29. Mai 2020
US-amerikanische Polizisten ermordeten wieder einen schwarzen Mann: George Floyd, 46. Die Folge sind Proteste, Riots und ein öffentlicher Aufschrei. »Black Lives Matter« bleibt aktuell. Was erreichte die Bewegung in fünf Jahren?
George Floyd, 46, am 25. Mai 2020 in Minneapolis von Polizisten ermordet
Seit Tagen brennt es wieder in den USA. Wieder haben Polizisten einen schwarzen Mann getötet: George Floyd. Diesmal in der Stadt Minneapolis – erbarmungslos, in aller Öffentlichkeit, wieder vor laufender Kamera.
Der Mord und auch die Szenen danach erinnern stark an jene von 2014 nach dem Mord an Michael Brown in Ferguson, 2015 an Laquan McDonald in Chicago, oder Pamela Turner 2019 in Houston. Seit Jahrhunderten werden Schwarze und People of Color in den USA regelmäßig Opfer rassistischer Polizeigewalt. Sie sind auch weit überproportional von einem Regime der massenhaften Inhaftierung betroffen, das auf der Welt seinesgleichen sucht. Geändert hat sich im Grunde nur, dass die alltäglichen Szenen der Gewalt heute per Smartphone gefilmt und ins Internet hochgeladen werden.
Doch seit dem Aufstand in Ferguson 2014, in dem »Black Lives Matter« – schwarze Leben zählen – das erste Mal zur Parole erhoben wurde, hat sich noch etwas anderes geändert. Zumindest an der Oberfläche scheint die Bewegung heute das Establishment auf ihrer Seite zu haben. Als das Video des Mords an George Floyd die Runde zu machen begann, twitterte der Bürgermeister von Minneapolis, ein weißer Liberaler: »Es sollte kein Todesurteil sein, in Amerika ein Schwarzer zu sein«. Der Mörder, wie auch seine drei Kollegen, die während des Mords daneben standen und nicht intervenierten, wurden vergleichsweise schnell gekündigt. Politiker, Promis, sogar Präsident Donald Trump fühlten sich verpflichtet, den Mord zu verurteilen.
In der feineren Gesellschaft der Vereinigten Staaten gehört es heute für Weiße zum guten Ton, zu konstatieren, dass schwarze Leben zählen, sich gelegentlich der Sprache der Intersektionalität zu bedienen und die eigenen Privilegien zu reflektieren. Doch an der institutionalisierten Gewalt des US-amerikanischen Rassismus hat sich dadurch noch wenig geändert.
Wie lässt sich der teilweise Erfolg der BLM-Bewegung mit dem ungebrochenen Fortbestehen der rassistischen Realität vereinbaren, die sie überwinden wollte? Und wie wird es möglich sein, einen Schritt weiter zu kommen?
In diesem Jacobin-Aufsatz vom Herbst 2019 rekonstruiert Keeanga-Yamahtta Taylor, Autorin des Buches Von Black Lives Matter zu Black Liberation, die Entstehung der Bewegung und an welchen Stellen sie ins Stocken geriet.
Der Autopsiebericht bestätigte die Aussagen der Nachbarn über das, was sich im Mai 2019 in einer Wohnanlage außerhalb von Houston, Texas, zutrug: Pamela Turner, 44 Jahre, Großmutter dreier Kinder, lag auf dem Boden und schrie, sie sei schwanger – ein Versuch, an die Menschlichkeit des Polizeibeamten zu appellieren, der über ihr stand.
Der Polizist, Juan Delacruz, achtete nicht auf ihr Flehen. Er trat zurück, zog die Pistole aus dem Halfter und schoss fünfmal. Drei seiner Kugeln durchbohrten Turners Körper und nahmen ihr das Leben. Eine Kugel zertrümmerte ihre linke Wange und zerschmetterte ihr Gesicht. Eine weitere zerriss ihren linken Brustkorb und die letzte Kugel ihren Bauch.
Was als nächstes geschah, war schon oft einstudiert worden. Die Polizei schickte Juan Delacruz in einen obligatorischen dreitägigen (bezahlten) Urlaub; die Familie nahm sich einen prominenten schwarzen Anwalt für Bürgerrechte; der Civil Rights-Pastor Al Sharpton hielt die Trauerrede; und eine gut organisierte und gut besuchte Demonstration zwang die Polizei dazu, Stellung zu beziehen – jenseits der gängigen Verlautbarungen.
In den Jahren seit der Ermordung von Mike Brown Jr. im Jahr 2014 und dem folgenden Aufstand in den Straßen von Ferguson, Missouri, hat die Polizei der Vereinigten Staaten an die fünftausend Menschen getötet, etwa eintausend pro Jahr, ein Viertel von ihnen Schwarze. »Black Lives Matter«, schwarze Leben zählen, lautet der Slogan der Bewegung gegen diese fortgesetzte rassistische Polizeigewalt. Innere und äußere Hindernisse lähmen die Bewegung – und das in einer Zeit, in der ein weißer Rassist das Land regiert. Versuchen wir Bilanz zu ziehen. Fünf Jahre später: Do Black Lives Matter?
Der Mord an Mike Brown und der von ihm entfachte Aufstand führten zu einer Phase der Organisierung und des Protests mit dem kühnen Ziel, dem Schreckensregime der Polizei ein Ende zu bereiten, dem vor allem arme Schwarze und solche aus der Arbeiterklasse im ganzen Land unterworfen sind.
Wer diese Wortwahl für übertrieben hält, sollte sich die Ergebnisse der Chicagoer Polizeikommission aus dem Jahr 2016 ansehen, die vom ehemaligen demokratischen Bürgermeister Rahm Emanuel in Reaktion auf den brutalen Mord an dem schwarzen Teenager Laquan McDonald durch den Chicagoer Polizisten Jason Van Dyke eingesetzt wurde:
»Die Entrüstung [über den Mord] förderte tiefgreifende und seit langem bestehende Verwerfungen zwischen schwarzen und lateinamerikanischen Communities einerseits und der Polizei andererseits zutage. Sie entzündeten sich am Schusswaffeneinsatz der Polizei, doch ihre Grundlage sind alltägliche Übergriffe, denen Menschen jeden Alters, jeder Hautfarbe, jeder ethnischen Zugehörigkeit und jeden Geschlechts in Chicago ausgesetzt sind und die sie selbst in der eigenen Nachbarschaft in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Sie werden ohne Begründung angehalten, verbal und körperlich misshandelt und in einigen Fällen verhaftet und dann ohne Rechtsbeistand inhaftiert… Die vom Chicago Police Department selbst erhobenen Daten bestätigen die weit verbreitete Ansicht, dass die Polizei keine Rücksicht auf die Unantastbarkeit des Lebens nimmt, wenn es um People of Color geht.«
Der Bericht selbst war Beweis für den enormen Druck, der von Aktivistinnen der Bewegung mit einem demokratischen Präsidenten im Amt am Vorabend einer historischen Wahl ausgeübt wurde. Schwarze Wähler hatten Obama zum Präsidenten gewählt und die Partei musste zumindest den Anschein von Fortschritt erwecken.
