Regierung gehören dem ganzen Volk, nicht nur einer Handvoll Milliardären.«
Mit dieser Ansage begann Bernie Sanders heute vor fünf Jahren, am 30. April 2015, seine erste Kampagne für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten. In den folgenden Jahren zogen seine Rallys und Reden ein Publikum von Zehntausenden an, Hunderttausende organisierten sich in seinem dezentral organisierten Wahlkampf, Millionen wurden von seinem Ruf nach einem demokratischen Sozialismus elektrisiert, der die Interessen der arbeitenden Menschen ins Zentrum stellt. Knapp fünf Jahre später, am 9. April 2020, erklärte Sanders die Kampagne in einer Videobotschaft für »ausgesetzt«. Wenige Tage später kündigt er seine Unterstützung für Joe Biden an, und rief seine Anhänger dazu auf, ihm zu folgen.
Es war ein bitteres Ende. Knappe sechs Wochen zuvor sah es noch so aus, als würde der alte Sozi aus Vermont seine neoliberalen Kontrahenten ausstechen und entgegen allen Erwartungen Kandidat der Demokraten werden. Sollte dies geschehen, deutete so gut wie alles darauf hin, dass er Donald Trump hätte schlagen und ins Weiße Haus einziehen können – ein politischer Quantensprung für eine US-Linke, die seit Jahrzehnten ein Schattendasein fristete. Stattdessen plädiert Sanders jetzt dafür, einen Politiker des Establishments zu unterstützen, der für alles steht, gegen das er selbst sein Leben lang gekämpft hat.
Man sollte nicht versuchen, das Ergebnis schön zu reden: Bernie Sanders hat verloren, und damit haben auch wir – die Kräfte des gesellschaftlichen Fortschritts weltweit – verloren. Trotz der rhetorischen Zugeständnisse seiner Gegner bleibt die Demokratische Partei fest in den Händen der Oligarchen und Machtmenschen, die Sanders von Anfang an mit allen Mitteln bekämpften. Die riesige Kampagneninfrastruktur, die er aufbaute, wird vermutlich demontiert oder an die Demokraten weitergereicht. Diese wiederum schicken nun Joe Biden gegen Trump ins Rennen, ein ehemaliger Vize-Präsident, der fast nichts anzubieten hat, als dass er nicht Donald Trump heißt und mit Barack Obama befreundet ist. Bernie Sanders »politische Revolution« ist fürs Erste vorbei.
Sanders Kritiker wollen es nun schon immer gewusst haben: er war zu »populistisch«, zu fokussiert auf den Klassengegensatz, zu wütend und nicht vereinnahmend genug. Oder ganz im Gegenteil: er war zu sozialdemokratisch, zu sehr an der Demokratischen Partei orientiert, ein »sheepdog« (Hirtenhund), dessen wahre Funktion immer nur war, aufrechte Sozialistinnen in die Partei zu verführen und ihre linke Flanke abzusichern für den Kandidaten des Establishments, der früher oder später ohnehin das Feld räumen würde. Nun, da Sanders gescheitert ist, fühlen sich beide Seiten vermutlich bestätigt.
»Was Sanders – und vor ihm Jeremy Corbyn – uns hinterlassen, ist ein Blick dafür, was in Zukunft möglich ist«
Sicherlich haben Sanders und seine Beraterinnen und Berater Fehler begangen. Doch zunächst muss festgehalten werden, dass er zwar die Wahl verlor, aber auch fast gewann. Bis kurz vor dem sogenannten Super Tuesday, einem Bündel von Vorwahlen in zentralen Bundesstaaten, schien alles möglich. Über Nacht zogen im Vorfeld dieses Wahltags die Zentristen Amy Klobuchar und Pete Buttigieg ihre Kandidaturen zurück, das Partei-Establishment schloss (wohl auf Betreiben von Obama selbst) die Reihen hinter Biden.
Sanders hatte zuvor alle drei ersten Vorwahlen gewonnen, ein Erfolg, der bislang noch keinem Präsidentschaftskandidaten gelungen war. Sanders Forderungen – eine öffentliche Krankenkasse für alle, die Abschaffung der Studiengebühren und die Streichung von bildungsbezogener Schulden sowie ein sozial-ökologischer »Green New Deal« – bestimmten die politische Agenda und trieben Sanders Gegner vor ihm her. Er bekam Unterstützung aus allen Schichten der Gesellschaft, besonders deutlich aber von jungen Menschen und Arbeiterinnen und Arbeitern mit geringem Einkommen. Seine Anhängerschaft war leidenschaftlich, motiviert und bereit, abertausende Stunden freiwilliger Arbeit in den Wahlkampf zu stecken. Joe Biden hatte in vielen Staaten, deren Vorwahlen er später gewann, nicht mal ein Büro aufgemacht.
