16. April 2024
Joe Bidens Versuche, Benjamin Netanjahus brutales Vorgehen gegen die Menschen in Gaza zu bremsen, haben bisher nichts bewirkt. Der US-Präsident ist zu schwach und unentschlossen gegenüber Israels Regierung, um sie auch nur zu kleinen Änderungen zu bewegen.
Joe Biden geht über den Rasen des Weißen Hauses auf dem Weg ins Oval Office, 13. April 2024.
Nach sechs Monaten Krieg, einer sich ausbreitenden Hungersnot, dem drohenden Ausbruch eines regionalen Krieges und mehr als 33.000 getöteten palästinensischen Menschen hat Joe Biden endlich wie der Führer der einzigen Supermacht der Welt – und der Macht, von der Israels Krieg gegen Gaza absolut abhängig ist – gehandelt. Anfang April führte der US-Präsident ein Telefonat mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, das Biden selbst als »unverblümt und geradeheraus« bezeichnete. Darin drohte er mit Konsequenzen für Israels wiederholte Missachtung von US-Forderungen. Die israelische Regierung schien sich tatsächlich zu fügen: Innerhalb weniger Stunden kündigte sie, wie von Biden gefordert, die sofortige Öffnung des Grenzübergangs Erez und des Hafens von Aschdod an, damit die humanitäre Hilfe, die dort blockiert wurde, endlich in das hungergeplagte Gaza kommen kann.
Der Schritt war wie eine Bestätigung für die Vielen, die Biden monatelang aufgefordert hatten, den enormen Einfluss der Vereinigten Staaten auf Israel zu nutzen, um den völkermörderischen Krieg gegen Gaza, wenn schon nicht zu beenden, so doch zumindest die Grausamkeit zu mindern. Andere nutzten die Gelegenheit, um die Führungsstärke und Härte des Präsidenten zu loben, so spät sie auch gekommen sein mag.
»Das ist ein veritabler Erweckungsmoment«, erklärte Steven Cook vom Council on Foreign Relations gegenüber Reuters. In den Schlagzeilen hieß es, Netanjahu habe sich »dem Druck der USA gebeugt« und schnell und gehorsam die Hilfskorridore geöffnet. Der US-Präsident werde Netanjahu nach dem »unverblümten« Gespräch »genau im Auge behalten«. CNN berichtete ebenfalls über das »scharf geführte Telefonat« und enthüllte Details, die dem Sender von einer dem Präsidenten nahestehenden Person zugespielt wurden. Demnach habe Netanjahu zugesichert: »Joe, wir machen das.«
»Aber für Biden war das noch nicht genug«, heißt es im CNN-Bericht weiter. »Der [israelische] Premierminister müsse die Schritte noch am selben Abend bekannt geben, forderte der US-Präsident.« Und wie wir erfahren, hat Netanjahu umgehend klein beigegeben.
Das Problem ist: Die Realität sieht anders aus.
Wie der israelische Sender N12 knapp eine Woche später berichtete, hatten weder die israelischen Verteidigungskräfte, die für die Koordinierung der humanitären Hilfe zuständig sind, noch die Beamten im Hafen von Aschdod von Netanjahus Büro den Befehl erhalten, etwas Derartiges zu tun. Tatsächlich, so der Bericht, habe Netanjahu scheinbar alles getan, um Biden erneut vor den Kopf zu stoßen. Unter anderem berief er drei Beamte, die sich gegen die Öffnung des Hafens ausgesprochen hatten, in das Team, das für die Beschlüsse in Sachen humanitäre Hilfe zuständig ist.
»Während des gesamten Krieges haben Mitglieder der Regierung Biden der Presse immer wieder offen gesagt, Ziel sei es, Israel so viel Zeit wie möglich zu verschaffen, um die Militäroperation bis zur vollständigen Vernichtung der Hamas durchzuführen.«
Entgegen der markigen Worte daheim (»wenn sich auf [israelischer] Seite nichts ändert, wird sich auf unserer Seite etwas ändern«) erinnerten die US-Beamten dem N12-Bericht zufolge die israelischen Stellen lediglich dezent an Bidens Forderung, bevor dann der US-Botschafter in Netanjahus Regierungsräumlichkeiten geschickt wurde, wo er »durch die Zimmer irrte«, um herauszufinden, wie die israelische Regierung das Versprechen an Biden in die Tat umsetzt.
Zum x-ten Mal im Laufe dieses Krieges mussten sich die USA also wieder einmal wie eine zweitklassige Macht verhalten: Sie mussten den eigenen Klientelstaat höflich auffordern, den amerikanischen Forderungen nachzukommen, die dann dennoch ignoriert wurden. Aufgenommen wurde diese Respektlosigkeit der israelischen Seite mit Schulterzucken.
Wer sich nicht auf Informationen aus einer einzigen Quelle verlassen will: Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bestätigten dem Guardian vor wenigen Tagen ebenfalls, es sei bisher deutlich weniger passiert als angekündigt: »An den Hilfslieferungen hat sich nur sehr wenig geändert«. Ein anderer Helfer berichtete der Zeitung, das israelische Militär habe auf einen mit dem UN-Emblem gekennzeichneten Lastwagen geschossen, der Hilfsgüter in das Gebiet brachte.