Was als lokale Bewegung in Ferguson begann, hatte sich während der zweiten Amtszeit Obamas zu einer viel breiteren gesellschaftlichen Kraft entwickelt. Nach dem Versagen der Grand Jury, den Polizeibeamten anzuklagen, der Mike Brown Jr. in Ferguson getötet hatte, wurde auch ein New Yorker Polizist, Daniel Pantaleo, nicht angeklagt, obwohl auf einem Video zu sehen ist, wie er Eric Garner im Juli 2014 auf den Straßen von Staten Island erdrosselte.
In einem Taumel aus Wut und Fassungslosigkeit, mit Hoffnungen, die bald wie Scherben zersplittern sollten, vereinten diese Erfahrungen von Polizeimisshandlung und Einschüchterung schwarze junge Menschen im ganzen Land.
Die Zäsuren von Ferguson, Cleveland, Los Angeles, Staten Island und unzählige andere vereinigten sich zu einem Strom, der im Spätherbst und Winter 2014/15 zur Black Lives Matter (BLM) - Bewegung wurde. Im Dezember 2014 beteiligten sich landesweit Zehntausende von Menschen an gewaltfreien Aktionen des zivilen Ungehorsams. Am 13. Dezember 2014 marschierten fünfzigtausend Menschen durch die Straßen von New York mit Sprechchören, die Ferguson, Missouri, mit New York City und dann mit dem ganzen Land verbanden: »Hände hoch, nicht schießen«, »Ich kann nicht atmen«, »Schwarzes Leben zählt«.
Es gab Proteste im ganzen Land, in großen und kleinen Städten. Diese verstreuten Demonstrationen bildeten eine Einheit durch den Gesang, die Forderungen und die Erklärung von »Black Lives Matter«, ähnlich wie der Schrei nach »Freedom Now« während der Bürgerrechtsbewegung.
Selbst als die Bewegung von Experten in den Medien bereits für tot erklärt wurde, nachdem die absehbare Gegenreaktion von Polizeigewerkschaften und politischen Konservativen einsetzte, breitete sich ab April 2015 der »Frühling von Baltimore« auf den Straßen aus. Eine Bewegung getragen von schwarzen Kindern, die erschöpft waren von der institutionellen Vernachlässigung und dem rohen Rassismus, der die Grundlage für Bleivergiftung, Armut und privatisierter Charter-Schulen ist. Gemessen an der Zahl formaler Organisationen, die aus ihr hervorgingen, war die Bewegung praktisch nie am Leben, aber sie florierte in den Herzen und Köpfen schwarzer junger Menschen, die sich danach sehnten, gehört und gesehen zu werden.
»Die Polizei lässt sich deshalb so schwer transformieren, weil das überparteiliche politische Establishment ihrer bedarf, vor allem wenn es beschließt, dass es uns nichts mehr zu geben hat.«
Keine Bewegung währt jedoch nur deshalb, weil ihre Sache gerecht ist. Ihr Aufstieg wie auch ihr Niedergang wird letztlich von einem vertrackten Kalkül entschieden, das Strategie, Taktik, Politik, Züge und Gegenzüge umfasst. Die Black Lives Matter-Bewegung fand sich immer mit zwei äußeren Herausforderungen konfrontiert.
Äußerlich musste die Bewegung die Situation ertragen, dass ihre bloße Existenz zu einem Dichtepunkt wurde, an dem verschiedene Stränge der weißen, rassistischen Rechten sich zusammenschließen konnten. Dies bedeutete für die exponiertesten Aktivisten, dass sie sich mit ernsten Todesdrohungen und der charakteristischen Flut an Schikanen auseinandersetzen mussten.
Als Anwärter auf die Präsidentschaft erklärte Trump schon früh BLM zu seinem Feind. Er betitelte die Aktivisten als Terroristen und sagte der Polizei seine unumstößliche Unterstützung zu. Das FBI begann, seiner Geschichte treu bleibend, schwarze Aktivisten zu überwachen und eine politische Kategorie zu erfinden, um die neue Gefahr zu veranschaulichen: »schwarze Identitätsextremisten«. Das kam nicht überraschend, doch es war strapaziös, und es konnte Angst einjagen. Trump brachte Aktivistinnen und Organisationen aktiv in Gefahr, als er beschloss, BLM zur Zielscheibe seiner Kandidatur weißer Vorherrschaft zu machen.
Noch schwieriger war es allerdings, die Manöver des Establishments der Demokratischen Partei zu durchschiffen, das sich bemühte, die Bewegung zu spalten: in die Pragmatischen einerseits und diejenigen, die sich angesichts der unnachgiebigen Polizeigewalt radikalisierten, andererseits.
Die Obama-Administration verfolgte eine Politik der »offenen Tür«, wenn es um moderate Aktivistinnen ging. Ihre Strategie bestand darin, Geschäftigkeit und ständiges Engagement als angeblichen Fortschritt zu präsentieren. Das schloss den regelmäßigen Kontakt mit Aktivistinnen ein, die Einsetzung einer nationalen Polizeikommission und die Ermächtigung des Justizministeriums, Ermittlungen einzuleiten und Berichte über ungeheuerliche Polizeidienststellen zu verfassen. Trotz all der hektischen Aktivitäten ließ sich nur schwer ausmachen, was sich wirklich änderte. Wo waren die Ergebnisse?
Die Demokratische Partei wollte das Problem schnell abarbeiten, um so die volle Aufmerksamkeit auf die Wahl 2016 richten zu können. In der Hoffnung, die Dinge beschleunigen zu können, stellte das liberale Establishment so ständig die Motive, die Struktur und die Forderungen der Bewegung in Frage. »Wer sind Eure Anführer?«, »Was sind Eure Forderungen?«, »Geben Sie uns eine Lösung!« waren einige der Fragen – oder besser gesagt Beschwerden – an die Adressen der prominentesten Figuren der Bewegung.
Dieses Vorgehen spiegelte den Einfluss von NGOs wieder, die die Wirksamkeit von Aktivismus und Organisierung durch die Brille des Nutzwerts und der greifbaren Resultate sehen. Es entstand der Druck, Lösungen und politische Maßnahmen zu präsentieren, als »realere« und messbarere Wege die Probleme des Polizeiwesens anzugehen. Als einige Aktivistinnen sich an diesem speziellen Schema stießen, wurden sie als Puristinnen angegriffen.
