12. Juli 2024
Der rechte Putschversuch gegen Boliviens Regierung blieb erfolglos. Doch der anhaltende Konflikt zwischen Luis Arce und Evo Morales könnte zum Einfallstor für rechte Kräfte werden.
Der innerparteiliche Konflikt hat die Partei von Luis Arce in eine tiefe Krise gestürzt.
Am 26. Juni hatten Truppen die Plaza Murillo in La Paz, auf dem sich der Sitz der bolivianischen Regierung befindet, besetzt. Der Oberste Kommandant der bolivianischen Armee, Juan José Zúñiga, positionierte sich dort mit rund hundert Soldaten und einer Handvoll gepanzerter Fahrzeuge. Sie brachen die Tür des Palacio Quemado auf, wo Präsident Luis Arce und seine Minister versuchten, den Angriff zu stoppen, indem sie die Türen mit Möbeln verbarrikadierten.
Obwohl Zúñigas dilettantischer Putsch schnell in einer Niederlage endete, zeigt er, dass die (Militär-) Putsche in Lateinamerika wieder eine reale Gefahr darstellen. Vor eineinhalb Jahren hatten die Anhängerinnen und Anhänger von Jair Bolsonaro versucht, die Macht in Brasilien gewaltsam an sich zu reißen. Für Bolivien ist die Situation indes nicht gänzlich neu: Das Land hat seit 1945 die meisten Putsche in der Region erlebt.
Den letzten gab es 2019, als Präsident Evo Morales nach dreizehn Jahren relativer politischer Stabilität unter seiner Regierung des Moviemento al Socialismo (MAS) durch einen zivil-militärischen Aufstand gestürzt und ins Exil getrieben wurde. Man muss auf dieses damalige Ereignis zurückschauen, um zu verstehen, was am 26. Juni 2024 geschah – und welche Konsequenzen dies für die bolivianische Linke nach sich ziehen könnte. Die Linke ist zwar immer noch an der Macht, dabei aber so gespalten und fragil wie nie zuvor seit Morales’ erstmaliger Amtsübernahme.
Über den Putschversuch kursieren verschiedene Theorien, aber letztlich scheint er eine Art Racheakt des Kommandanten Zúñiga zu sein, der durch Arce entlassen wurde, nachdem der General dem früheren Präsidenten Morales im Fernsehen gedroht hatte. Obwohl die ehemaligen Verbündeten Arce und Morales heute offen miteinander verfeindet sind, beschloss der amtierende Präsident, Zúñiga seines Amtes zu entheben. Dieser hatte erklärt, er würde Morales verhaften, wenn dieser tatsächlich versuchen sollte, erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren. Dies sei ein eklatanter Verstoß gegen das Verbot einer Einmischung des Militärs in die Politik, so die Begründung Arces.
Der Präsident entließ Zúñiga zwar, ernannte aber nicht sofort einen Ersatz. Dies ermöglichte es dem Offizier, vorübergehend noch das Kommando über seine Truppen zu behalten und genügend Kräfte zu sammeln, um die zentrale Plaza de Murillo für einige Stunden einzunehmen. Dort hielt der rebellierende General eine wirre Rede. So betonte er unter anderem: »Wir hören den Aufschrei des Volkes. Denn seit vielen Jahren hat eine Elite die Kontrolle über das Land übernommen. Die Streitkräfte haben die Absicht, die Demokratie neu zu gestalten.«
Es ist unwahrscheinlich, dass hinter dem Aufstand tatsächlich ein fester Plan zur Machtergreifung stand. Schließlich hatte der General Präsident Arce bis zu seiner Absetzung stets unterstützt.
»Alle lateinamerikanischen Regierungen, einschließlich der rechtsradikalen Führung von Javier Milei, verurteilten den Aufstand.«
Arce stellte Zúñiga am Eingang des Palastes zur Rede und forderte ihn zum Rückzug auf, während Tausende Bolivianerinnen und Bolivianer auf die Straße gingen, um gegen den Putsch zu protestieren. Zúñiga kapitulierte nach wenigen Stunden, da sein Versuch, die Macht zu übernehmen, weder im In- noch im Ausland Unterstützung fand. Selbst die wegen ihrer Beteiligung am Coup 2019 inhaftierten rechten Politiker, denen Zúñiga in seiner Rede eine Haftentlassung versprach, kritisierten den Putschversuch.
