10. November 2022
Die Beschäftigten der Teigwaren Riesa streiken seit vier Wochen. Es geht um 2 Euro mehr Lohn, doch eigentlich um viel mehr.
Die Beschäftigten von Teigwaren Riesa fordern nicht nur mehr Lohn, sie fordern das Ende des Lohngefälles zwischen Ost und West, Berlin, 10. November.
»Die Niedriglohn-Mauer einreißen« war das Motto an diesem 9. November am Brandenburger Tor in Berlin. Die Beschäftigten des ostdeutschen Traditionsbetriebs Teigwaren Riesa sind mit ihrer Gewerkschaft NGG Ost in die Hauptstadt gekommen, um ihren Forderungen nach mehr Lohn auch politischen Druck zu verleihen. Mit lautem Gesang und Tröten liefen etwa zwei Dutzend durch das Brandenburger Tor und störten – das war die leise Ironie dieses Tages – einen Protest der Letzten Generation, der zeitgleich stattfand und Kameras und Polizei in Beschlag hielt. Doch die Aufmerksamkeit ging schnell auf die grölenden Beschäftigten über. Sie streikten bereits seit fünf Wochen, und die Unternehmensleitung, die mittlerweile von der Alb-Gold GmbH aus Baden-Württemberg geführt wird, mauert. Sie bietet eine Erhöhung von 1,20 Euro bis 2024. Zu wenig, sagen die Beschäftigten.
Auf den ersten Blick geht es um eine relativ kleine Lohnerhöhung. Doch für die Beschäftigten, deren Verdienst in der Verpackung mit gerade einmal 12,51 Euro nur knapp über dem Mindestlohn liegt, geht es jedoch darum, sich selbst aus dem Niedriglohnsektor herauszustreiken. Und das, obwohl die Streikkassen klamm sind, weshalb auch in Berlin nach Unterstützung gefragt wurde. Für die 140 Beschäftigten geht es um jeden weiteren Streiktag. Aus den Teigwaren Riesa wurden deshalb kurzerhand die »Streikwaren« Riesa.
Genau deshalb war es so wichtig, dass auch andere Gewerkschaften und Beschäftigte sich bei sonnigem Wetter ans Brandenburger Tor begeben haben. Die Pflegekräfte des Sana Klinikums beispielsweise, die sich ebenfalls gerade in einem Tarifstreit befinden, sammelten am gleichen Morgen 400 Euro und übergaben die Spendendose an die Kollegen aus Riesa. Ebenso sprachen Gewerkschaftssekretäre der IG Metall, der IG BAU und Politikerinnen und Politiker von der LINKEN und der SPD auf der Kundgebung: An politischer Unterstützung und Solidarität, so ließen alle verlauten, mangele es nicht. Der Arbeitsminister Hubertus Heil ist selbst nicht anwesend, er lässt eine Grußbotschaft verlesen. Und genau hier ist das Problem.
Denn der Kampf der Beschäftigten der Nudelfabrik aus dem Osten steht für gleich zwei brennende arbeitspolitische Themen: den eklatanten Unterschied zwischen Ost und West auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall und den Niedriglohnsektor, den SPD und Grüne gemeinsam in der Agenda-Politik Anfang der 2000er überhaupt erst geschaffen hatten.
Teigwaren Riesa steht also beispielhaft für dieses massive doppelte Ungleichgewicht im Osten: Fast jeder dritte arbeitet in der Region in Sachsen unterhalb des Niedriglohns. Auf den Schildern der Beschäftigten aus Riesa steht deshalb auch nicht nur eine konkrete Lohnforderung. Es geht um die Lohnangleichgleichung in Ost und West, um armutsfeste Renten, um »Wertschätzung«. Das alles sind politische Forderungen, mit denen die Riesaer nicht nur einen Sprung nach Berlin, sondern damit auch aus der üblichen Tarifpolitik hinauswagen. Ihnen gebührt jede Solidarität. Und es wird mehr brauchen als fremdverlesene Grußworte, um diese wütenden Kolleginnen und Kollegen von ihrem Vorhaben abzubringen.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.