So weigerte sich beispielsweise die Chicagoer Aktivistin Aislinn Pulley im Februar 2016 zu einem Treffen zu gehen, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Weißen Haus stattfinden sollte, weil sie die Aufrichtigkeit der Obama-Regierung anzweifelte. Präsident Obama bestellte sie schließlich persönlich zu sich ein und erklärte ihr:
»Du kannst die Leute nicht immer bloß anschreien und so ein Treffen ablehnen, bloß weil es die Reinheit deiner Positionen gefährden könnte… Der ganze Zweck sozialer Bewegungen besteht darin, dass man dahingelangt, mit am Tisch zu sitzen. Dass man den Raum betritt und herausfindet, wie die Probleme sich lösen lassen. Es liegt in deiner Verantwortung, eine Agenda vorzuschlagen, die sich verwirklichen lässt – die deine angestrebten Veränderungen institutionalisiert und die andere Seite auch mit einbezieht.«
Die Bemerkungen des Präsidenten fanden in einigen Teilen der Bewegung Gehör. Die Bewegung war in ihrem Denken, ihren Strategien und Taktiken nicht einheitlich. Die unterschiedlichen Vorstellungen über die politischen Ziele und den Prozess, durch den die Bewegung zu Entschlüssen gelangte, waren innerhalb der Bewegung zutiefst umstritten. Einige Aktivistinnen und Aktivisten begrüßten den Zugang zum Weißen Haus und glaubten, das bedeute, dass sie eine Anhörung auf höchster Ebene bekämen. Brittany Packnett, die 2014 in St. Louis und Ferguson aktiv war, erklärte, warum sie und andere an dem Treffen mit Obama teilnahmen:
»Um die von uns angestrebte Befreiung zu erlangen, gibt es in unserem Handeln noch viele kritische Momente, und dabei ist es klug, die legitimen Wege nicht auszuschließen. Unsere Kämpfe werden niemals allein am politischen Tisch gewonnen werden. Die Demonstranten gehen Risiken ein, bauen organische demokratische Verantwortlichkeiten in den Straßen auf und setzen organisierte Taktiken in Kraft. Die Organisatoren mobilisieren die Menschen mit strategischen und direkten Aktionen, um systemische Veränderungen in Institutionen und Politik voranzutreiben. Politische Entscheidungsträger und institutionelle Akteure werden von allen möglichen Personen beeinflusst, die auf allen möglichen Ebenen ständig Druck ausüben, um einen langfristigen Wandel herbeizuführen… Ich glaube, dass die kollektive, vielfältige Arbeit dieser Bewegung Berge versetzen kann und auch schon versetzt hat, aber es wird jeden Einzelnen von uns und jede uns zur Verfügung stehende Taktik erfordern, um die Freiheit zu gewinnen, die wir anstreben.«
Bei anderen gab es Bedenken. Aislinn Pulley, die Aktivistin, die von Obama dafür gerügt wurde, dass sie sich einem Treffen verweigerte, besaß eine ganz andere Vision von Veränderung als die vom Präsidenten angebotene. Sie verfasste einen offenen Brief als Antwort auf seine Kritik:
»Ich kann mich nicht guten Gewissens an dem Schwindel beteiligen, mit dem man vorgibt, die Regierung arbeite hart daran, der Polizeibrutalität und dem institutionellen Rassismus ein Ende zu setzen. Angesichts der steigenden Zahl von Familien, die für Gerechtigkeit und die Würde ihrer Angehörigen, die von der Polizei ermordet wurden, kämpfen, weigere ich mich, den Tätern und ihren Zuarbeitern politische Deckung zu geben… Wir betonen, dass wahre revolutionäre und systemische Veränderungen letztlich nur von einfachen arbeitenden Menschen, Studenten und Jugendlichen hervorgebracht werden können – durch Organisierung, Protest und Entmachtung der korrupten Eliten.«
Diese Art von Spannungen und Auseinandersetzungen in politischen Strömungen waren natürlich nicht neu, vor allem nicht in der schwarzen Bewegung. 1964 argumentierte der Bewegungsstratege Bayard Rustin, dass die Bürgerrechtsbewegung wie auch die neuen Formen schwarzer Militanz bereit sein müssen, »vom Protest zur Politik« überzugehen. Er meinte, dass »es klar ist, dass die Bedürfnisse der Schwarzen nicht befriedigt werden können, solange wir nicht über das hinausgehen, was bisher auf der Tagesordnung steht. Wie lassen sich diese radikalen Ziele erreichen? Die Antwort ist einfach, zumindest dem äußeren Anschein nach: durch politische Macht… Wir sind jetzt gefordert, unsere gesellschaftliche Vision zu vertiefen und funktionsfähige Programme mit konkreten Zielen zu entwickeln.«
Rustin sah in der die Verlagerung auf formelle Politik innerhalb der Institutionen ein Zeichen politischer Reife, und ging davon aus, dass diese den schwarzen Gemeinden substanziellere Veränderungen einbringen mögen als der Protest allein. Ihm schwebte ein expansives sozialdemokratisches Programm vor, das von einer neuen Welle von schwarzen Politikerinnen und Politikern vorangetrieben werden sollte. 1964 gab es in den ganzen USA kaum an die hundert Schwarze in politischen Ämtern. Heute haben wir zwar die Ämter (schon zehn Jahre nach Rustins Aufruf waren es mehrere hundert) – gipfelnd in der Wahl von Barack Obama 2008 – doch den Wohlfahrtsstaat haben wir nicht.
Die öffentliche Schelte von Obama bezog sich zwar nicht direkt auf die Frage einer Wahlkampfpolitik, doch ein Echo von Rustins Botschaft (wenn auch in einer verengten Fassung) lässt sich darin vernehmen. Obama erklärte, im Jahr 2016 sei es nun an der Zeit, mit dem »Geschrei« aufzuhören und pragmatische Lösungen anzubieten, die sich umsetzen ließen. Seine Reaktion offenbarte die eigene Ungeduld über den Fortbestand von Black Lives Matter und wie dieser die kommenden Wahlen im Jahr 2016 zu stören drohte. Wichtiger ist jedoch, dass seine persönliche Einmischung auch darauf abzielte, die Bewegung zwischen »Machern« und »Träumern« zu spalten.
In den Augen vieler Aktivistinnen verlangte das wahnwitzige Netz der Polizeigewalt und das umfassendere Strafrechtssystem – die Bußgeld- und Gebührenordnung, die teuren Kautionen und die Willkür in der Rechtsprechung – nach weit mehr als runden Tischen und Gutachten. Viele drängten eher auf strukturelle als auf oberflächliche Veränderungen im Bundes-, Landes- und örtlichen Strafrechtssystem. Einige befürworteten die Abschaffung der Haft und vertraten die Ansicht, dass die Gesellschaft ohne das gesamte Gefängnis-Paradigma besser dran wäre. Anstatt 80 Milliarden Dollar pro Jahr dafür auszugeben, Menschen in Käfige zu sperren, könnten diese Mittel so umverteilt werden, dass das Leben der Menschen sich bessert, statt sie in Bestrafung zu investieren.
