25. Dezember 2022
Die Weltbevölkerung hat die 8-Milliarden-Marke überschritten. Teile der Umweltbewegung halten das für eine Katastrophe. Sie liegen falsch. Denn die Ursache für den Klimakollaps ist der Kapitalismus, nicht das Bevölkerungswachstum.
Detail aus Diego Riveras Wandbild »Man, Controller of the Universe«.
Zwischen 10.000 vor Christus und 1700 nach Christus wuchs die Weltbevölkerung von 4 Millionen auf 600 Millionen an. Das entspricht einer jährlichen Wachstumsrate von 0,04 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei unter dreißig Jahren. Inzwischen ist die Weltbevölkerung auf 8 Milliarden angewachsen und die weltweit durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 73 Jahre.
Der britische Ökonom Thomas Malthus, der seine Argumentation im späten 18. Jahrhundert und frühen 19. Jahrhundert entwickelte, erachtete das nahezu stagnierende Bevölkerungswachstum, das für den größten Teil der Menschheitsgeschichte charakteristisch war, als einen Indikator dafür, das der Bevölkerungsanstieg der wirtschaftlichen Entwicklung Grenzen setze. Er behauptete bekanntermaßen, dass durch das Bevölkerungswachstum die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen steige, diese jedoch aufgrund ökologischer Beschränkungen – wie etwa sinkender Bodenfruchtbarkeit oder einer Knappheit an Agrarflächen – nur in begrenztem Maß verfügbar seien.
Malthus’ These war allerdings nur haltbar, wenn man davon ausging, dass es nicht möglich ist, die Produktivität des Wirtschaftssystems zu steigern. Für lange Zeit war das auch tatsächlich der Fall. Die sozialen Verhältnisse waren durch die Ausbeutung der bäuerlichen Produzenten gekennzeichnet, die unter Zwang erfolgte. Für eine Produktivitätssteigerung mit anderen Mitteln als Gewalt gab es praktisch keine Anreize. Selbst dort, wo arbeitssparende Technologien existierten, gab es aus Sicht der Feudalherren, die nahezu absolute Kontrolle über das Leben ihrer Kleinbauern innehatten, kaum Beweggründe, sie auch einzusetzen.
Doch mit dem Aufkommen des Kapitalismus auf dem englischen Land stiegen die Investitionen in Technologie und der Einsatz effizienterer Arbeitsmethoden verbreitete sich. Die Bevölkerungszahl war nicht länger ein Hindernis für die Produktion, da diese durch verschiedene Formen sozialer Organisation gesteigert werden konnte.
»Das skandalöse Fortbestehen des Hungers im Kapitalismus hat letztlich eine politische, keine natürliche Ursache.«
Blickt man auf die Resonanz der Nachricht, dass die Weltbevölkerung zum ersten Mal die 8-Milliarden-Marke überstiegen hat, kann man leicht den Eindruck bekommen, dass sich der Bruch mit der malthusianischen Logik, der durch die Entstehung des Kapitalismus vor Jahrhunderten ermöglicht wurde, nie vollzogen hat.
So hieß es etwa im Guardian: »Die harte Wahrheit ist, dass in Zeiten des Klimakollaps die Größe der Bevölkerung eine Rolle spielt.« Auch die Klimabewegung Extinction Rebellion postete auf Facebook die für sie offenbar bedrohlich klingenden Worte »8 Milliarden Menschen«. Ihre Anhängerinnen und Anhänger reagierten mit schockierten und traurigen Emojis. Die New York Times wiederum nahm die Meldung zum Anlass für ein Porträt von Les Knight, dem Gründer der Voluntary Human Extinction Movement (Bewegung für das freiwillige Aussterben der Menschheit). Er verkündete: »Seht, was wir diesem Planeten angetan haben ... Wir sind keine gute Spezies.«
In diesen misanthropischen Ergüssen wird selten reflektiert, ob es nicht vielleicht eine gute Sache ist, dass Milliarden von Menschen – die früher bei der Geburt, als Säuglinge oder vor dem Erreichen des mittleren Lebensalters verstorben wären – heute überleben. Für die Verfechterinnen und Verfechter des Malthusianismus des 21. Jahrhunderts ist die Existenz von mehr Menschen auf der Welt hingegen ein schwerwiegendes Problem.