Dank Sanders Armee junger Wahlkämpfer schien sein demokratischer Sozialismus mehrheitsfähig zu werden. Und es brauchte einen beeindruckenden Kraftakt seitens des Parteiapparats, ihn aus dem Rennen zu werfen. Aber wen sollte das überraschen? Es war nicht zu erwarten, dass die mächtigste herrschende Klasse auf der ganzen Welt einfach wegschauen würde, während das höchste politische Amt im Land von einem ihrer erklärten Gegner übernommen wird. Wahrscheinlich war es etwas naiv zu glauben, dass es in der jetzigen Konstellation anders hätte kommen können.
Doch was Sanders – und vor ihm Jeremy Corbyn – uns hinterlassen, ist ein Blick dafür, was in Zukunft möglich ist: eine linke Massenbewegung, die den herrschenden Konsens entschieden herausfordert, abertausende Menschen politisiert und damit beginnt, die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten zu verschieben. Das Ringen um Wahlmandate und Mehrheiten im Parlament kann natürlich nur ein Teil dieser Bewegung sein. Aber wenn die letzten Jahre uns irgendetwas gelehrt haben, dann, dass diese Arena eine besonders günstige Plattform bietet, um Massen von Menschen mit unseren Ideen vertraut zu machen. Sanders Abdanken darf nicht das Ende dieses Projekts sein, sondern muss uns dazu anspornen, diese Kämpfe in Zukunft nur noch klüger auszufechten.
Weder Sanders noch Corbyn gingen wirklich mächtige sozialen Bewegungen voraus. Obwohl die Jahre zuvor diverse Proteste hervorbrachten (Occupy Wall Street, Black Lives Matter, die Studentenstreiks in Großbritannien und so weiter), gelang es ihnen nicht, aus der unmittelbaren Wut eine dauerhafte Organisierung herbei zu zaubern. Die Bewegungen schufen neue Kollektive und Kleingruppen, Vernetzungen, Blogs und Zeitschriften, aber diese blieben im Wesentlichen beschränkt auf Milieus in den urbanen Zentren und an den Universitäten. In der Fläche, geschweige denn in der großen Politik, war von einer Radikalisierung nichts zu spüren.
Erst mit der Sanders-Kampagne fand die weit verbreitete Frustration in der US-amerikanischen Gesellschaft einen organisierten fortschrittlichen Ausdruck. Wie Corbyn für Großbritannien, zeigte die Sanders-Kampagne für die USA was Umfragen seit Langem bestätigten: es gibt Mehrheiten oder zumindest signifikante Minderheiten, die eine linke Wirtschafts- und Sozialpolitik befürworten – sofern sie mit einer plausiblen Durchsetzungsperspektive verbunden ist. Besonders junge Menschen lassen sich massenhaft für eine solche Politik mobilisieren.
2016 sammelte Sanders bei den Vorwahlen fast 17 Millionen Stimmen ein. Umfragen zufolge erhält seine Forderung nach einer einheitlichen öffentlichen Krankenkasse für alle Zustimmungswerte von über 60 Prozent. Auch im Dezember letzten Jahres, als die britische Labour-Partei eine herbe Niederlage einfuhr, stimmten immerhin über 10 Millionen Menschen für einen wirklich radikalen Katalog an Forderungen zur Umordnung der Wirtschaft; zwei Jahre zuvor taten dies fast 13 Millionen.
Diese Dynamik war es, die beide Kampagnen für fortschrittliche Menschen weltweit so spannend machte: nach vierzig Jahren, die überwiegend von Niederlagen und zunehmender Marginalisierung geprägt waren, gelang es binnen weniger Jahre zweimal, die große politische Bühne von links zu stürmen und Millionen Menschen ein populäres, sozialistisches Programm zu präsentieren. Eine Zeit lang sah es gar so aus, als würden wir gewinnen.