Somit enthüllten Obamas Rüge und die Antwort von Pulley mehr als nur strategische Meinungsverschiedenheiten über das Ziel sozialer Bewegungen. Von den vielen Problemen in der US-Gesellschaft, die Black Lives Matter aufgezeigt hat, sticht die scharfe Spaltung innerhalb schwarzer Politik hervor. Der politische Groll spiegelte zum Teil eine Kluft zwischen den Generationen wider, aber er offenbarte auch eine Klassenspaltung zwischen dem Zorn der schwarzen Arbeiter und dem Optimismus einer kleinen schwarzen Elite.
Einige Aktivistinnen und Aktivisten ärgerten sich über die bevormundende Haltung Obamas, der stets bemüht war, die (vorwiegend weiße) Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass er »nicht der Präsident des schwarzen Amerikas« sei, während er gleichzeitig in den Slang der Schwarzen wechselte, um afroamerikanische Wählerinnen und Wähler aufzurufen, sie möchten ihren »Onkel Pookie« doch bitte weg von der Couch und zur Wahlkabine zerren.
»Soziale Bewegungen schaffen Arenen, in denen wir uns selbst verändern können. Massenaktionen durchbrechen die Isolation des Alltags und verwandeln uns in politische Akteure.«
Doch es war nicht nur Obama. Sein Spiel mit antirassistischer Symbolpolitik war eine bittere Erinnerung an die Art und Weise, wie sich schwarze gewählte Beamte allzu oft an den Futtertrögen schwarzer Stimmen mästeten, nur um sich selbst, und nicht viel mehr, als Zeugnis des angeblichen Fortschritts der Schwarzen zu präsentieren.
Doch die Wirklichkeit zeigte auf, dass in vielen Städten schwarze Bürgermeister, schwarze Stadträte, schwarze Polizeichefs und Polizeibeamte die Ungleichheit und Unterdrückung beaufsichtigten, an der sich Black Lives Matter entzündete.
Der blanke Rassismus, der sich in Donald Trumps Beschreibung der vorwiegend schwarzen Stadt Baltimore niederschlug – als einem »von Ratten verseuchten« Schandfleck, in dem »kein Mensch leben will« – erregte die Aufmerksamkeit der Nation. Aber einer umfassenderen Wahrheit wurde weniger Beachtung geschenkt: Lokale und nationale schwarze Mandatsträger haben auf dem Wege institutioneller Vernachlässigung ihre Wähler verraten, nur um sich dann auf die brutale Polizeiarbeit zu stützen, um den Folgen der Krise Herr zu werden.
Es war dieser Verrat an den Versprechungen von »Hoffnung« und »Veränderung«, der die jungen Rebellen in Ferguson und später in Baltimore – von Obama und von Baltimores Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake als »Schläger« bezeichnet – dazu mobilisierte, im Namen von Millionen zu handeln.
Dies bildete den wichtigen Hintergrund für die Frustration von Aislinn Pulley und ihre Ablehnung, einer Einladung zu einem Gespräch mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten nachzukommen. Es geht hier nicht darum, ob Pulleys Weigerung oder die Entscheidung von Packnett für das Treffen angemessener war oder nicht. In Wirklichkeit sind alle sozialen Bewegungen der Ausdruck eines tiefen Wunsches nach Veränderung oder einer Reform der gegenwärtigen Situation.
Im Fall von Black Lives Matter könnte man dies als die Hoffnung ausdrücken, dass die Polizei »aufhören möge, uns zu töten«. Letztendlich ging es der Bewegung darum, den Status quo des Polizeiwesens zu reformieren. Doch wie so oft kamen dabei die Akteure der Bewegung im Laufe der Ereignisse zu radikal unterschiedlichen Ansichten darüber, worin das Ziel eigentlich besteht. Eine Konsequenz vieler BLM-Aktivisten lautete, dass sich die Polizei nicht reformieren ließ. Dies brachte sie in der Folge in Konflikt mit dem reformerischen Charakter der Bewegung selbst.
Das größere Problem bestand jedoch darin, dass die Bewegung nicht in der Lage war, den nötigen Raum zu schaffen, um die Spannung zwischen Reform und Revolution oder – um es etwas krasser zu sagen – zwischen Body-Cams und Gefängnisabschaffung zu diskutieren und auszuarbeiten. Alle Bewegungen sind mit existenziellen Debatten über ihre Lebensfähigkeit und Kontinuität konfrontiert. Ständig müssen grundlegende Entscheidungen über ihre Ziele getroffen werden und über den besten Weg, um sie zu erreichen. Doch ohne die Möglichkeit, gemeinsam zu bewerten, zu diskutieren oder darüber nachzudenken, was die Bewegung ausmacht und was sie werden sollte, können sich diese politischen Meinungsverschiedenheiten manchmal zu erbitterten persönlichen Anfeindungen auswachsen.
Unter den Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung wurden in der gesamten Social-Media-Landschaft wütende persönliche Querelen ausgetragen, wodurch ein archivarischer Fundus an Material für staatliche Stellen entstand. Dies schürte auch Feindseligkeit und Zwietracht zwischen Menschen, die eigentlich Interesse an Zusammenarbeit und Solidarität hatten. Die Denunziations- oder »Call-Out«-Kultur lenkte die Aufmerksamkeit auf jede Verfehlung, in der Überzeugung, dass jede Tat mit den schlechtesten Absichten begangen wurde. Der gute Wille, den viele sich im Herzen der Bewegung versprachen und auf den sie sich stützen wollten, konnte nur auf Vertrauen und aufrichtigen Beziehungen gründen. Diese waren ohne formelle Strukturen, klare Verantwortlichkeiten und Mechanismen für Führung und Rechenschaft schwer aufzubauen.
Tatsächlich fehlten die »organischen demokratischen Verantwortlichkeiten«, auf die Packnett bestand. Das Fehlen klarer Einstiegsmöglichkeiten in die Organisierung der Bewegung und das Fehlen einer demokratisch kontrollierten Koalition oder Struktur innerhalb der Bewegung schuf nur sehr geringen Raum für die Bewertung ihres Zustands, wodurch ihre Wendigkeit verlangsamt und die Verallgemeinerung strategischer Lehren und Taktiken von einem Ort zum anderen oder von einer Aktion zur nächsten verschoben wurde. Stattdessen war durch die Betonung der Autonomie, gar auf Kosten der Loslösung von der breiteren Bewegung, jeder Ort sich selbst überlassen, um eigene Mittel des Lernens und Strategien herbeizuführen.