Malthusianerinnen und Malthusianer, die nicht gleich die gesamte Menschheit beschuldigen wollen, argumentieren stattdessen, es gehe vielmehr um eine Untergruppe von besonders wohlhabenden Individuen. Ihrer Meinung nach ist das Problem nicht die Überbevölkerung, sondern der Überkonsum. So sei das Bevölkerungswachstum in den ärmsten Teilen der Welt, wo die Auswirkungen auf die Umwelt minimal sind, nicht die Ursache für den Klimakollaps. Vielmehr hätten relativ wenige wohlhabende Konsumentinnen und Konsumenten in den reichen Ländern den derzeitigen Zustand der Umwelt zu verantworten. Bezeichnend ist, dass sich diese Denkweise zeitgleich mit der Hinwendung zur neoliberalen Austerität in den 1970er Jahren vollzog, als man »übermäßigen« Wohlstand – der größtenteils das Ergebnis von Errungenschaften der Arbeiterklasse gewesen war – zum Hauptproblem des Kapitalismus erklärte.
Ein Argument, das linke Malthusianerinnen und Malthusianern häufig anführen, besagt, dass wir mehr als vier Planten bräuchten, um 8 Milliarden Menschen einen amerikanischen Lebensstandard bieten zu können. Die Tatsache, dass viele Menschen, die nach »amerikanischem Standard« leben, Mahlzeiten ausfallen lassen und mehrere Jobs gleichzeitig haben, wird dabei ignoriert. Eine Berechnung legt nahe, dass sich die Weltwirtschaft verdoppeln müsste, um die ärmsten Teile der Welt auf das Niveau der US-Armutsgrenze anzuheben. Aber, um Linus Blomqvist und Jennifer Bernstein zu zitieren: »Wer will schon behaupten, dass die US-Armutsgrenze – die Armutsgrenze! – zu viel des Guten sei?«
Trotz offensichtlicher Unterschiede sind sich der rechte und der linke Malthusianismus im Wesentlichen darüber einig, dass der Produktion aufgrund der Ökologie und nicht aufgrund der von Menschen geschaffenen sozialen Beziehungen Grenzen gesetzt seien. Während die Rechts-Malthusianer glauben, dass die Bevölkerung die unveränderlichen Kapazitäten der Nahrungsmittelproduktion übersteigen wird, argumentieren die Links-Malthusianerinnen, dass wohlhabende Konsumenten die angebliche »Tragfähigkeit der Erde« überlasten.
Früheren Wirtschaftssystemen waren reale natürliche und produktive Grenzen auferlegt. Die enorme Ausweitung der Produktionskapazitäten im Kapitalismus hat hingegen eine besondere Art der sozialen Produktion von Knappheit zur Folge. Unter dem Wettbewerbsdruck des Marktes zwingt das System Kapitalistinnen und Kapitalisten dazu, die Produktivität der Arbeit zu steigern, während es nur wenige Anreize dafür schafft, das Produzierte auch gerecht zu verteilen. Früher wurden Hungersnöte durch Ernteausfälle und natürliche Knappheit ausgelöst; im Kapitalismus werden sie verursacht, weil Menschen das Geld fehlt, um sich Nahrungsmittel leisten zu können.
Linke und rechte Malthusianerinnen ignorieren oft, dass Menschen im Kapitalismus nur in der Lage sind, ihr Leben zu reproduzieren, sofern sie am Markt partizipieren. Daher übersehen sie die politischen und wirtschaftlichen Ursachen von Hunger und Armut. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Massenhunger, der weltweit existiert, und unseren ökologischen Kapazitäten, um Nahrungsmittel zu produzieren – mit den Methoden, die uns derzeit zur Verfügung stehen, könnten wir sogar mehr als 8 Milliarden Menschen ernähren. Die schlichte Wahrheit ist, dass sich viele Menschen aufgrund von Ungleichheit und Armut keine Lebensmittel leisten können, die unser Wirtschaftssystem effizienter und massenhafter produziert als je zuvor.
Das skandalöse Fortbestehen des Hungers im Kapitalismus hat letztlich eine politische, keine natürliche Ursache.
Ungleichheit erwächst aus der Struktur unseres Wirtschaftssystems. Besonders beklagenswert am Kapitalismus ist, dass große Anteile der Menschheit für ihn weitgehend überflüssig sind. Marx argumentierte, dass »jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat«. Der Kapitalismus erfordere aufgrund seiner Orientierung am Mehrwert und seiner technischen Produktivität eine besondere Art von verfügbarer Bevölkerung: eine »relative Überbevölkerung«, auch genannt »industrielle Reservearmee«.
