15. Juni 2021
Unter #IchbinHanna klagen Forschende über die unsicheren Arbeitsverhältnisse, die das umstrittene WissZeitVG ermöglicht hat. Überraschend ist das nicht. Denn das WissZeitVG nutzt vor allem den Unternehmen.
Seit Tagen berichten Forschende unter #IchbinHanna über Perspektivlosigkeit und Dauerbefristungen im akademischen Betrieb.
Das sogenannte Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), das 2007 in Kraft getreten ist, hat den wissenschaftlichen Betrieb an Hochschulen und Universitäten in eine Prekarisierungsmaschine verwandelt. Für die meisten der rund 260.000 wissenschaftlichen Beschäftigten ist der Arbeitsalltag seither durch eine einzige Zahl bestimmt: sechs. Das ist die Anzahl an Jahren, die der »akademische Mittelbau« – Promovierende und Postdocs – maximal an einer Universität in befristeten Verhältnissen beschäftigt werden darf. Wer diese Höchstzahl an Jahren erreicht hat, muss entweder unbefristet angestellt werden – oder wird gekündigt. Diese Befristungs-Höchstgrenze löst bei Doktorandinnen und Doktoranden ab dem ersten Jahr Existenzängste aus. Denn unbefristete Stellen sind an deutschen Hochschulen und Universitäten auch im Jahr 2021 eine Seltenheit.
Vor einigen Tagen trendete der Hashtag #IchbinHanna auf Twitter, nachdem die Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichhorn – eine der Initiatorinnen der »95 Thesen gegen das WissZeitVG« – ein Erklärvideo des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) teilte, in welchem das WissZeitVG erläutert und dessen Zweck beschrieben wurde.
Der Inhalt des Videos ist schnell erzählt: Hauptakteurin des Videos ist Hanna, ihres Zeichens Doktorandin der Biologie. Ihr auf drei Jahre befristeter Vertrag sei nun um weitere drei Jahre verlängert worden. Wenn dieser ausläuft, darf sie jedoch nicht weiter befristet angestellt werden – es sei denn, sie beendet ihre Dissertation. Anders verhält es sich bei dem Laboranten Lars: Da dieser zum nicht-wissenschaftlichen Personal gehört, gilt für sein Arbeitsverhältnis das reguläre Arbeitsrecht. Bei der Begrenzung auf sechs Jahre wird allerdings nicht nur die eigentliche Qualifikation – in Deutschland die Dissertation und Habilitation – eingerechnet, sondern sämtliche Stellen, die »eine wissenschaftliche Karriere fördern«.
Wozu aber diese harte Grenze? Dazu liefert das Video eine klare Antwort: Damit nicht eine Generation alle Stellen »verstopft«. Die hohe Fluktuation solle zudem die »Innovationskraft« fördern. Das Video endet mit einer klaren Botschaft an alle Promovierende und Postdocs: »Hanna weiß, dass man eine Karriere in der Wissenschaft frühzeitig planen muss. Deswegen nimmt sie regelmäßig das Betreuungsangebot für Promovierende an ihrer Hochschule in Anspruch.«
Für den akademischen Mittelbau ist dieses Video ein Schlag ins Gesicht. Laut einer aktuellen Statistik arbeiten an deutschen Hochschulen 260.000 wissenschaftliche Beschäftigte. Von diesen sind rund 60.000 Professorinnen und Professoren, Habilitierte und andere. Der Großteil allerdings – rund drei Viertel – arbeitet in einer Position, die unter das WissZeitVG fällt.
Über knapp 75 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hängt also das Damoklesschwert der harten Grenze von sechs beziehungsweise zwölf Jahren. Das WissZeitVG erreicht dabei keines der erklärten Ziele: Weder fördert es die Innovation noch verhindert es, dass bestimmte Generationen Stellen »verstopfen«. Stattdessen prekarisiert es die Arbeitsbedingungen und löst bei vielen existenzielle Ängste aus. Diese Menschen sehen sich durch Hanna repräsentiert: Sie hangeln sich von Befristung zu Befristung – im Wissen, dass nach sechs Jahren Schluss ist. Selbst die im Video genannten Drei-Jahres-Verträge sind selten die Realität: Die allermeisten Verträge laufen nur ein Jahr und bieten kaum Planungssicherheit.
Sechs Jahre sind in einem wissenschaftlichen Zeithorizont sehr kurz: Wissenschaftliche Erfolge und intensive Forschung brauchen Zeit. Bevor Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihr eigenes Feld so gut kennen, dass »Innovationen« möglich sind, dauert es oft länger als zwölf Jahre. Bevor ein Experiment geglückt ist oder sich eine neue Theorie als nützlich erweist, sind dutzende Versuche gescheitert. Wenn allerdings all jene, die an solchen Innovationen arbeiten, nach sechs Jahren die Universität verlassen müssen, versandet der erhoffte wissenschaftliche Fortschritt.
Die beschworene »Fluktuation« sorgt lediglich dafür, dass neue Promovierende all das Wissen, welches sich die geschassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jahrelang angeeignet haben, erneut aufarbeiten müssen. Das Wissen derjenigen, welche die Universität verlassen, ist faktisch verloren. Das WissZeitVG hat den wissenschaftlichen Sektor also nicht nur prekär gemacht, sondern auch ineffizient.