Die BLM-Bewegung behauptete zwar keine Anführer zu haben, und machte sich den »Horizontalismus« ihres Occupy-Vorgängers zu eigen. Doch alle Bewegungen haben Führungspersonen; jemand oder eine Gruppe von Personen entscheidet, dass dieses oder jenes Geschehen soll oder nicht; jemand entscheidet, wie diese oder jene Ressource genutzt wird oder nicht; jemand entscheidet, ob dieses oder jenes Treffen stattfindet oder nicht. Die Frage ist nicht, ob es eine Führung gibt, sondern ob diese Führung gegenüber denjenigen, die sie vertritt, Rechenschaft ablegen muss. Es zählt ferner die Art und Weise, in der diese Anführer als solche bestimmt werden. Im Falle des Treffens mit Obama scheint es, dass die Obama-Regierung die Personen oder Organisationen auswählte, die sie als die Führung der Bewegung erachten wollte. Möglicherweise war dies unvermeidlich, aber die mangelnde Verantwortlichkeit gegenüber den gewöhnlichen Leuten, die die Masse der Bewegung ausmachten, führte zu Verwirrung und Unmut.
Dennoch verschleierte das Festhalten an der Abwesenheit von Führung, selbst wenn einige von ihnen vom politischen Establishment als Anführer bezeichnet wurden, die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen wurden und wer für sie zuständig war. Diese Probleme verschärften sich als der Eindruck entstand, dass die Bewegung in die falsche Richtung steuerte oder stagnierte, denn dann wurde es schwierig zu beurteilen, an wen man sich wenden sollte, um Anleitung zu erhalten.
Das soll nicht heißen, dass, »wenn es bloß« dieses oder jenes Treffen oder diese Versammlung gegeben hätte, oder selbst wenn es mehr Demokratie bei der Entscheidungsfindung gegeben hätte, die Black Lives Matter-Bewegung über die Polizeibrutalität triumphiert hätte. Doch es wirft die entscheidende Frage auf, wie die Akteure aus einer verlorenen Schlacht oder gar einem verlorenen Krieg mit mehr Klarheit über ihre Erfahrungen, die zu ziehenden Lehren und geretteten Beziehungen hervorgehen, die es ihnen ermöglichen, an einem anderen Tag mit einem deutlicheren Verständnis dafür zu kämpfen, was beim nächsten Mal zu tun ist.
Diese Spannungen innerhalb der BLM-Bewegung wurden durch die öffentlichkeitswirksame Schikane von Aktivisten, die von Trumps Lakaien getragen wurde, und die fortgesetzte Manipulation durch Mitarbeiter der Demokratischen Partei noch gesteigert. Der Druck, die Bewegung voranzutreiben und gleichzeitig mit den staatlichen Funktionären zusammenzuarbeiten, die mit ihrer Zusammenarbeit den Anschein von Fortschritt erwecken wollten, erzeugte eine enorme Belastung unter den Aktivisten. Diese Spannung wurde noch weiter verschärft, als die Demokratische Partei Hillary Clinton als ihre Kandidatin nominierte.
Clintons Slogan »America Is Already Great« war eine Replik auf Trumps »Make America Great Again«. Sie verriet jedoch auch ein Maß an politischer Realitätsferne, die junge Schwarze, im Kampf um Leben und Tod, schockierte und eine Debatte darüber lostrat, wie der Kampf voranzubringen sei. Gleichzeitig waren sich die Aktivistinnen sicher, dass im Falle eines Sieges, Clinton jungen schwarzen Wählerinnen und Wählern zu Dank verpflichtet sein würde. Das verlieh einer Strategie Glaubwürdigkeit, die auf solche politischen Maßnahmen setzte, wie sie innerhalb einer Clinton-Regierung hätten verwirklicht werden können.
Die Dynamik der Bewegung begann aus verschiedenen Gründen nachzulassen, mit dem Resultat, dass das politische Spiel mit den Insidern als Weg nach vorn erschien. Während die anhaltenden Misshandlungen und Tötungen durch die Polizei das Problem immerunüberwindbarer erscheinen ließen, führte das Fehlen einer demokratischen Diskussion und Strategieentwicklung dazu, dass Massenaufmärsche und -aktionen weniger im Vordergrund standen. Stattdessen wurden die Aktionen spärlicher und verschwiegener, von kleinen Gruppen angeführt, die dann leicht zu verhaften waren.
Dieser Kreislauf kleinerer, allzu leicht niederzuschlagender Aktionen wurde zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, da viele dieser Aktivisten die mangelnde »Opferbereitschaft« anderer beklagten. Die Randständigkeit ihres Protests wurde zu einer moralischen Keule, um Menschen zu schlagen, die nicht bereit waren, eine Verhaftung zu riskieren. In diesem Gefüge schien die Einflussnahme auf das politische Establishment ein realistischerer Weg zu sein, um etwas zu erreichen – zumindest für einige, sicherlich nicht für alle.
Dies galt umso mehr, da vermeintlich fortschrittliche Stiftungen einen großen Teil ihrer Finanzmittel an die Fähigkeit der Aktivistinnen knüpften, »Ergebnisse zu erzielen«. Nahezu unmittelbar nach dem Ferguson-Aufstand strömten die Stiftungsgelder in die Organisationen der Bewegung. Das Geld wurde benötigt und bereitwillig angenommen, da die Organisatoren versuchten, die durch den Ferguson-Aufstand und die anschließenden Demonstrationen erzeugte Dynamik aufrechtzuerhalten, die sich im ganzen Land ausbreitete, während die Polizei weiterhin Afroamerikaner und -amerikanerinnen umbrachte. Allerdings hatten die Spenden von Institutionen wie Google, der Ford Foundation und dutzender weiterer mehr als Finanzierung im Sinn. Sie versuchten ganz offensichtlich, den impliziten fortschrittlichen Charakter der sozialen Bewegungen mit ihrer »Marke« zu verknüpfen.
»Welchen Wert hat der Schutz der ›Rechtsstaatlichkeit‹, wenn das Gesetz vorrangig das behütet, was die Elite schätzt, und gleichzeitig ignoriert, was die meisten von uns schätzen?«
In manchen Fällen, wie z.B. der Ford Foundation, wurde das Geld bereits in der Vergangenheit an Bemühungen geknüpft, die Ziele und die Ausrichtung von Bewegungen zu manipulieren. Ford war in den 1960er Jahren dafür bekannt, seine enormen Ressourcen zu nutzen, schwarze Radikale in Richtung »community development« und schwarzen Kapitalismus, weg von ihrem aufständischen Potenzial, zu führen. Karen Ferguson beschreibt anschaulich, wie Ford finanzielle Zuwendungen an die schwarze Bewegung der 1960er Jahre dazu einsetzte, »verantwortungsbewusste«, gemäßigte Anführer zu fördern.
Dabei geht es nicht allein um die Ford Foundation. Megan Ming Francis begreift dies als einen Prozess des »Kaperns einer Bewegung«, wenn sie darlegt, wie Stiftungsspender in den 1920er und 1930er Jahren die Lockmittel des Geldes nutzten, um den politischen Fokus der NAACP, der altehrwürdigen Nationalen Organisation für die Förderung farbiger Menschen, weg vom weißen Terrorismus und vom Lynchen und hin zur Bildungspolitik zu verschieben, was den politischen Status quo weniger stark in Frage stellte.
