02. Juni 2020
Die USA stehen in Flammen. Schwarze Menschen protestieren gegen den Rassismus in ihrem Land. Hunderttausende demonstrieren, es gibt Riots und Straßenschlachten. Sie prallen auf den rechten Kulturkampf eines wahnsinnigen Präsidenten – inmitten einer globalen Pandemie und Wirtschaftskrise, die kaum ein anderes Land so tief getroffen hat wie die USA.
Black Lives Matter-Demonstration am Samstag, den 30. Mai in Washington, DC
Es sind Bilder wie 2014, 1992, oder 1967: Jahre, in denen die Wut der schwarzen Bevölkerung in den USA überkochte. Der Auslöser der jüngsten Protestwelle ist ein trauriges Déjà-vu: Wieder haben Polizisten einen schwarzen Mann ermordet – mitten auf der Straße, am helllichten Tag, vor laufenden Kameras.
Eine Wiederholung von 2014, als ein Polizist in Ferguson in Missouri Mike Brown ermordete und #BlackLivesMatter zum ersten Mal Schlagzeilen machte? Die Situation in Minneapolis ist eine andere. Die Stadt gibt sich als linksliberale und weltoffene Metropole. Kein einziger Republikaner sitzt im Stadtrat. 2016 wählten über 60 Prozent Hillary Clinton. Der Täter, Derek Chauvin, wurde vergleichsweise schnell verhaftet, die Staatsanwaltschaft klagt ihn wegen Mordes an.
Politikerinnen und Politiker sowohl der Republikaner als auch der Demokraten verurteilten die Tat – bisher keine Selbstverständlichkeit. Großkonzerne wie Nike verkündeten auf Twitter ihre Unterstützung für die Proteste. So gut wie niemand – nicht einmal Donald Trump – bezweifelte öffentlich, dass die Tat der letzten Woche ein Mord war.
Der Mord an George Floyd hat eine Protestwelle ausgelöst, die größer ist als die Protestzyklen der letzten Jahre. In mindestens 140 Städten gab es laut New York Times bereits Demonstrationen. Allen Bemühungen des politischen Establishments, die Proteste zu vereinnahmen, zum Trotz. Hunderttausende protestieren – trotz Corona-Auflagen, Ausgangssperren und dem Einmarsch der Nationalgarde in mehreren Bundesstaaten.
Die bürgerkriegsartigen Szenen der letzten Tage – das Wüten der Polizei, die Demonstrantinnen und Demonstranten angriff, mit Autos in Menschenmengen fuhr, die geplünderten Geschäfte – all das erinnert an die Riots von 1967. Der »lange, heiße Sommer« erreichte über 100 Städte und kostete zwei Dutzend Menschen das Leben. Die Riots von 1967 wurden ikonischer Bezugspunkt der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der aufkeimenden Jugendrevolte. Der Abschlussbericht der von Präsident Johnson eingesetzten Kerner-Kommission zu den Riots wurde im Folgejahr zu einem Millionen-Bestseller.
Im Gegensatz dazu blieben die Ferguson-Proteste von 2014 eher lokal begrenzt (obwohl auch sie einen Meilenstein in der US-amerikanischen Auseinandersetzung über den Rassismus markierten). Anders als Minneapolis ist Ferguson eine durch und durch segregierte Vorstadt. Fast ausschließlich weiße Polizeikräfte kontrollierten und schikanierten die schwarze Bevölkerung. Nach den Unruhen schuf die Stadt neue polizeiliche Aufsichtsbehörden und integrierte einige Anführer der Proteste (während andere unter ihnen unter mysteriösen Umständen starben). Man investierte Geld in lokale NGOs und antirassistische Sensibilisierungstrainings.
»Die Riots waren vor allem ein Ausdruck der Frustration, dass trotz des beteuerten Fortschritts die Lage für schwarze Menschen in den USA dennoch miserabel blieb. Heute ist es ähnlich: Nach sechs Jahren #BlackLivesMatter hat sich die Lage für schwarze US-Amerikanerinnen und Amerikaner kaum verbessert.«
Demokraten wie Hillary Clinton und Joe Biden – in den 1990er Jahren die größten Verfechter härterer Strafen für Drogendelikte – übernahmen das Vokabular der Identitätspolitik und sprachen von »intersecting oppressions«, also sich überlappenden Unterdrückungen, die es zu bekämpfen galt. Barack Obama versicherte, das Land sei trotz aller Probleme dabei, sich zu bessern.