»So müssen unsere Forderungen und Strategien vielleicht andere sein als die von Sanders. Doch was wir von den Amis lernen können, ist, wie die Linke sich politisch an breiten Massen orientieren kann und wie wir unser Auftreten und unsere Sprache entsprechend ausrichten.«
Dass Sanders »Sozialismus« in vielerlei Hinsicht beschränkt war: geschenkt. Das Wertvolle an seiner Kampagne waren weniger die Einzelheiten des Programms als das wiederentdeckte Klassenbewusstsein, das er in die Debatte einführte, und die beispiellose Mobilisierung, die er damit entfachte. Wie Nivedita Majumdar vor kurzem im US-amerikanischen Jacobin schrieb, propagierte Sanders Kampagne »statt einer Politik der Identität… eine Politik der Identifikation – kämpfe für jemanden, den Du nicht kennst«. Millionen US-Bürger entdeckten durch Sanders, dass sie nicht alleine sind mit ihren Leiden und wirtschaftlichen Existenzängsten, und fingen an, zusammen etwas dagegen zu unternehmen. Hoffentlich werden viele von ihnen dies auch weiterhin tun.
In den letzten fünf Jahren hat die sozialistische Linke in den USA ein Wachstum erfahren, das vor Sanders schlicht undenkbar war. Dieses Wachstum kommt überwiegend den Democratic Socialists of America (DSA) zugute, aber auch kleineren Gruppen und Gewerkschaften. Zum ersten Mal seit den 1940er Jahren existiert eine reale Chance auf eine sozialistische Bewegung mit einer Basis in der Arbeiterbewegung. Sie ist fragil, und es gibt keine Garantie, dass sie die nächsten Jahre überstehen wird – aber es gibt sie. Diese Tatsache ist überwiegend den Sanders-Kampagnen zu verdanken.
Auf unserer Seite des Atlantik, könnte man meinen, stehen wir etwas besser da: In den meisten Ländern Europas gibt es bereits (bzw. noch) sozialistische Parteien mit zehntausenden Anhängern und respektablen Wahlergebnissen. Wir kämpfen eher für den Erhalt und Ausbau statt für die Einführung öffentlicher Daseinsvorsorge und guter Arbeitsstandards. Auch die Wahlsysteme sind anders, und erschweren die einfache Zuspitzung auf eine Partei oder Kandidaten. All das macht eine einfache Übertragung schwer.
So müssen unsere Forderungen und Strategien vielleicht andere sein als die von Sanders. Doch was wir von den Amis lernen können, ist, wie die Linke sich politisch an breiten Massen orientieren kann und wie wir unser Auftreten und unsere Sprache entsprechend ausrichten. Auch in der Frage, wie man politische Botschaften unterhaltsam und attraktiv über soziale Medien kommuniziert, können wir uns viel von ihnen abschauen.
All das ersetzt keine massenhafte Organisierung auf den Straßen und in den Betrieben, aber gute Kommunikation gibt der Organisierung politische Kohärenz und macht sie zugänglicher und verständlicher für die große Mehrheit der Gesellschaft, die noch nicht das Glück hatte, mit dem sozialistischen Versprechen in Berührung gekommen zu sein. Sanders begriff das, und betrieb meisterhafte politische Kommunikation auf allen Ebenen.
Ein weiterer Punkt, den Corbyn und Sanders gemeinsam haben, und aus dem Linke weltweit lernen können, ist die Rücksichtslosigkeit, mit der ihre Gegner sie bekämpften. Während viele selbsterklärte Sozialistinnen skeptisch blieben, inwiefern die beiden Kandidaten wirklich eine Bedrohung für den Kapitalismus darstellten, war dies den Eliten offenbar von Anfang an klar. Und sie handelten entsprechend. Sowohl inner- als auch außerhalb ihrer eigenen Parteien befanden sich sowohl Corbyn als auch Sanders pausenlos von Feinden umringt.
Sanders wurde systematisch von den Medien angegriffen, diffamiert und lächerlich gemacht. 2016 wurde er zuerst ignoriert, später von der eigenen Partei sabotiert. Vier Jahre später, als seine Popularität es unmöglich machte, ihn totzuschweigen, wurde ihm Sexismus und Rassismus vorgeworfen – seine Popularität unter der arbeitenden Bevölkerung auf perverse Weise umgedreht und zum Zeichen eines kulturellen Konservatismus erklärt. Die unscharfen Aufnahmen eines singenden Kleinstadt-Bürgermeisters Sanders auf Freundschaftsreise in der späten Sowjetunion wurden von Republikanern und Demokraten gleichermaßen zu Anzeichen heimlicher autoritärer Neigungen stilisiert. Dass Sanders einer der mit Abstand beliebtesten Politiker des Landes war und regelmäßig den ersten oder zweiten Platz in Umfragen einnahm, blieb meistens unerwähnt.