Diese unglückliche Gruppe erfüllt zwei Funktionen. Zum einen diszipliniert die Existenz dieser relativen Überbevölkerung die erwerbstätigen Arbeitskräfte, da sie ihre Ersetzung ermöglicht, wenn sich letztere politisch zu organisieren versuchen. Zum anderen ist es nicht so, als würden Kapitalisten ihre Gewinne in Zeiten des Wirtschaftswachstums einfach nur verkonsumieren. Stattdessen reinvestieren sie diese, um noch höhere Erträge zu erzielen, sodass sie zwangsläufig Arbeitskräfte benötigen, um ihre ständig expandierenden Unternehmen am Laufen zu halten.
Aufgrund dieser beiden Tendenzen benötigt der Kapitalismus eine immense relative Überbevölkerung, deren Armut und Elend das System noch effizienter funktionieren lässt. Uns sollte daher nicht überraschen, dass die letzten vier Jahrzehnte der neoliberalen Klassenoffensive von der Ausweitung dessen begleitet wurde, was Mike Davis als »überschüssige Menschheit« bezeichnet hat: ein verarmtes informelles Proletariat, das die weltweite Lohnstagnation untermauert.
Sowohl linke als auch rechte Malthusianer scheinen zu glauben, dass wir gegen unveränderbare ökologische Grenzen ankämpfen. Um die Klimakrise tatsächlich zu lösen, müssen wir aber vielmehr die Grenzen des Kapitalismus überwinden – nicht die Grenzen der natürlichen Umwelt. Trotz der Produktivitätszuwächse, die uns unser Wirtschaftssystem erlaubt, werden unsere Möglichkeiten, die Natur und unsere Arbeitskraft zu nutzen, durch das Profitmotiv beschränkt. Aus menschlicher Perspektive ist der Kapitalismus daher zutiefst irrational.
»Niemand, der von sich behauptet, eine gerechtere Welt erkämpfen zu wollen, sollte die Vorstellung übernehmen, dass irgendein Mensch überflüssig sei.«
Wenn uns das Jahr 2022 irgendetwas gezeigt hat, dann Folgendes: Solange die Produktion fossiler Brennstoffe so ausgesprochen profitabel bleibt, wie sie ist, wird sie weiter andauern. Das beweist der durch Russlands Krieg gegen die Ukraine kurzzeitig ermöglichte Rendite-Boom, der sogar vermeintlich grüne Vermögensverwalter wie Blackrock dazu veranlasst hat, ihre kühnen Vorschläge, sich von der fossilen Industrie zu trennen, wieder zurückzuziehen.
In der Zwischenzeit haben sich seit langem bekannte Maßnahmen gegen den Klimawandel wie erneuerbare Energien, Kernkraft oder Direct Air Capture – also die Abscheidung von CO2 aus der Umgebungsluft – für Investoren als nicht rentabel genug erwiesen, um sie von einem Ausbau dieser Lösungen in dem Tempo und in dem Ausmaß zu überzeugen, die zur Vermeidung einer Klimakatastrophe erforderlich wären. Das bestätigt einmal mehr, dass man – wie im Falle unseres dysfunktionen Lebensmittelsystems – die rationale, geschweige denn gerechte Verteilung von Gütern nicht dem Markt überlassen kann.
Um den Klimawandel zu bewältigen, müssen Investitionsentscheidungen sozialer Kontrolle – durch öffentliches Eigentum und/oder Kontrolle der Beschäftigten – unterliegen. Anders werden wir die technologischen Kapazitäten der Gesellschaft zur Dekarbonisierung nicht freischalten können. Dadurch könnten wir zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit endlich eine Gesellschaft aufbauen, die gemäß der rationalen Interessen der Mehrheit organisiert ist. Wirtschaftliche Planung würde es uns ermöglichen, eine Infrastruktur für sauberen Strom, öffentlichen Wohnraum und eine moderne Wasser- und Abfallwirtschaft bereitzustellen, die auch für die Milliarden von Menschen verfügbar ist, die der Kapitalismus für überflüssig erklärt.
Niemand, der von sich behauptet, eine gerechtere Welt erkämpfen zu wollen, sollte die Vorstellung übernehmen, dass irgendein Mensch überflüssig sei. Ein ökosozialistisches Projekt sollte die Fähigkeiten und Kräfte der gesamten Menschheit dafür nutzbar machen, eine demokratische Wirtschaft aufzubauen, die sich an unseren sozialen und ökologischen Bedürfnissen orientiert. Die unzähligen Menschen, die überwiegend aus der Arbeiterklasse stammen und in Slums leben oder in Fabriken schuften, sind für dieses Projekt kein Hindernis, sondern ein Gewinn.