Dass sich die Szenen im liberalen, vorgeblich »integrierten« Setting von Minneapolis wiederholen, wird eine rein symbolische Bearbeitung erschweren. Vor allem aber finden die Proteste heute ähnlich wie 1967 nicht am Anfang, sondern nach einem längeren Bewegungszyklus statt. Bis die Riots 1967 ausbrachen, war die damalige Bürgerrechtsbewegung seit über einem Jahrzehnt aktiv. Sie skandalisierte erfolgreich den Rassismus der US-Gesellschaft und erkämpfte Reformen. Die Riots waren Ausdruck der Frustration, dass trotz des beteuerten Fortschritts die Lage für schwarze Menschen in den USA miserabel blieb.
Heute ist es ähnlich: Nach sechs Jahren #BlackLivesMatter hat sich die Lage für schwarze US-Amerikanerinnen und Amerikaner kaum verbessert – eine Tatsache, die durch Donald Trumps Präsidentschaft eindrücklich symbolisiert wird, jedoch in allen Lebensbereichen spürbar ist.
Eine weiße Familie besitzt im Jahr 2020 in den USA im Durchschnitt zehnmal mehr Nettovermögen als eine schwarze Familie. Trotz des kleinen Wirtschaftsaufschwungs der letzten Jahre bleibt die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen doppelt so hoch wie unter Weißen. »Diversity« wird zwar im ganzen Land gepredigt, doch unter der Oberfläche bestehen nach wie vor gravierenden Disparitäten. Der entwürdigende und in etwa 200 Fällen pro Jahr mörderische Umgang der Polizei mit schwarzen Menschen ist – über Social Media beschleunigt – der Zündfunke für immer neue Proteste. Egal ob in Minneapolis, Orlando, Los Angeles oder New York – die Wut richtet sich nicht nur gegen Polizeigewalt, sondern gegen die kleinen und großen Erniedrigungen, die schwarze US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner täglich erleben.
Der jetzige Ausbruch ist kein Zufall. Kein Land wurde so stark vom Coronavirus getroffen wie die USA. Über 40 Millionen Menschen verloren durch die Pandemie ihre Arbeit, 100.000 starben. Während die weiße Donald Trump-Anhängerschaft in den letzten Monaten ungestört gegen Quarantäne und Lockdown-Maßnahmen protestierte – oft sogar schwer bewaffnet –, verhaftete die Polizei überproportional häufig schwarze Menschen wegen Verstößen gegen Corona-Maßnahmen. Und: Jeder fünfte Corona-Tote in den USA ist ein schwarzer Mensch, obwohl sie nur zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Die USA befindet sich in einer akuten Krise, die Schwarze besonders trifft. Viele haben das Gefühl, dass Staat und Reiche kein Problem damit haben, wenn ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger vor Armut und Krankheit krepieren. Darin liegt eine Ursache der Szenen von Gewalt und Plünderungen in den letzten Nächten: Wer gerade ums Überleben kämpft, denkt nicht darüber nach, ob sein Verhalten gerade die richtige Botschaft für die Fernsehkameras transportiert. Es sollte uns eher wundern, wie es auf den Straßen solange friedlich bleiben konnte.
29. Mai 2020 in Minneapolis, USA
Foto: Proteste in Minneapolis, Unsplash/Josh Hild
Wie sich die Proteste entwickeln werden, ist schwer abzusehen. Entscheidend wird in den kommenden Tagen und Wochen, ob und wie aus Protest Politik wird – und wer sie macht. Bisher ist kein Zeichen einer organisierten Führung zu erkennen. Die politische Linke war bisher nicht in der Lage, eine Perspektive jenseits der unmittelbaren Unruhen zu formulieren. Sie scheint noch orientierungslos nach dem unerwarteten Einknicken ihres Hoffnungsträgers Bernie Sanders und ist ohnehin zu schwach vertreten in der schwarzen Bevölkerung.
