24. Oktober 2023
Boliviens linke Regierungspartei MAS steckt in einer tiefen Krise. Wenn sich Mitglieder und Parteiobere nicht verständigen können, gefährdet das die bisherige Einheit der organisierten Arbeiter- und Indigenenbewegungen des Landes.
Boliviens Präsident Luis Arce, Vizepräsident David Choquehuanca und Ex-Präsident Evo Morales, 2021.
Die Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS), Boliviens Regierungspartei, ist in der Krise. Kürzlich wurden der amtierende Staatspräsident Luis Arce und sein Vizepräsident David Choquehuanca während des MAS-Kongresses in der Koka-Anbaustadt Lauca Ñ aus der Partei ausgeschlossen und somit auch daran gehindert, bei den nationalen Wahlen 2025 für die MAS zu kandidieren. Gleichzeitig wurde Ex-Präsident Evo Morales im Amt als Parteichef bestätigt. Er will 2025 zur Wahl antreten und wieder Präsident werden.
Die Spaltung zwischen Arcistas und Evistas ist ein Kampf um die Kontrolle über eine der erfolgreichsten politischen Maschinerien Lateinamerikas. Viel dürfte von der Haltung der Gewerkschaften in der Koka-Region Chapare abhängen, die ihre Vorherrschaft innerhalb der MAS aufrechterhalten wollen.
Doch die Krise zeigt sich nicht nur in der internen Parteipolitik. Vielmehr hat der Konflikt zwischen den Gruppen auch die im Land als Pacto de Unidad bekannte Allianz sozialer Bewegungen erfasst. Diese Allianz hatte 2005 entscheidend dazu beigetragen, Morales an die Macht zu bringen. Die drohenden Spaltungen könnten schwerwiegende Folgen für die Einheit der organisierten Arbeiterschaft mit den Bauern- und Indigena-Bewegungen in Bolivien, einem der ärmsten Länder Lateinamerikas, haben.
Die MAS hat sich immer als politischer Außenseiter präsentiert, sowie als »Instrument« und nicht als Partei im klassischen Sinne. Sie war in den 1990er Jahren aus der Bauernbewegung hervorgegangen und konnte auf der Welle der anti-neoliberalen Proteste mitreiten. Insbesondere zwischen 2000 und 2005 vereinten sich Bergarbeiter, indigene Organisationen und Bauernverbände sowie städtische Gemeinden im gemeinsamen Kampf.
»Innerhalb ihrer Organisationsstrukturen verdrängten diejenigen, die den dominierenden Flügeln und Fraktionen in der Partei treu waren, Kritikerinnen und Kritiker. Es entstand ein veritables Vetternwirtschaftssystem und die Führung der Organisationen wurde untergraben.«
Die aktuelle Spaltung zeichnet sich allerdings schon seit Längerem ab. Die jahrzehntelange Machtposition von Morales und der MAS war bereits in den Jahren vor dem Coup 2019 ins Wanken geraten. Seine Amtszeit führte zu neuen Spannungen zwischen der Basis der sozialen Bewegungen und den Vertretenden der MAS in Regierungsämtern.
Die MAS ist also weniger eine einheitliche politische Partei als vielmehr ein Zusammenschluss unterschiedlicher Bewegungen. Angus McNelly, Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Greenwich, ist allerdings der Ansicht, dass »nicht alle Bewegungen in dieser Allianz gleichberechtigt sind und nicht alle eine sogenannte ›organische Beziehung‹ zur MAS haben.«
Morales selbst kam als Chef der Gewerkschaft der Kokabauern, einem gewichtigen Akteur unter den MAS-unterstützenden Bewegungen, an die Macht. Wie McNelly jedoch argumentiert, »haben der von den Bergarbeitern dominierte Gewerkschaftsverband Central Obrera Boliviana (COB), der Bauernverband und die Kokabauernverbände sowie die breiteren indigenen Bewegungen aus dem Hochland und den Tälern lediglich eine bedingte Beziehung zur MAS und mussten – und müssen weiterhin – aktiv in das politische Projekt der Partei integriert werden.«
In den späteren Jahren der zweiten Amtszeit von Morales (2009–2014) kam es zu ersten Spannungen, als die sozialen Bewegungen darum kämpften, ihre Autonomie in ihren Beziehungen zum Staat und seinen Institutionen zu bewahren. Innerhalb ihrer Organisationsstrukturen verdrängten diejenigen, die den dominierenden Flügeln und Fraktionen in der Partei treu waren, Kritikerinnen und Kritiker. Es entstand ein veritables Vetternwirtschaftssystem und die Führung der Organisationen wurde untergraben.
