19. Juli 2023
Das Freiheitsversprechen ist der Bildungskatastrophe gewichen. Darin ist es Aufgabe der Linken, den humanistischen Anspruch vor den Kräften des Marktes zu retten.
»Die Bildungskatastrophe betrifft mittlerweile jedes Alter und alle Institutionen.«
Illustration: Nando von ArbDie Aufklärung war mit dem Versprechen auf die historische Bühne getreten, die Einzelnen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. In der Wirklichkeit galt das humanistische Bildungsideal jedoch noch nie für alle, sondern immer nur für bestimmte Klassen. Erst die Arbeiterbewegung und Befreiungsbewegungen weltweit machten mit dem Ideal ernst: Sollte die Befreiung das Werk der Menschen selbst sein, brauchten sie auch die Werkzeuge dafür an die Hand.
Bildung war nie der einzige, aber immer schon einer der mächtigsten Hebel dafür. Sei es durch massenhafte Alphabetisierung, durch Zeitungen, Abendschulen für Arbeiterinnen und Arbeiter oder durch Reformen der staatlichen Bildungsinstitutionen selbst: Aufgabe der Linken war es immer, kritische Reflexion über die unmenschlichen Verhältnisse zu ermöglichen und die Mittel der rationalen Durchdringung und der ästhetischen Wahrnehmung zu demokratisieren. Wer einmal verstanden hat, dass die Welt auch anders funktionieren könnte, gibt sich mit dem Status quo nicht mehr ohne weiteres ab. Die massenhafte Bildung der Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Selbstbefreiung war deshalb seit jeher ein Ziel sozialistischer Praxis.
Die Geschichte zeigt aber auch den Widerspruch der Aufklärung. Mehr Wissen bedeutet nicht automatisch mehr Vernunft. Als herrschaftliches Wissen kann es auch mehr Unterdrückung bedeuten, sogar Auslöschung. Theodor W. Adorno sprach deshalb in dem Radiovortrag Erziehung nach Auschwitz davon, dass jede politische Pädagogik darauf ausgerichtet sein müsse, die Katastrophe zu verhindern. Als Klassiker durchzieht der Gedanke bis heute die kritische Bildungswissenschaft: Was tun gegen die »bürgerliche Kälte« der Bildungsinstitutionen, gegen Apparate, die Menschen zurichten, die sie systemkonform machen statt herrschaftskritisch und selbstbestimmt?
Unzählige verschiedene Ansätze der Befreiungs- und Reformpädagogik zeugen davon, dass immer wieder der Versuch unternommen wird, Bildungsinstitutionen menschlicher und demokratischer zu gestalten. Leuchttürme wie die Jenaplan-Schulen oder die Bielefelder Laborschule versuchen immer wieder, den Menschen als Selbstzweck zu setzen und Bildung als Entfaltung von Denk- und Lebensweisen zu verstehen. Diesen Schulen liegt ein demokratischer Ansatz zugrunde, der die Lernenden als selbsttätige Wesen voraussetzt und von einem wechselseitigen Lehr-Lern-Verhältnis ausgeht. Schülerinnen und Schüler sind dann nicht einfach Trichter, in die man Wissen reinschüttet, sondern vollwertige Wesen, die vielfältige Fähigkeiten ausbilden. Doch zumindest in Westdeutschland blieben auch diese Ansätze hauptsächlich auf einige wenige – teils privat finanzierte – Lernorte beschränkt.
Die DDR wiederum manifestierte dieses Bildungsideal im ganzen Staat durch die polytechnische Oberschule, die geistig-schöpferische Entwicklung mit praktischer und gesellschaftlich nützlicher Arbeit verbinden sollte. Die Einheitsschule beendete die traditionelle deutsche Schultrennung und enthob das Gymnasium seiner primären Funktion, Klassenunterschiede zu verfestigen. Das bedeutete allerdings nicht, dass es keine Klassen oder Funktionseliten mehr gab. Die Trennung von Kopf- und Handarbeit sollte zwar formal aufgehoben werden, doch auch in der DDR blieben Arbeiterkinder im Wesentlichen Arbeiterkinder. Der Soziologe Steffen Mau zeigt in seinem Buch Lütten Klein, dass die Bildungsexpansion in der DDR sogar ausblieb und es insgesamt weniger Möglichkeiten zum Bildungsaufstieg gab als in der BRD.
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Ines Schwerdtner ist Host des JACOBIN-Podcasts Hyperpolitik und war von 2020-2023 Editor-in-Chief von JACOBIN.