Joe Biden bemüht sich, mit Protestierenden ins Gespräch zu kommen. Er und andere Demokraten können letztlich jedoch nichts Weiteres anbieten als heute zu demonstrieren und morgen mehr Demokraten ins Amt zu wählen. Die Strategie, die sie seit Jahrzehnten propagieren – ohne nennenswerte Erfolge. Durch das Ende der Bernie Sanders-Kampagne gibt es keinen Akteur auf der nationalen Bühne, der für eine glaubwürdige Alternative steht. Er trug als einziger nicht zur Verschärfung des US-Polizei-Regimes bei. Seine Kontrahenten können den Demonstrierenden nur schwer erklären, wieso sie es dieses Mal anders machen werden.
Insofern könnten die Szenen der letzten Tage auch der Anfang eines längeren Protestzyklus sein. Bisher betonen die meisten Bürgermeister und Gouverneure, dass man bemüht sei, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu garantieren. Gleichzeitig versuchen Justizministers William Barr und viele Landesregierungen, »externen Agitatoren« die Schuld für Brände und Plünderungen in die Schuhe zu schieben und den Einmarsch der Nationalgarde zu rechtfertigen. Welche Lösungen die herrschenden Eliten des Landes anstreben, sollten die Demonstrationen länger andauern, bleibt offen. Ihnen dienen die Proteste als Legitimation, um staatliche Repression gegen die schwarze Bevölkerung und Linke zu verschärfen.
In der Tat scheint Trumps neue Strategie gegen stagnierende Umfragewerte zu sein, die jetzigen Proteste als einen Kulturkampf zu deuten und sich selbst als Hüter von Recht und Ordnung zu inszenieren. Seine Ankündigung, die ebenso berüchtigte wie nebulöse »ANTIFA« als terroristische Organisation einstufen zu wollen, dient der Ablenkung vom eigentlichen Problem – und stachelt seine Wählerbasis auf. Die eigentlichen Probleme kann und will Trump ohnehin nicht lösen, aber er kann vielleicht noch ein zweites Mal die Kraft des Ressentiments bedienen, um im Herbst wiedergewählt zu werden – genau wie der Republikaner Richard Nixon 1968 nach den damaligen Unruhen.
Die Plünderungen und Tumulte sind vielleicht nicht schön, aber sie sind berechtigt. Sie sind das Ergebnis tiefer gesellschaftlicher Widersprüche, die sich immer wieder in Gewalt entladen, wenn die Bedingungen für die Unterdrückten nicht mehr auszuhalten sind. Aus der Ferne um die politische Effektivität von Riots zu streiten oder sie mit dem »gewaltfreien Widerstand« der letzten Bürgerrechtsbewegung zu vergleichen, bringt nichts – und dient nur den Gegnern der Bewegung.
Andererseits sollte man vorsichtig damit sein, in den jetzigen Protesten den Auftakt eines revolutionären Aufstands sehen zu wollen. Früher oder später werden die Proteste vorbei sein – spätestens dann, wenn der Staat noch brutaler zurückschlägt. Dann stellt sich die Frage, was als Nächstes kommt.
Als die Riots 1967 zu Ende gingen, gab es, ähnlich wie heute, keine Kraft links der Demokratischen Partei, die stark genug war, die angestaute Wut in eine dauerhafte politische Kampagne zu kanalisieren. Aber sie inspirierten und radikalisierten eine ganze Generation. Die kurz zuvor gegründeten Black Panthers bekamen Zulauf. Hunderttausende Studierende schlossen sich linken Gruppierungen an. Die Riots markierten damals das Ende eines Bewegungszyklus und den Auftakt eines neuen politischen Aufbruchs.
Ohne Bernie Sanders im Rennen und mit der größten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren könnte heute wieder ein neuer Aufbruch bevorstehen.
Gründe dafür gäbe es jedenfalls genug.
Über den Autor
Loren Balhorn ist Jacobin-Redakteur
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.