Es gibt mehrere Persönlichkeiten, die aus der Parteibasis kamen und sich inzwischen von der MAS losgesagt haben. Sie waren unter anderem frustriert über den von ihnen so empfundenen »Caudillismo« von Morales. Ein prominentes Beispiel ist Eva Copa, die derzeitige Bürgermeisterin der Stadt El Alto, einer MAS-Hochburg mit einer indigenen (Aymara) Arbeiterklassenidentität. Sie war zwischen 2015 und 2020 Senatorin für die MAS und übernahm nach dem Putsch von 2019 gegen Morales den Vorsitz der Legislativkammer, was schließlich auch zu ihrem Ausschluss aus der Partei führte.
Huáscar Salazar, Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des Centro de Estudios Populares in Bolivien, erklärt gegenüber Jacobin: »Die politische Krise der MAS hat mehrere Gründe, aber einer der wichtigsten ist die Art und Weise, wie die Partei in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zu einer vertikalen und autoritären Struktur übergegangen ist, mit sehr wenig Raum für Erneuerung. Diese Dynamik hat auch die von der MAS kontrollierten gesellschaftlichen Organisationen durchdrungen.«
So spalteten sich beispielsweise 2011 die indigene Organisation des Tieflandes, die Konföderation der indigenen Völker Boliviens (CIDOB), und der Nationale Rat der Ayllus und Markas von Qullasuyu (CONAMAQ), der die indigenen Gemeinschaften des Hochlandes vertritt, von der MAS ab. Letztere hatte zuvor versucht , eine Straße durch den geschützten Nationalpark und das indigene Territorium Isiboro Sécure zu bauen.
Der wohl wichtigste Akteur in der laufenden Fehde ist der Kokabauernverband in der Region Chapare. Ihr Präsident ist der junge und charismatische Andrónico Rodríguez, ein Verbündeter von Morales und derzeit Vorsitzender des Senats. Seit dem Putsch von 2019 betrachten viele innerhalb der Koka-Gewerkschaften den amtierenden Präsidenten Arce und seinen Vize Choquehuanca lediglich als Interimsführer.
Der Einfluss der Kokabäuerinnen und Kokabauern innerhalb der MAS ist jedoch geschwächt. Salazar erklärt: »Als Morales nicht mehr Präsident war, und vor allem, als Arce die Präsidentschaft übernahm, gingen die Macht und die Kontrollmöglichkeiten des Koka-Flügels innerhalb der Partei deutlich zurück.«
Daher war es symbolisch bedeutend, dass der jüngste MAS-Kongress in der tropischen Koka-Anbauregion Cochabamba – Morales‘ politischem Kernland – stattfand. Präsident Arce sowie diverse soziale Bewegungen – insbesondere die Interculturales von Santa Cruz, eine Gruppe landwirtschaftlich geprägter Gemeinden in Ostbolivien – weigerten sich, an dem Kongress in Lauca Ñ teilzunehmen.
Laut der Lokalzeitung El Deber gaben die Interculturales eine Erklärung ab, in der sie die ihrer Meinung nach »eingeschränkte und von Diskriminierung geprägte Teilnahme« der sozialen Organisationen, aus denen die MAS besteht, verurteilten. Sie forderten die Partei auf, nicht in »interne Spaltungen aufgrund von persönlichen Interessen« zu verfallen.
Darüber hinaus verschärft auch das wirtschaftliche Klima einige Spannungen innerhalb der Partei. So konkurrieren die unterschiedlichen Fraktionen immer härter um die schwindenden staatlichen Ressourcen. Bolivien erlebt in diesem Jahr eine Devisenknappheit, was zum Teil auf einen Rückgang der Gasproduktion, einem der wichtigsten Exportgüter, zurückzuführen ist. »Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass der bolivianische Staat über viel weniger wirtschaftliche Ressourcen verfügt«, meint auch Salazar. Dies habe zu einer gewissen Entsolidarisierung und »zu vielen internen Konflikten geführt, die sich im Streit um die Parteiführung widerspiegeln«.
