02. Dezember 2020
Die russische Revolution, in der Antisemitismus die politischen Gräben überschritt, muss in all ihrer Komplexität erinnert werden. Denn die Geschichte lehrt uns, wie sich reaktionäre Ideologien verbreiten, und wie man dagegen ankämpft.
Plakat der Sowjets, dass die jüdische Bevölkerung dazu aufruft, sich der Revolution anzuschließen.
Ein früher Morgen am 25. Oktober 1917. In den leergefegten Straßen Petrograds nehmen Arbeiter die strategisch wichtigen Punkte ein. Im Winterpalast wartet Alexander Kerenski, Vorsitzender der Provisorischen Regierung, nervös auf seinen Fluchtwagen. Draußen haben Rotgardisten die zentrale Telegraphenstation unter ihre Kontrolle genommen. Der bolschewikische Griff zur Macht steht unmittelbar bevor.
Im Palast funktioniert weder Licht noch Telefon. Aus dem Fenster kann Kerenski die Palastbrücke sehen: Sie ist von bolschewikischen Matrosen in Beschlag genommen. Endlich kann ein US-amerikanisches Botschaftsauto aufgetrieben werden, und Kerenski tritt seine Flucht aus Petrograd an. Als der Wagen um die Ecke biegt, fällt ihm ein Spruch ins Auge, frisch aufgepinselt auf die Palastwand: »Nieder mit dem Juden Kerenski, lang lebe Genosse Trotzki!«
Auch ein Jahrhundert später hat der Slogan nichts von seiner Absurdität eingebüßt: Kerenski war selbstredend kein Jude, ganz im Gegensatz zu Trotzki. Zugleich ist diese Losung jedoch auch ein Hinweis darauf, welch verworrene und widersprüchliche Rolle Antisemitismus im revolutionären Prozess spielte. In der Mehrheit der existierenden Literatur zur russischen Revolution wird Antisemitismus als eine Artikulationsform der »Konterrevolution« adressiert, als eine Obsession der antibolschewikischen Rechten.
In dieser Annahme steckt selbstverständlich viel Wahres. Antisemitismus war ein prägender Wesenszug des zarischen Regimes, und auch die verheerende Flut antijüdischer Gewalt während des auf die Oktoberrevolution folgenden Bürgerkriegs (1918-1921) ging überwiegend auf das Konto der Weißen Armeen und anderer Kräfte, die sich der Sowjetregierung entgegengestellt hatten. Doch ist dies nicht die komplette Geschichte.
In der russischen Revolution überschritt Antisemitismus die politischen Gräben und fand Anklang bei allen sozialen Gruppen unabhängig von ihren politischen Präferenzen. Die marxistische Tradition sieht Rassismus und radikale Politik vornehmlich als Gegensätze, 1917 jedoch konnten Antisemitismus und Klassengegnerschaft sich auch überlappen und miteinander in Konkurrenz treten.
Die Februarrevolution krempelte das jüdische Leben um. Nur wenige Tage nach der Abdankung des Zaren wurden alle antijüdischen Restriktionen aufgehoben – mehr als 140 Statuten im Umfang von über 1000 Seiten wurden über Nacht null und nichtig. Um diesen historischen Moment der Befreiung zu markieren, berief der Petrograder Sowjet am 24. März 1917, am Vorabend des Pessachfestes, eine Feierstunde ein. Dem jüdischen Delegierten, der die Ansprache hielt, war keine Analogie zu groß: Die Februarrevolution ließe sich, so sprach er, mit der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei vergleichen.
Doch die formelle Emanzipation bedeutete nicht das Verschwinden antijüdischer Gewalt. Der Antisemitismus hatte in Russland tiefe Wurzeln, und seine Beständigkeit im Revolutionsjahr war eng verbunden mit dem Auf und Ab der revolutionären Entwicklung. Im Verlauf des Jahres wurden mindestens 235 Übergriffe auf Juden registriert. Obwohl sie gerade einmal 4,5 Prozent der Bevölkerung ausmachten, entfiel auf Juden ein Drittel aller körperlichen Angriffe gegen nationale Minderheiten.
Seit dem ersten Moment der Februarrevolution zirkulierten in den russischen Städten Gerüchte über unmittelbar bevorstehende Judenpogrome. Diese Gerüchte waren so allgegenwärtig, dass als die Sowjets von Petrograd und Moskau ihre ersten Sitzungen einberiefen, die Frage des Antisemitismus ganz oben auf ihrer Agenda stand. Zwar waren tatsächliche Gewaltausbrüche in diesen ersten Wochen noch selten. Im Juni jedoch tauchten in der jüdischen Presse bereits Berichte über »Massenaufläufe von Arbeitern« auf, die an den Straßenecken den pogromartigen Reden von Agitatoren, der Petrograder Sowjet sei in den Händen der Juden«, lauschen würden. Auch bolschewikische Führer wurden gelegentlich mit solchem Antisemitismus konfrontiert. Als Wladimir Bontsch-Brujewitsch, der später Lenins Sekretär werden sollte, Anfang Juli durch die Stadt lief, stieß er auf eine Menschenmenge, die lautstark antijüdische Pogrome forderte. Mit gesenktem Haupt eilte er hinfort. Und die Berichte über solche Aufläufe häuften sich.