Der Einfluss der Stiftungen steht nach wie vor im Zeichen der Mäßigung und des Kompromisses. Diese Logik entspringt der Existenz dieser Multimilliarden-Dollar-Organisationen, die sich im Grunde genommen als Retter des Systems vor seinen Auswüchsen begreifen.
Man denke nur an einen Artikel, der kürzlich vom Präsidenten der Ford Foundation, Darren Walker, veröffentlicht wurde. Darin rät Walker zur Weisheit der »Nuance«, als einer Abkehr von den »Extremen« politischer Positionen. Wie er kunstvoll darlegt:
»Extreme Gegensätze scheinen ins Drehbuch für Anführer jeglicher Couleur gelangt zu sein. In dieser Weltanschauung geht es um alles oder nichts, um Gut oder Böse, um das Beste oder das Schlimmste… Nuancen und Komplexität sind unterdessen nirgends zu finden. Und unsere extremen Herausforderungen bleiben extrem ungelöst.«
Walker bezeichnet Aktivistinnen und Aktivisten in New York City, die sich für die Schließung des schrecklichen Gefängnisses auf Rikers Island einsetzen, als politische Extremisten. Walker war Teil einer Kommission, die sich bereit erklärte, Rikers zu schließen, nur um mehrere kleinere Gefängnisse als Ersatz zu bauen. Er nennt das einen Kompromiss – als Beispiel für die Art von Nuance, für die die Befürworter der Abschaffung von Gefängnissen nicht empfänglich zu sein scheinen. Walker behauptet, dass die Ablehnung von Kompromissen bedeutet, »das Perfekte zum Feind des Fortschritts zu machen. Wenn wir Schritte überspringen, riskieren wir eine neue Art von Lücke – eine Lücke verpasster Chancen und verlorener Allianzen.« Doch dies stellt nur ein Vorwand für seine eigentliche Intervention dar:
»Wir können konstatieren, dass unsere kapitalistischen Systeme zusammengebrochen sind, und zugleich zur Kenntnis nehmen, dass die Märkte dazu beigetragen haben, die Zahl der armen Menschen auf der Welt zu verringern… Wir können kritisch gegenüber unrechtmäßig erworbenen Vermögen sein, während wir zugleich den gegenwärtigen Bedarf an privatem Kapital zur Finanzierung bestimmter wertvoller öffentlicher Güter anerkennen und wohlhabende Personen dazu ermutigen, ihr eigenes Privileg zu verstehen und institutionelle Reformen zu unterstützen.«
In dieser Welt bekommt man selten etwas umsonst. Die zig Millionen Dollar, die die Ford Foundation an Organisationen und Aktivisten aller Couleur verteilt, fließen mit der Absicht, Aufstände und Tumulte in akzeptablere Bahnen zu lenken oder umzugestalten. Das ist nie so offenkundig, denn sonst wäre es nicht wirkungsvoll. Walker spricht hier nicht nur über Ford, sondern man kann in seinen Aussagen das Ziel der meisten Unternehmen erkennen, die einen philanthropischen Flügel zu entwickeln, um die Debatten über soziale Fragen zu beeinflussen. Eine der Maßnahmen, die heute ergriffen werden, besteht darin, dass der Akzent auf gesetzgeberische Schritte und Lösungen gelegt wird, um eine Bewegung oder eine soziale Agenda voranzubringen.
Man denke nur daran, wie die Policy-Plattform der Bewegung für Black Lives auf eine Weise gepriesen wurde, die sie ebenso wichtig erscheinen ließ wie die Märsche und Mobilisierung selbst. Sicherlich waren viele der Reformen, die die politische Plattform forderte, weitreichend und könnten, wenn sie umgesetzt würden, transformativ wirken. Aber wie soll das durchgesetzt werden, ohne eine soziale Bewegung vor Ort, die die notwendige Kraft aufbringt, das politische Establishment in die Pflicht zu nehmen?
Der Aufstieg der Policy-Plattform und ihre Propagierung als Höhepunkt der Bewegung verrieten mehr über den Zustand der Bewegung, als beabsichtigt war. Ähnlich wie beim Wunschzettel-Ansatz im Präsidentschaftswahlkampf ist es leicht, nach den Sternen zu greifen – und manchmal ist es notwendig, sich vorzustellen, wie Freiheit aussehen könnte – aber nachdem die Forderungen erhoben und die Versprechen gemacht wurden, muss jemand dafür kämpfen, dass sie Wirklichkeit werden. Die Plattform konnte die zentrale Frage nicht beantworten, auf welche Weise sich die materielle Kraft einer sozialen Bewegung dafür entfalten lässt.
Das Gezerre um Stiftungsgelder zog weitere unbeabsichtigte Folgen nach sich. Die Fähigkeit, Finanzierung zu beschaffen, untergrub das Potenzial, demokratischere Praktiken innerhalb der Bewegung zu entwickeln, indem diejenigen, die Zugang zu Geldmitteln besaßen, eine übergroße Mitsprache erhielten. Mit größeren Ressourcen wuchs auch die Autorität, weil sich durch sie das Gewicht, die Präsenz und die Stimmen einiger Personen vergrößerten. Diese Dynamik untergrub die Einigkeit über die gemeinsame Zielsetzung, die notwendig gewesen wäre, um sich der Herausforderung zu stellen, dem Missbrauch und dem Morden durch die Polizei Einhalt zu gebieten. Stattdessen waren die Aktivisten gezwungen, miteinander um die finanzielle Förderung auf Basis ihres »einzigartigen« Beitrags für die Bewegung zu konkurrieren.
Diese Beobachtungen sind nicht als eine heilige Strafpredigt gedacht, wie Stiftungsgelder unsere Bewegungen besudeln – auch wenn sie das zweifellos tun. Wir sollten innehalten und uns fragen, warum Unternehmen, die am US-Kapitalismus Milliarden verdient haben, so sehr darauf bedacht sind, Aktivisten, von denen viele eine antikapitalistische Politik betreiben, Geld zu »spenden«. Wie ich oben bereits erwähnte, spielte der finanzielle Einfluss von Stiftungen schon immer eine Rolle, zumindest fast das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch und so auch heute. Wir können uns alle malerische Wege vorstellen, um Geld für uns selbst zu sammeln, aber das Ausmaß an Aktivismus ist schwer vorstellbar, das erforderlich wäre, um den Problemen unserer Gesellschaft auf der Basis von Kuchenverkäufen und soziale Events beizukommen.
»Ganz gleich, wie korrupt, gewalttätig oder rassistisch die Polizei sich verhält, ihr Budget schrumpft nie.«
Die Verfügbarkeit von Geld erfordert jedoch noch mehr Demokratie in unseren Bewegungen. Es bedeutet, dass die Entscheidungsfindung über die Mitarbeitenden oder den Vorstand oder diejenigen, die einen Gehaltsscheck beziehen, hinausreichen muss, um sich auf jene zu erstrecken, die die Reihen der Bewegung bilden. Es bedeutet, dass ein großer Teil unserer Organisation und unserer Aktivitäten manchmal chaotisch, langsam und abwegig sein mag, aber dadurch wird es für alle leichter, sich als Teilhaberinnen der Bewegung zu begreifen.