Die erbitterten Auseinandersetzungen in der MAS wirken sich auf das politische Leben in Bolivien im Allgemeinen aus. Im August dieses Jahres artete der Kongress des Bauerngewerkschaftsbundes (die Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia, CSUTCB) in Gewalt aus, als die Delegationen von Morales und Arce sich gegenseitig mit Stühlen und Fäusten bearbeiteten. Sowohl Arce als auch Choquehuanca wurden von Teilen der Versammlung ausgebuht, als sie ihre Reden hielten.
»Bolivien muss vor Konfrontation, vor Sabotage, vor Autoritarismus, vor Hass, vor Rassismus, vor mächtigen Personen, die uns spalten, gerettet werden. Wir müssen über diejenigen Führer nachdenken, die uns angreifen; diejenigen, die Hass säen […].«
Danach gab Arce eine Regierungserklärung ab, in der er »interne und externe Interessen, die nicht nur die Regierung, sondern auch unsere sozialen Organisationen destabilisieren wollen«, kritisierte.
Die Spaltung spiegelt sich auch im bereits erwähnten COB wider, dem von den Bergarbeitern dominierten mächtigen Gewerkschaftsdachverband. Juan Carlos Huarachi, der derzeitige Vorsitzende des COB, wurde in den sozialen Medien vermehrt von Personen, die ihn für einen Verräter gegenüber Morales halten, zum Rücktritt aufgefordert. Huarachi hat ebenfalls nicht am MAS-Kongress in Lauca Ñ teilgenommen.
Während Huarachi die Bergarbeiter 2019 zunächst zur Unterstützung von Morales auf die Straße rief, forderte er im Zuge des Putsches später Morales‘ Rücktritt. Dies sei eine »friedensstiftende Geste«. In einem Tweet von letzter Woche beschuldigte Morales Huarachi, die Werte des COB zu verraten sowie 80.000 Dollar von einem Putschisten, Arturo Murillo, als Gegenleistung für seine Unterstützung der neuen Regierung erhalten zu haben.
Ebenso feuert Morales mit bissigen Kommentaren gegen Arce, Choquehuanca und ihre Verbündeten. In seiner Sonntagssendung auf Radio Kawsachun Coca beklagte er sich laut Berichten über deren »Versagen, den Prozess des Wandels« und die politische Vision der MAS zu verteidigen.
Vizepräsident Choquehuanca brachte vorvergangene Woche seinerseits eine etwas verschleierte Kritik an Morales vor. Bei einer Veranstaltung in La Paz sagte er: »Bolivien muss vor Konfrontation, vor Sabotage, vor Autoritarismus, vor Hass, vor Rassismus, vor mächtigen Personen, die uns spalten, gerettet werden. Wir müssen über diejenigen Führer nachdenken, die uns angreifen; diejenigen, die Hass säen […].«
Der indigene Aymara-Aktivist Choquehuanca war seit den 1990er Jahren, als sie gemeinsam die MAS gründeten, ein enger Verbündeter von Morales. In Morales‘ Regierung war er Außenminister und saß dem antiimperialistischen lateinamerikanischen Handelsblock ALBA vor. Er wurde auch als zukünftiger Präsidentschaftskandidat der MAS gehandelt. Choquehuanca kommt aus dem Indianista-Flügel der MAS und vertritt in enger Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen der Bauernschaft und der Indigenen eine Dekolonisierungsposition innerhalb der Regierung.
Die aktuelle Krise muss im Zusammenhang mit den dramatischen politischen Ereignissen vom Oktober und November 2019 gesehen werden, als Morales als Präsident gestürzt wurde. Dem folgte eine Welle rechter Mobilisierungen, die es der evangelikalen Senatorin Jeanine Áñez ermöglichte, sich als Präsidentin zu etablieren.
Während ihrer knapp einjährigen Präsidentschaft kam es zu zwei Massakern, bei denen mindestens 30 Menschen, die gegen ihre Machtergreifung protestierten, vom Militär getötet wurden. Im Jahr 2022 wurde Áñez wegen ihrer Rolle beim Putsch zu zehn Jahren Haft verurteilt.
»Viele der Protestierenden waren unzufriedene junge Menschen aus der städtischen Mittelschicht. Die wichtigste Universität des Landes, die Universidad Mayor de San Andrés, war ein lautstarkes Zentrum der Proteste.«
Die Machtergreifung der Rechten 2019 konnte nur vor dem Hintergrund einer geschwächten linken und indigenen Bewegung, einer wachsenden Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit und parteiinterner Unstimmigkeiten in der MAS gelingen. Diese Faktoren hatten die Legitimität von Präsident Morales zunehmend unterminiert.
