05. Februar 2022
Die militärische und rhetorische Aufrüstung im Ukraine-Konflikt riskiert, dass die Ereignisse außer Kontrolle geraten.
Joe Biden und Wladimir Putin in Genf, Juni 2021.
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das, was sich derzeit inmitten Europas abspielt, den gefährlichsten Moment der jüngeren Geschichte darstellt. Der Ukraine-Konflikt führt uns so nah an einen Dritten Weltkrieg heran, wie zuletzt nur die Kuba-Krise von 1962. Zwar haben weder Moskau noch Washington bisher den Einsatz von Atomwaffen angedeutet – es besteht aber kein Zweifel daran, dass sie ihre Atomwaffenarsenale auf Bereitschaft halten. Auch hat die militärische Alarmbereitschaft in den USA noch nicht den Stand von 1962 erreicht. Doch der Militäraufmarsch Russlands an seiner Grenze zur Ukraine übersteigt das Ausmaß der Truppenkonzentration an einer europäischen Grenze selbst in den heißesten Momenten des Kalten Krieges. Und auch die verbale Eskalation des Westens gegenüber Russland hat ein gefährliches Niveau erreicht – begleitet von militärischen Gesten und Vorbereitungen, die die Gefahr eines Flächenbrands erhöhen.
Die Machthaber der beiden Großmächte spielen mit dem Feuer. In Wladimir Putins Augen mag es gerade nur darum gehen, seine Truppen wie Dame und Turm auf einem Schachbrett in Stellung zu bringen, um den Gegner zum Rückzug seiner Figuren zu zwingen. Joe Biden mag seinerseits glauben, dass diese Krise eine Gelegenheit bietet, sein seit dem peinlich missglückten Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan stark angekratztes Image im In- und Ausland aufzupolieren. Boris Johnson denkt vielleicht, dass die anmaßende Prahlerei seiner Regierung von seinen innenpolitischen Problemen ablenkt. Tatsache bleibt jedoch, dass die Ereignisse in einer so angespannten Lage und zumal zum Takt der Kriegstrommeln schnell eine Eigendynamik entwickeln können, die sich der Kontrolle der einzelnen Akteure entzieht und eine Explosion auszulösen droht, die keiner der Beteiligten ursprünglich beabsichtigt hatte.
Die derzeitigen Spannungen zwischen Russland und dem Westen haben ein Ausmaß erreicht, wie es der europäische Kontinent wohl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hat. Die seitdem ersten Kriegsepisoden in Europa – die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren – erreichten nie das heutige Ausmaß anhaltender Spannung und Alarmbereitschaft zwischen den Großmächten selbst. Wenn aufgrund der gegenwärtigen Spannungen ein Krieg ausbricht, mag er auch zunächst nur auf ukrainischem Boden wüten, besteht aufgrund der zentralen Lage und der schieren Größe des Landes die Gefahr, dass das Feuer auf andere an Russland grenzende Länder in Osteuropa, sowie auf den Kaukasus und Zentralasien übergreift.
Was wir heute erleben, geht auf Entwicklungen zurück, für die in erster Linie der mächtigste Staat der Welt verantwortlich ist: die USA. Seit die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow zerfiel, und mehr noch unter dem ersten Präsidenten des postsowjetischen Russlands, Boris Jelzin, verhielt sich Washington wie ein gnadenloser Sieger, der verhindern will, dass sein besiegter Gegner jemals wieder auf die Beine kommt. Das sah zum Beispiel so aus, dass die von den USA dominierte NATO um Länder erweitert wurde, die zuvor dem von der Sowjetunion dominierten Warschauer Pakt angehört hatten, anstatt das westliche Bündnis parallel zu seinem östlichen Pendant aufzulösen. Darüber hinaus diktierte der Westen der bürokratischen Wirtschaft Russlands eine »Schocktherapie«, die eine massive sozioökonomische Krise und letztlich einen Kollaps auslöste.
Diese Bedingungen führten ganz natürlich zu dem Ergebnis, vor dem einer der prominentesten Berater Gorbatschows, ein ehemaliges Mitglied des Obersten Sowjets und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Georgi Arbatow, schon vor dreißig Jahren gewarnt hatte: Er sagte voraus, dass die westliche Politik gegenüber Russland zu einem »neuen Kalten Krieg« und zum Aufstieg einer autoritären Macht in Moskau führen würde, welche die alte imperiale Tradition Russlands wiederbelebt. Dies ist mit Putins Präsidentschaft tatsächlich eingetreten. Er vertritt die beiden wichtigsten Blöcke der kapitalistischen Wirtschaft in Russland (in der sich Staatskapitalismus und private Interessen vermischen): den militärisch-industriellen Komplex – der zusätzlich zu den Angehörigen des Militärs ein Fünftel der russischen Industriearbeiterschaft beschäftigt – und den Öl- und Gassektor.
Das Ergebnis ist, dass Russland seit Putins Amtsantritt eine Politik der militärischen Expansion verfolgt. Das allein bedeutet schon eine historische Verschiebung: Nach 1945 setzte die Sowjetunion keine Kampftruppen außerhalb des Gebiets ein, das im Zweiten Weltkrieg unter ihre Kontrolle gefallen war, bis sie Ende 1979 in Afghanistan einmarschierte und damit ihren eigenen Untergang heraufbeschwor. Dank des Anstiegs der Treibstoffpreise seit der Jahrtausendwende hat Putins Russland seine wirtschaftliche Vitalität wiedererlangt. Seitdem interveniert es militärisch außerhalb seiner Grenzen – mit einer Häufigkeit, die an die USA vor ihrer Niederlage in Vietnam oder in der Zeit zwischen dem ersten Irakkrieg 1991 und ihrem unrühmlichen Abzug aus diesem Land zwanzig Jahre später erinnert. Russlands Interventionen und Invasionen beschränken sich nicht mehr auf sein »nahes Ausland«, also jene Nachbarländer, die zu Zeiten der Sowjetunion und des Warschauer Pakts von Moskau dominiert wurden. So hat das postsowjetische Russland zwar im Kaukasus, insbesondere in Georgien, in der Ukraine und zuletzt in Kasachstan militärisch interveniert. Seit 2015 führt es aber auch Krieg in Syrien, interveniert unter einem sehr durchsichtigen Deckmantel in Libyen und in jüngster Zeit auch im subsaharischen Afrika.
Durch die erneute Aggression Russlands und die fortgesetzte Arroganz der USA steht die Welt am Rande einer Katastrophe, die unsere Vernichtung, auf die wir durch die Umweltzerstörung ohnehin bereits zusteuern, noch erheblich beschleunigen könnte. Wir können nur hoffen, dass die Vernunft siegen wird und die Großmächte zu einer Einigung kommen, die Russlands Sicherheitsbedenken Rechnung trägt und die Bedingungen für eine neuerliche »friedliche Koexistenz« wiederherstellt. So ließe sich die Hitze dieses neuen Kalten Krieges verringern und verhindern, dass er sich in einen heißen Krieg verwandelt, der eine Katastrophe für die gesamte Menschheit wäre.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in arabischer Sprache bei Al-Quds al-Arabi.
Gilbert Achcar ist ist Professor für Entwicklungspolitik und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London.
Gilbert Achcar ist ist Professor für Entwicklungspolitik und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London.