Eine breitere Beteiligung aller, die an der Black Lives Matter-Bewegung mitwirken, hätte möglicherweise zu einem verstärkten Kontakt zwischen den verschiedenen Teilen der Bewegung beigetragen. Mit der Schaffung von politischen Räumen, in denen diese verschiedenen Gruppen enger zusammenarbeiten und sich gegenseitig beeinflussen, wäre der Massenbewegung und der Mobilisierung vielleicht eine größere Dringlichkeit zuteilgeworden. Einige kamen zu dem Schluss, dass Massenmobilisierungen nicht mehr notwendig seien; dass die Menschen einfach auftauchen und dann nach Hause gehen. Das kann natürlich ein Ergebnis sein, aber wir sollten die transformative Kraft der Zusammenkunft und die kollektive Aktion, die erforderlich ist, um gemeinsam zu demonstrieren, nicht unterschätzen. Es geht nicht nur um Einfluss in der Politikgestaltung oder in den Regierungsinstitutionen, sondern auch um die Art und Weise, wie sich Macht unter denen entfaltet, die die Reihen des Demonstrationszuges bilden.
Der radikale Künstler und Kritiker John Berger schrieb über Massendemonstrationen: »Theoretisch dienen Demonstrationen dazu die Stärke der Meinung oder des Gefühls des Volkes zu offenbaren: Theoretisch sind sie ein Appell an das demokratische Gewissen des Staates.«
In diesem Sinne, schreibt Berger, sind die Zahlen über die Beteiligten bei einem Protest nicht wegen ihrer Auswirkungen auf den Staat, sondern für die Teilnehmenden selbst von Bedeutung: »Die Bedeutung dieser Zahlen liegt in der direkten Erfahrung derer, die an der Demonstration teilnehmen oder ihr mit Sympathie begegnen. Für sie hören die Zahlen auf, Zahlen zu sein und werden zum Beweis ihrer Sinne, zu den Früchten ihrer Phantasie. Je größer die Demonstration, desto mächtiger und unmittelbarer (sichtbarer, hörbarer, greifbarer) wird sie zu einer Metapher für ihre kollektive Stärke insgesamt.«
Der Punkt ist, dass Bewegungen oder Mobilisierung nicht nur die Möglichkeit schaffen, unseren materiellen Zustand zu verändern, indem sie die Kraft vieler auf die Unnachgiebigkeit einiger weniger ausübt. Soziale Bewegungen schaffen Arenen, in denen wir uns selbst verändern können. Massenaktionen durchbrechen die Isolation des Alltags und verwandeln uns in politische Akteure.
In einer Gesellschaft, die unsere Erfolge fälschlicherweise unserer individuellen Erfindungsgabe zuschreibt und unsere Misserfolge auf individuelle Schwächen schiebt, bringt uns die Massenbewegung, dieser Schauplatz des Kampfes, zusammen, um unsere Schwierigkeiten zu teilen und zu zeigen, dass die Lösung so vieler unserer Probleme kollektiver Natur ist. Das durchbricht den vorherrschenden »gesunden Menschenverstand« in unserer Gesellschaft.
Die schwarze radikale Feministin und Organisatorin Ella Baker begriff die Notwendigkeit, diese Blase des gesunden Menschenverstands zu durchstoßen: »Damit wir als arme und unterdrückte Menschen Teil einer sinnvollen Gesellschaft werden können, muss das System, in dem wir heute leben, radikal verändert werden. Das bedeutet, dass wir lernen müssen, in radikalen Begriffen zu denken. Ich verwende den Begriff radikal in seiner ursprünglichen Bedeutung – einer Sache an die Wurzel zu gehen und von da aus ihre Ursachen zu begreifen. Es bedeutet, sich einem System zu stellen, das sich nicht nach unseren Bedürfnissen richtet, und Mittel und Wege zu finden, um dieses System zu verändern.«
Die kollektive Begeisterung an der Konfrontation und das Potenzial für Veränderungen eröffnen die Möglichkeit, solche Fragen aufzuwerfen. Ohne sie ist es schwer, sich vom Pragmatismus zu lösen, den Obama empfahl, als er einer Aktivistin aus Chicago einen Vortrag über die engen Ziele sozialer Bewegungen hielt – wie etwa bloß ein Gesetz zu verändern.
Im Laufe der Jahre 2015 und 2016 glaubte niemand daran, dass Trump gewinnen würde; stattdessen begannen die Aktivistinnen und Aktivisten sich darauf zu konzentrieren, wie sich eine neue Clinton-Regierung zu einer Reform der Polizei bewegen ließe. Gewiss, Trump wurde gewählt, und alle Pläne, nach Washington DC zu ziehen, um die »innere« Phase der Bewegung einzuleiten, wurden nie realisiert. Heute gibt es nur mehr wenige Hinweise auf die basisdemokratische Black Lives Matter-Bewegung, die in den ersten Jahren die Phantasie und die Hoffnungen junger Schwarzer und darüber hinaus beflügelte.
Dies bedeutet sicherlich nicht, dass die Bewegung »gescheitert« ist. Es gibt nach wie vor viele BLM-Aktivisten, die in anderen Formen organisiert und engagiert sind. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass der öffentliche Wunsch nach einer Strafrechtsreform, einschließlich einer Kautionsreform und der langsamen, aber stetigen Entkriminalisierung von Marihuana, ohne den Einfluss der Black Lives Matter-Bewegung hätte stattfinden können. Wir alle sind der Bewegung zu Dank verpflichtet, dass sie das ganze Ausmaß ans Licht gebracht hat, in dem schwarze Frauen, einschließlich schwarzer Transgender-Frauen, Opfer staatlich sanktionierter Gewalt und rassistischen Missbrauchs sind. Viele der Organisatoren, die im Mittelpunkt der Bewegung standen, sehen diese neuen Arenen des Kampfes als einen fortgesetzten Ausdruck der Black Lives Matter-Bewegung.
Aber die Massenbewegung, die die Aufmerksamkeit der Welt erregte und den alltäglichen Status quo auf den Kopf stellte, gibt es nicht mehr. In gewisser Weise war das zu erwarten. Nichts steht still, geschweige denn etwas so Lebendiges und Dynamisches wie eine soziale Bewegung. Die Fragen der Strategie, der Taktik und der Demokratie, die sich im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung stellten, sind nicht verschwunden; sie sind nach wie vor entscheidend dafür, wie wir unsere derzeitige Situation verändern.
Was sagt uns das durch eine Polizeipatrone zertrümmerte Gesicht von Pamela Turner über die Bemühungen der Black Lives Matter-Bewegung? Es zeigt uns, wie außerordentlich zentral die Polizeiarbeit für die Aufrechterhaltung des rassistischen, sexistischen, ungerechten Status quo ist.