So argumentiert auch McNelly in seinem kürzlich erschienenen Buch Now We Are in Power, dass die beiden dominierenden Erklärungen für die Krise von 2019 – drohender Staatsstreich und grassierender Betrug – zum Teil das Ergebnis interner Spannungen sowie der Versuche von Morales waren, diese zu bewältigen. Diese Narrative entstanden bereits lange vor dem eigentlichen Coup und wirkten als spaltende Kräfte, die die Gewalt im Herbst 2019 weiter anheizten.
Im Jahr 2016 scheiterte Morales knapp mit einem Referendum, das ihm eine vierte Amtszeit als Präsident ermöglicht hätte. Die bolivianische Verfassung von 2009 sieht eine Begrenzung auf zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten als Präsident vor.
Die MAS beantragte nach dem gescheiterten Referendum beim Verfassungsgericht die Abschaffung dieser Amtszeitbeschränkung mit der Begründung, sie verstoße gegen die Menschenrechte von Morales. Da das Gericht mit Morales-Getreuen besetzt war, wurde der Versuch in großen Teilen der Bevölkerung als unrechtmäßig angesehen. Die Entscheidung, das Ergebnis des Referendums per Gerichtsentscheidung zu umgehen, war ausschlaggebend für die Protestbewegung, die im November 2019 schließlich zum Putsch führte. Viele der Protestierenden waren unzufriedene junge Menschen aus der städtischen Mittelschicht. Die wichtigste Universität des Landes, die Universidad Mayor de San Andrés, war ein lautstarkes Zentrum der Proteste.
In dem darauf folgenden Machtvakuum eröffnete sich ein Raum, in dem sich neue Führungspersönlichkeiten innerhalb der Parteistrukturen und Bewegungen in Position bringen konnten. Dies hatte zweifellos eine belebende Wirkung auf die sozialen Bewegungen, was sich in der Welle von Blockaden und Streiks Ende 2021 manifestierte, die die Putschregierung schließlich zum Einlenken und zum Ausrufen von Neuwahlen zwangen. Im Jahr 2021 wurde die MAS unter Arce und Choquehuanca wieder an die Macht gewählt.
Der größte Erfolg der MAS in den vergangenen Jahren war ihre Fähigkeit, die tiefen Gräben in der bolivianischen Gesellschaft geschickt zu überbrücken. Die traditionelle Linke in den Städten, die indigene Bauernbewegung in den ländlichen Gebieten und die agrarindustrielle Elite im Osten des Landes wurden alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße, von der MAS abgeholt.
Bolivien hat alles andere als eine Geschichte stabiler politischer Parteien. Die MAS hat für die längste Periode anhaltenden Wirtschaftswachstums und politischer Stabilität in der Geschichte des Landes gesorgt. Doch außerhalb der Parteistrukturen dürfte Morales‘ Rückkehr wohl kaum mit Freude und Enthusiasmus aufgenommen werden – vor allem nicht von der wachsenden bolivianischen Mittelschicht.
Die nächsten Wochen werden für die Zukunft der Partei entscheidend sein. Ein Ergebnis könnte sein, dass die Bemühungen um Einigkeit in der Parteibasis zu einem wackeligen »Waffenstillstand« zwischen den konkurrierenden Fraktionen führen. Möglichst bald soll ein offenes Treffen (cabildo) stattfinden, bei dem die Partei versuchen soll, ihre Differenzen zu überwinden. Mario Seña, Generalsekretär der CSUTCB, die eher Arce nahesteht, hat in einer Erklärung Arce, Choquehuanca und Morales aufgerufen, am Cabildo teilzunehmen: »Wir hoffen, dass sie teilnehmen. Wir hoffen, dass sie die Realität erkennen. Wir hoffen, dass sie die Augenbinden abnehmen und die wahren Gedanken des bolivianischen Volkes wahrnehmen.« Morales hat eine Teilnahme bisher jedoch ausgeschlossen. Inzwischen hat ein Treffen mit Beteiligung der CSUTCB, COB sowie mit Arce und Choquehuanca stattgefunden. Dort wurde unter anderem ein »echter« Kongress gefordert, »um die grundlegenden Wurzeln des politischen Instruments wiederherzustellen«.
Die sich vertiefende Spaltung innerhalb der MAS verheißt nichts Gutes für die Zukunft der links-indigenen Bewegung in Bolivien. Die nächsten Monate dürften für die Linke und das gesamte Land überaus schwierig werden.