Was wir hier beobachten können, ist die unfassbare Realität der Israel-Gaza-Politik der Biden-Administration in ihrer ganzen Tragweite. Einerseits erinnern sowohl Bidens jüngstes Telefongespräch als auch die Leckerlis, die schnell und pflichtbewusst an die Presse durchgesteckt wurden, an vorherige Theateraufführungen dieser Regierung, die Israels Krieg sowohl in der Tat als auch im Geiste unterstützt.
Während des gesamten Krieges haben Mitglieder der Regierung Biden der Presse immer wieder offen gesagt, Ziel sei es, Israel so viel Zeit wie möglich zu verschaffen, um die Militäroperation bis zur vollständigen Vernichtung der Hamas durchzuführen. Ihre einzige Meinungsverschiedenheit bestand demnach darin, dass die brutale Art und Weise, wie der Krieg geführt wird, es schwieriger gemacht hat, die eigene politische Unterstützung zu wahren. Wie die Kommunikationsberaterin von Just Foreign Policy, Aída Chávez, kürzlich anmerkte, hat man im Weißen Haus hier und da überraschend offen über die eigenen Pläne kommuniziert: Nachdem man Israel erlaubt hat, die Hamas zu vernichten (ungeachtet der zivilen Opfer und der Frage, ob dies überhaupt möglich ist), wolle man einen entmilitarisierten palästinensischen Staat im Westjordanland und in den Überresten des Gazastreifens errichten – im Gegenzug für ein (desaströses) saudi-israelisches Normalisierungsabkommen.
Für die Biden-Regierung ist es von Vorteil, wenn die US-Öffentlichkeit glaubt, der Präsident agiere ungeschickt und Netanjahu habe ihn wieder einmal »ausgetrickst«, wie es der demokratische Senator Tim Kaine kürzlich formulierte. Tatsächlich dürfte es besser um Bidens Wiederwahlchancen im Herbst stehen, wenn eine ohnehin schon desillusionierte Basis der Demokratischen Partei glaubt, ihr Anführer sei schlichtweg schwach und ineffektiv, als zu glauben, dass er und sein Umfeld ein ungeheuerliches Kalkül verfolgen würden. Sicher ist in jedem Fall, dass Biden nach seinem Telefonat mit Netanjahu noch mehr Waffen nach Israel schickt. Damit untergräbt er seine eigenen Einflussmöglichkeiten und Druckmittel. Die Drohung, die er in Richtung Israel ausgesprochen hat, wird damit bedeutungslos.
Biden unterstützt Israels Krieg. Seine mangelnde Führungskraft zeigt sich aber trotzdem, wenn seine Forderungen von Netanjahu serienweise ignoriert werden - nur eben nicht so, wie viele seiner Kritiker annehmen. Bidens Zerwürfnis mit Netanjahu hat nichts mit der grundsätzlichen Tatsache und der Logik dieses Krieges zu tun (den Biden schließlich befürwortet), sondern mit dem »überzogenen« Verhalten der israelischen Seite, genauer gesagt: mit den massiven politischen Problemen, die der Krieg sowohl Biden selbst als auch den Vereinigten Staaten insgesamt bereitet.
»Bidens Ansatz zum Thema Israel-Gaza ist eine surreale Mischung aus ebenso ungeheuerlichem Zynismus wie peinlicher Rückgratlosigkeit.«
Biden und seine Vertreter machen selbst in der Öffentlichkeit deutlich, dass sie nicht verärgert sind, weil Netanjahu den Krieg fortsetzt. Sie sind vielmehr frustriert, weil Netanjahu nicht das Geringste tut, um der empörten US-Öffentlichkeit (und der Weltöffentlichkeit) den Krieg besser zu verkaufen, indem er humanitäre Hilfe zulässt, einer vorübergehenden Unterbrechung der Kämpfe zustimmt, Teile des Gazastreifens nicht besetzt und das Ausmaß sowie die Willkürlichkeit der israelischen Offensive verringert, um die Zahl der zivilen Opfer zu minimieren.
Sie sind auch angefressen aufgrund einiger Aktionen, wie der völlig sinnlosen und provokativen Bombardierung des iranischen Konsulats in Syrien, wodurch nun ein schwerer regionaler Krieg mit Beteiligung der USA drohen könnte. Einen solchen Krieg will Biden auf keinen Fall. Doch der Präsident hat sich als zu schwach, unentschlossen und nachsichtig gegenüber Israel erwiesen, um Netanjahu auch nur zu solchen kleinen Änderungen in seinem Verhalten, seiner Kommunikation und seiner Vorgehensweise zu bewegen.
Bidens Ansatz zum Thema Israel-Gaza ist eine surreale Mischung aus ebenso ungeheuerlichem Zynismus wie peinlicher Rückgratlosigkeit. Man könnte sagen: Er bietet das Schlechteste aus zwei Welten.
Und die Welt, in der wir leben, könnte dadurch deutlich unsicherer werden.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.