Polizeigewerkschaften und gewählte Beamte stellen die Polizeiarbeit gerne als gefährlich dar, als eine Art bizarre letzte Verteidigungslinie zwischen »uns« und einem finsteren, bedrohlichen kriminellen Element »da draußen«. In Wirklichkeit umfasst die Polizeiarbeit meist die Überwachung und die Schikane von Armen und Arbeitern. Wenn schwarze und braune Menschen in den Reihen der Armen und der Arbeiterklasse überrepräsentiert sind, tragen diese Menschen die Hauptlast der Zusammenstöße mit der Polizei. Von der Polizei getötet zu werden, ist eine der häufigsten Todesursachen für schwarze junge Männer. Der Soziologe Frank Edwards sagt, dass junge schwarze Männer »größere Chancen haben, von der Polizei getötet zu werden als… im Lotto zu gewinnen.« Pamela Turner, die an Schizophrenie litt, stand wegen mehrerer kleinerer Verstöße, die sie mit der örtlichen Polizei in Berührung brachte, im Fadenkreuz der ansässigen Ordnungshüter. Im April letzten Jahres wurde ihr ein Räumungsbescheid zugestellt, der zu einer Anklage wegen »Sachbeschädigung« und einer Begegnung mit demselben Polizisten führte, der sie Wochen später schließlich töten sollte.
Das Polizeiwesen ist der letzte öffentliche Dienst, den unsere Regierung stark finanziert, während sie alle anderen Bereiche der zivilen Infrastruktur unterfinanziert und vernachlässigt. Während die öffentlichen Dienste im ganzen Land abgebaut werden, werden hunderte Millionen Dollar aufgebracht, um die Kosten für Polizeibrutalität und die Klagen wegen polizeilichen Mordes zu begleichen. Allein Chicago hat seit 2004 über 800 Millionen US-Dollar ausgegeben, um Klagen wegen Polizeibrutalität und widerrechtlicher Tötung beizulegen.
Jeder anderen öffentlichen Einrichtung, die diese Art von Einbußen verursacht, würde das Budget gekürzt, ihre Dienstleistungen würden eingeschränkt oder sogar die ganze Institution geschlossen werden. Als beispielsweise die Chicagoer Bildungsbehörde 2012 behauptete, dass sie ein Milliardendefizit habe, schlug sie als Lösung vor, 52 öffentliche Schulen zu schließen. Doch inmitten der Enthüllungen über Rahm Emanuels Versuch, die Rolle der Polizei bei der Ermordung von Laquan McDonald zu vertuschen, erhielt der Bürgermeister den Segen des Stadtrats von Chicago, für 95 Millionen US-Dollar eine neue Polizeiakademie zu bauen.
Ganz gleich, wie korrupt, gewalttätig oder rassistisch die Polizei sich verhält, ihr Budget schrumpft nie. Gewählte Beamte und die Reichen und Mächtigen, deren Interessen sie oft vertreten, wissen genau, dass in dem Maße, in dem die öffentlichen Ausgaben gekürzt werden und gute Arbeitsplätze mit entsprechender sozialer Absicherung in weite Ferne rücken, polizeilicher Missbrauch Ordnung in eine potenziell unhaltbare Situation bringt. Der Schmerz und das Leiden der Enkelkinder von Pamela Turner, der Mutter von Laquan McDonald oder der Eltern von Mike Brown Jr. sind Kollateralschäden in diesem Krieg, um den Status quo zu erhalten. Das ist buchstäblich der Preis fürs Geschäftemachen.
So konzentriert sich auch fünf Jahre später ein Großteil des institutionellen Diskurses zur Reform der Polizei noch immer auf problematische Einzelfälle, Vorurteile und bessere Ausbildung. Die wichtigste politische Veränderung war die Einführung von »Körperkameras«. Seit 2014 haben die Polizeikräfte im ganzen Land mehr als 192 Millionen Dollar für Body-Cams ausgegeben. In Ferguson, dem Herzen und der Seele der Bewegung, gibt es jetzt mehr schwarze als weiße Polizisten. Die Stadt holt auf. Zugleich werden mittlerweile Schwarze 5 Prozent häufiger und Weiße 11 Prozent seltener angehalten als noch 2013.
Das hartnäckige Fortbestehen polizeilichen Missbrauchs und Gewalt anzuerkennen, ist weniger eine Frage von Pessimismus als eine Frage von Nüchternheit. Es gibt keine schnelle Lösung für die Brutalität der Polizei. Die Polizei lässt sich deshalb so schwer transformieren, weil das überparteiliche politische Establishment ihrer bedarf, vor allem wenn es beschließt, dass es uns nichts mehr zu geben hat. Es dauerte fünf lange und tödliche Jahre, bis die leitenden Beamten des New Yorker Polizeipräsidiums einen Beamten entließen, der einen Mann erstickt hatte, der schlicht und einfach sagte: »Ich kann nicht atmen«. Es dauerte fünf Jahre, bis das Justizministerium entschied, keine bundesweite Bürgerrechtsklage gegen Pantaleo zu erheben, als ob sein illegaler Würgegriff, der Garner das Leben nahm, nicht die Lehrbuchdefinition einer Bürgerrechtsverletzung war.
Doch welchen Wert hat der Schutz der »Rechtsstaatlichkeit«, wenn das Gesetz vorrangig das behütet, was die Elite schätzt, und gleichzeitig ignoriert, was die meisten von uns schätzen? Mit anderen Worten, weder das Gesetz noch die Strafverfolgungsbehörden sind auf unserer Seite, und das macht eine Reformbewegung letztlich äußerst schwierig. Es ist also in der Regel so, dass wir die gewünschten Veränderungen herbeiführen, indem wir die politische Klasse, ihr Establishment und ihre Gesetze unter Druck setzen und dazu zwingen, uns zu sehen und zu hören. Und dazu ist es wichtig, wie wir uns organisieren, was wir denken, was wir fordern und was wir uns vorstellen und erhoffen.Dies sind wesentliche Werte für jede soziale Bewegung. Demokratie, in der wir all unsere Bestrebungen, unsere Fehlschläge und unsere Bemühungen als miteinander verbunden begreifen, bedeutet, dass wir versuchen, so viele wie möglich einzubeziehen und herausfinden, wie wir Demokratie in die Tat umsetzen können. Black lives can matter. Doch dies wird einen Kampf erfordern. Nicht nur um Veränderungen in der Polizei, sondern in der ganzen Welt, die darauf aufbaut, dass die Polizei eine ungerechte Verteilung von Lebenschancen aufrechterhält.
Keeanga-Yamahtta Taylor ist Kolumnistin bei Jacobin und Assistenz-Professorin an der Princeton University. Sie ist die Autorin des Buches »Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation«, auf Deutsch erschienen im Unrast-Verlag.