Für die Forschung ist das WissZeitVG also nicht besonders förderlich. Es ist aber äußerst produktiv, wenn es darum geht, billiges »Humankapital« für Unternehmen bereitzustellen. Denn wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach sechs oder maximal zwölf Jahren die Universität verlassen müssen und de facto ein Berufsverbot erhalten, sind sie gezwungen, sich eine Stelle in der Wirtschaft zu suchen. Dabei konkurrieren sie meist mit Bachelor- und Master-Absolventen um dieselben Jobs. Letztere sind für Unternehmen wesentlich billiger, da sie über einen geringeren Bildungsgrad verfügen. Selbst wenn ein Unternehmen geneigt ist, wegen des Prestiges und der Expertise eine Doktorin einzustellen, sorgt die direkte Konkurrenz mit geringer Ausgebildeten dafür, dass die Gehälter für Promovierte oder sogar Habilitierte bisweilen erschreckend niedrig sind.
Nun ließe sich erwidern, dass das WissZeitVG nur die Befristungen betrifft und unbefristete Angestellte davon ausgenommen sind. So verkündete etwa das Bundesministerium in einer Pressemitteilung erst kürzlich:
»Im Übrigen geht es in dem Gesetz ausdrücklich um die Möglichkeit einer Befristung, aber nicht um eine Befristungspflicht. Aus der bloßen Existenz dieses Befristungsrechts im WissZeitVG lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass Dauerstellen nicht gewollt sind. Im Gegenteil.«
Der Gesetzgeber betont hier, dass die Universitäten gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einfach unbefristet einstellen könnten. Rein rechtlich mag das so sein. Der Realität entspricht das jedoch kaum. Denn Tatsache ist, dass Universitäten so gut wie niemanden unbefristet einstellen können, was wiederum daran liegt, dass die Grundfinanzierung der Universitäten seit Jahren immer weiter herunter gefahren wurde.
Heute kommen immer größere Teile der universitären Finanzierung aus Drittmittel-Projekten. Diese werden beispielsweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder von wirtschaftsnahen Stiftungen wie der Volkswagenstiftung gefördert. Die Projektlaufzeiten sind meist auf ein bis drei Jahre ausgelegt, haben also ein eindeutiges Ablaufdatum. Da ein Großteil der Grundfinanzierung für die Bezahlung des nichtwissenschaftlichen Personals benötigt wird, welches für die Infrastruktur und die Verwaltung der Universität notwendig ist, werden fast alle wissenschaftlichen Angestellten über diese Drittmittelprojekte finanziert.
Das lässt auch den Beginn des Videos noch einmal in einem anderen Licht erscheinen: Protagonistin Hanna dürfte die ersten drei Jahre ihrer Promotion in einem Projekt gearbeitet haben und für die nächsten drei Jahre in einem anderen. Ob sich letzteres dann allerdings mit ihrem Forschungsschwerpunkt deckt, ist reine Glückssache. Somit sind Dissertationen de facto auf drei Jahre begrenzt und nicht, wie vollmundig behauptet wird, auf sechs. In wissenschaftlichen Kreisen ist es eine Binsenweisheit, dass man für eine Dissertation mindestens vier Jahre einplanen sollte. Wird eine Doktorandin oder ein Doktorand also nach drei Jahren in einem anderen Projekt beschäftigt, für welches ebenso Lehraufträge oder Verwaltungsaufgaben erledigt werden müssen, kann das schnell dazu führen, dass man mit der Dissertation nur langsam vorankommt – und sie im schlimmsten Fall neben einem Vollzeit-Job beenden muss.
Gesetzgeber und Universitäten schieben daher die Verantwortung für die Misere auf den jeweils anderen ab: Die Universitäten können kaum unbefristete Stellen anbieten, es sei denn Staat und Länder erhöhen die Grundfinanzierung. Staat und Länder wiederum können sich hinter der Klausel verstecken, dass das WissZeitVG nur für befristete Verträge gilt und Universitäten alle Freiheiten haben, unbefristete Verträge anzubieten – so sie denn wollen.
Die Leidtragenden sind die eigentlichen Kern-Angestellten der Universität und ihre Angehörigen: Kinder und Familie sind meist zu einem erheblichen Teil abhängig von dieser Anstellung. Da Doktorgrade bei der Jobsuche, wie bereits gesagt, nicht immer von Vorteil sind, ist es keine Seltenheit, dass mit dem Verlust dieser Anstellung ein ganzer Haushalt in Existenznot gerät. Manche geben bei der Jobsuche ihren Doktorgrad nicht einmal mehr an, um ihre Chancen auf eine Anstellung zu erhöhen.
Der Prozess der Forschung funktioniert nicht nach den Gesetzen eines neoliberalen Marktes und lässt sich auch auf Biegen und Brechen nicht daran anpassen. Das WissZeitVG ist der legislative Versuch, es dennoch zu erzwingen. Das alles führt zu ökonomischer Unsicherheit, psychischer Belastung und verunmöglicht kritische und innovative Forschung.
Im Jahr 2020 begann laut Paragraph 8 des WissZeitVG eine Evaluierung des Gesetzes. Diese ist bislang noch nicht abgeschlossen. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass sie im Kern etwas ändern wird. Denn die Intentionen des BMBF liegen klar auf der Hand:
»Eine wissenschaftliche Qualifikation ist jedoch nicht nur für den akademischen Arbeitsmarkt wichtig, sie trägt neben den Erwerbsaussichten der Beschäftigten auch wesentlich zur Innovationskraft der Unternehmen in Deutschland bei. Nicht alle dort ausgebildeten Personen können und müssen daher langfristig im Wissenschaftssystem tätig sein.«
Das WissZeitVG ist letztlich eine Zermürbungstaktik: Entweder, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beugen sich ihrem »Verwendungszweck« als Humankapital für Unternehmen oder sie landen nach spätestens zwölf Jahren auf der Straße.
Hendrik Erz ist Soziologe und promoviert am Institut für Analytische Soziologie (IAS) an der schwedischen Linköpings Universitet. Er setzt sich mit dem »Soziologiemagazin« für die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses ein und engagiert sich für den kostenfreien Zugang zu Forschungsergebnissen.