Jeremy Corbyn erwischte es vielleicht sogar noch fieser. Seit einer Reihe von Leaks vor zwei Wochen wissen wir, wie hart sein eigener Parteiapparat gegen ihn arbeitete. Corbyn-Gegner in der Parteizentrale schmiedeten Komplotte gegen ihn und seine Verbündeten, etwa Diane Abbott, Mitglied von Corbyns Schattenkabinett und erste schwarze Frau im britischen Parlament. Sie arbeiteten mit Labour-feindlichen Medien zusammen um das Image der Parteiführung zu beschädigen und Corbyns Wahlkampf zu untergraben, und kauften sogar gezielte Facebook-Werbung, die sich nur an die Parteiführung und deren inneren Kreis richtete, um sie zu täuschen.
Ob die beiden erfolgreicher gewesen wären, wenn sie konsequenter gegen ihre innerparteilichen politischen Feinde vorgegangen wären, lässt sich schwer sagen. Doch ein bisschen härter hätte ihr Tonfall schon sein können. Corbyn verzichtete komplett auf persönliche Angriffe, sowohl in den eigenen Reihen als auch – tragischerweise – wenn es um seine Kontrahenten außerhalb der Partei ging. Er fokussierte sich ganz auf sein eigenes Programm und die Gesellschaftsvision, die seine Politik verkörpern wollte. Auch Sanders kritisierte seine Gegenkandidatinnen zwar teils scharf, hielt aber letztendlich die Tür für eine künftige Zusammenarbeit immer offen. Beide Entscheidungen, obwohl taktisch nachvollziehbar, erschwerten an entscheidenden Punkten die notwendige politische Zuspitzung.
Mit Sanders und Corbyn im Rennen konnten wir für eine kurze Zeit darauf hoffen, in zwei mächtigen Kernländern die Staatsmaschinerie zu übernehmen und die Weichen zu stellen für eine sozial-ökologische Wende und den Übergang in eine gerechtere, nachhaltigere Wirtschaftsordnung. Auch wenn beide gewonnen hätten, wären wir von einem sozialistischen Umbau der Gesellschaft natürlich noch weit entfernt gewesen. Aber wir hätten wesentlich bessere Chancen gehabt, das Schlimmste im Hier und Jetzt abzumildern und zu zeigen, dass linke Politik mehr sein kann als hilfloser Protest.
Diese Hoffnungen sind nun gescheitert. Eine gewisse Demoralisierung ist zu erwarten und auch durchaus verständlich. Doch wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, wie weit es Sanders geschafft hat, und was er hinterlässt. Ausgerechnet in den USA gibt es wieder eine sozialistische Bewegung mit einer bedeutsamen Anhängerschaft in der Mitte der Gesellschaft. Das gibt der dortigen Linken eine Chance, in den kommenden Jahren die vielen Brückenköpfe, die die Sanders-Kampagnen errichteten, zu einer dauerhaften Bewegung und Mobilisierungsmaschine auszubauen. Es ist eine vermutlich einmalige Chance.
Bernie Sanders zeigte, dass im Zentrum sozialistischer Politik ein ambitioniertes aber verständliches, realpolitisches Programm stehen muss. Sie muss an den Sorgen und Problemen der großen Mehrheiten ansetzen, eine Erzählung entwickeln, die viele Menschen mitnimmt und Werte wie Einheit und Zusammenhalt verkörpert. Sie darf keine Angst vor den Massen haben und vor den Widersprüchen, die sie mitbringen. Eine Linke, die sich ästhetisch und kulturell an Subkulturen orientiert und sich auch personell primär aus ihnen speist, wird große Schwierigkeiten haben, über gewisse eng umgrenzte Milieus hinauszukommen.
Bernie Sanders Kampagne hat vieles vorgemacht: Sie hat Hoffnung geschaffen, der Wall Street und dem politischen Establishment wirklich Angst gemacht und gezeigt, wie man von links die allergrößten Bühnen bespielt. Wir dürfen von jetzt an nicht mehr kleiner denken.
Zum Autor
Loren Balhorn ist Jacobin-Redakteur.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.