Alle lateinamerikanischen Regierungen – einschließlich der rechtsradikalen Führung von Javier Milei in Argentinien – verurteilten den Aufstand. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die 2019 den Putsch gegen Morales noch begünstigt hatte, indem sie haltlose Anschuldigungen des Wahlbetrugs gegen den damaligen Präsidenten erhob, stellte sich dieses Mal auf die Seite der bolivianischen Demokratie. Die USA riefen in Reaktion auf Zúñigas Aktion zu »Ruhe und Mäßigung« auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Ereignissen in der Geschichte Lateinamerikas gibt es keinerlei Anzeichen für eine Beteiligung der USA beim jüngsten Coup-Versuch.
Die Militärrebellion hat aber auch die tiefe Spaltung in der sozialistisch-indigenen Partei MAS, die das Land fast durchgängig seit 2006 regiert, deutlich gemacht. Die einzige Unterbrechung bei den aufeinanderfolgenden MAS-Regierungen gab es nur nach dem Putsch und der Interimsregierung von Jeanine Áñez 2019-2020. Während ihrer langen Herrschaft gelang es den MAS-Regierungen, ein rekordverdächtiges Wirtschaftswachstum zu erzielen, Ungleichheit und Armut drastisch zu reduzieren und der indigenen Mehrheit des Landes zum ersten Mal in der Geschichte die Tür zur Macht zu öffnen. Evo Morales galt als wirksamer und symbolischer Kopf des sogenannten Prozesses des Wandels.
»Die Rivalität ist zu absoluter Konfrontation eskaliert und die MAS-Abgeordneten sind zwischen Arce- und Morales-Fans gespalten.«
Áñez, die bei ihrer illegalen Machtergreifung im Jahr 2019 die Unterstützung des konservativen und liberalen politischen Establishments genoss, reagierte hingegen katastrophal auf die Coronavirus-Pandemie und war schließlich gezwungen, im Oktober 2020 Wahlen auszurufen. Luis Arce, der über ein Jahrzehnt lang Wirtschaftsminister der MAS war, löste Morales als Präsidentschaftskandidat ab und gewann mit 55 Prozent der Stimmen. Obwohl Arce nicht das Charisma seines Mentors hat, genoss er einen sehr guten Ruf.
Die Feindseligkeiten zwischen den beiden MAS-Führungspersönlichkeiten begannen, als Arce bekanntgab, sich 2025 zur Wiederwahl zu stellen. Seitdem ist die Rivalität zu absoluter Konfrontation eskaliert und die MAS-Abgeordneten sind zwischen Arce- und Morales-Fans gespalten. Unter anderem haben sich beide Seiten gegenseitig beschuldigt, Verbindungen zu Drogenkartellen zu unterhalten. Einige von Morales’ Anhängerinnen und Anhängern verbreiten sogar die These, der Militärputsch vom 26. Juni sei in Wirklichkeit ein von Arce inszenierter »Selbstputsch« gewesen, um seine Popularität zu steigern – ein Gerücht, das von Zúñiga selbst in die Welt gesetzt und von der konservativen Opposition umgehend aufgegriffen wurde.
Ein zentrales Element der aktuellen politischen Auseinandersetzung ist, dass Morales’ auf seiner erneuten Kandidatur für das Präsidentenamt beharrt. Die Verfassung von 2009 sieht eine Begrenzung auf zwei aufeinanderfolgende fünfjährige Amtszeiten vor. 2016 wurde ein Referendum abgehalten, um diesen Verfassungsparagrafen zu ändern und die Begrenzung aufzuheben. Letztlich stimmte aber eine knappe Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung dagegen. Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichts wurde dem damaligen Präsidenten Morales trotzdem erlaubt, 2019 zu kandidieren. Sein Wahlsieg wurde durch den folgenden Militärputsch zunichte gemacht.
Im Jahr 2023 wurde das Verbot der Wiederwahl in einer weiteren gerichtlichen Entscheidung bestätigt und dieses Verbot auch auf nicht aufeinanderfolgende Amtszeiten ausgedehnt (was in dieser expliziten Form nicht in der Verfassung verankert ist). Morales bezeichnete dies als politisch motivierte Entscheidung eines Gerichts, das unter dem Einfluss von Arce stehe. Er plane weiterhin, 2025 zu kandidieren.
Die Spaltung innerhalb der MAS hat eine institutionelle Krise in Bolivien ausgelöst. Sie hat beispielsweise dazu geführt, dass die ursprünglich für 2023 geplanten Wahlen für die Besetzung der Gerichte auf unbestimmte Zeit verschoben wurden und auch die Mehrheitssituation im Parlament blockiert ist. Dadurch wurden Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise des Landes erschwert. In den ersten beiden Amtsjahren von Arce hatte Bolivien eine der niedrigsten Inflationsraten in ganz Amerika, nämlich etwas mehr als 1 Prozent im Jahr 2022, trotz des Ukraine-Kriegs. Die beträchtlichen Devisenreserven, die in den Jahren dieses Wirtschaftsbooms und der hohen Exporte angesammelt worden waren, gehen nun zur Neige.
Die Auswirkungen der Pandemie und die sinkenden Brennstoffverkäufe in Verbindung mit dem Lithiumgeschäfts, das nur langsam in die Gänge kommt, sind die Hauptursachen für den derzeitigen Devisenmangel. Dadurch können möglicherweise bald die umfangreichen Kraftstoffsubventionen der bolivianischen Regierung nicht mehr finanziert werden. Eine mögliche Kürzung dieser Subventionen in Verbindung mit einer steigenden Inflation und der Knappheit bestimmter Produkte wäre ein ebenso katastrophales Szenario für die bolivianische Wirtschaft wie für die Popularität der Regierung Arce. Deren Zustimmungswerte sind im Juni bereits auf 18 Prozent gefallen.
In der MAS herrscht derzeit Chaos: Sie kann sich nicht auf einen festen Spitzenkandidaten einigen. Mit Blick auf die Wahlen 2025 könnte es sogar zu einem Rechtsstreit um den Namen der Partei kommen. Die Situation ist so verworren, dass selbst die ordnungsgemäße Durchführung der gesetzlich vorgeschriebenen Vorwahlen, bei denen die Kandidaten ausgewählt werden, nicht gewährleistet ist.
Zúñigas Putschversuch könnte kurzfristig die Sympathie in der Bevölkerung für Arce erhöhen. Er wird aber nicht zu der Versöhnung führen, die die MAS und das ganze Land dringend brauchen. Die einzige gute Nachricht für die Linke ist, dass ihre konservativen Konkurrenten sich ebenfalls in äußerst schlechter Verfassung befinden.
»Bolivien, das zu den ärmsten Ländern Südamerikas gehört, scheint nun auf eine längere Periode politischer Instabilität und wirtschaftlicher Schwäche zuzusteuern.«
Die Unterstützung der konservativen und liberalen politischen Elite für den Putsch 2019 hat dem Ansehen der Opposition schwer geschadet. Sie war nie in der Lage, eine solide und attraktive Alternative zur MAS aufzubauen. Heute sitzen Áñez und Luis Fernando Camacho, einer ihrer wichtigsten Unterstützer, wegen ihrer Beteiligung an dem Aufstand von 2019 im Gefängnis. Die traditionellen konservativen Parteien haben keine neuen Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, die in der Lage wären, die Mehrheit der Gesellschaft für sich zu gewinnen.
Die einzige Gewissheit ist, dass die Ära des Wirtschaftswachstums und des sozialen Fortschritts, die auf die Wahl von Evo Morales zum ersten indigenen Präsidenten Boliviens 2005 folgte, zu Ende geht. Bolivien, das zu den ärmsten Ländern Südamerikas gehört, scheint nun auf eine längere Periode politischer Instabilität und wirtschaftlicher Schwäche zuzusteuern. Dies könnte die nächste Regierung (unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung) dazu zwingen, unpopuläre Sparmaßnahmen durchzuführen.
Die Zukunftsaussichten für dieses Land – das viele Jahre lang die Linke der Region inspirierte, weil es in der Lage schien, den Neoliberalismus zu überwinden und der indigenen Bevölkerungsmehrheit nach Jahrhunderten des strukturellen Rassismus endlich Gerechtigkeit zu verschaffen – scheinen düster.
Pablo Castaño ist freiberuflicher Journalist sowie Politikwissenschaftler. Er hat einen PhD in Politikwissenschaften von der Autonomen Universität Barcelona und schreibt unter anderem für Ctxt, Público, Regards und The Independent.