Zuweilen überlappten sich Klassengegnerschaft und antisemitische Repräsentationen des Jüdischen: Ende Juli riefen Redner auf einer spontanen Straßenkundgebung die Menge dazu auf, »die Juden und die Bourgeoisie« zu »zerschlagen«. Während unmittelbar nach der Februarrevolution solche Reden noch auf keinerlei Zuspruch stoßen konnten, zogen sie nun große Menschenmengen an. Es war dies die Atmosphäre, in der sich der Erste Allrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten in Petrograd einfand.
Der erste Sowjetkongress war eine Versammlung historischen Ausmaßes. Über tausend Delegierte aus allen sozialistischen Parteien waren vor Ort. Sie repräsentierten hunderte lokale Sowjets und an die zwanzig Millionen russische Bürger. Am 22. Juni, als sich die Berichte über neue antisemitische Vorfälle häuften, verfasste der Kongress die bis dahin gewichtigste Stellungnahme zur Frage des Antisemitismus.
Die vom Bolschewiken Ewgeni Preobraschenski entworfene Resolution trug den Titel »Über den Kampf gegen den Antisemitismus«. Als Preobraschenski den Text verlesen hatte, sprang ein jüdischer Delegierter auf, um lautstark seine Zustimmung zu bekunden. Auch wenn die Resolution die in den Pogromen von 1905 ermordeten Juden nicht wieder auferwecken könne, so der Abgeordnete, würde sie doch dazu beitragen, die Wunden der jüdischen Gemeinschaft zu heilen. Der Kongress nahm die Resolution einstimmig an.
Inhaltlich teilte die Resolution weitgehend die langgehegte sozialdemokratische Position, die Antisemitismus im Bereich der Konterrevolution verortete. Sie enthielt jedoch eine essentielle, darüber hinaus gehende Feststellung: Die »große Gefahr«, so Preobraschenski, liege in der »Tendenz des Antisemitismus, sich hinter radikalen Losungen zu verstecken«. Diese Konvergenz von Antisemitismus und revolutionärer Politik präsentiere »eine enorme Gefahr sowohl für die Juden als auch für die gesamte revolutionäre Bewegung, da [sie] die Befreiung des Volkes im Blut unserer Brüder zu ersticken und die gesamte revolutionäre Bewegung mit Schmach zu überziehen droht.« Die Einsicht, dass Antisemitismus und radikale Politik sich überschneiden können, war für die russische sozialistische Bewegung, die bislang Antisemitismus als eine Domäne der extremen Rechten gesehen hatte, ein Novum. Als der revolutionäre Prozess sich Mitte 1917 intensivierte, erforderte die Präsenz von Antisemitismus in Teilen der Arbeiterklasse und der revolutionären Bewegung eine sozialistische Antwort.
Bis zum Spätsommer hatten die Sowjets eine breite Kampagne gegen Antisemitismus entfacht. Der Moskauer Sowjet etwa organisierte den ganzen August und September hindurch Vorträge und Versammlungen zum Thema in den Fabriken. Im ehemaligen jüdischen Ansiedlungsrayon spielten die Sowjets eine entscheidende Rolle in der Verhinderung von Pogromen. Im ukrainischen Tschernigow etwa hatten Mitte August Angehörige der Schwarzen Hundertschaft Juden beschuldigt, Getreide zu horten, was zu einer Welle antijüdischer Gewalt führte. Es war einer Sowjetdelegation aus Kiew zu verdanken, dass eine lokale Armeeeinheit dazu bewegt werden konnte, die Unruhen zu neutralisieren.
Auch die Provisorische Regierung versuchte, eine eigene Antwort auf den Antisemitismus zu finden. Mitte September erließ die Regierung eine Proklamation mit dem Versprechen, »die drastischsten Maßnahmen gegen alle Pogromstifter« zu ergreifen. Zwei Wochen später erging eine ähnliche Anweisung an die Minister, »alle ihnen zu Verfügung stehende Macht« zur Niederschlagung von Pogromen einzusetzen. Allerdings war die Autorität der Provisorischen Regierung angesichts der Erstarkung der Sowjets bereits in Auflösung begriffen. So hieß es im Leitartikel der regierungstreuen Zeitung Russkie Wedomosti vom 1. Oktober: »Die Pogromwelle wächst und weitet sich …, Berge von Telegrammen treffen tagtäglich ein …, doch die Provisorische Regierung ist überfordert … [und] die Verwaltungen vor Ort können nichts unternehmen …, alle Zwangsmaßnahmen sind komplett erschöpft.«
Die Sowjets hingegen waren alles andere als machtlos. Während die politische Krise sich verschärfte und der Prozess der Bolschewisierung Fahrt aufnahm, betrieben unzählige Sowjets in der Provinz ihre eigenen Kampagnen gegen Antisemitismus. In Witebsk, 350 Kilometer vor Moskau, stellte der lokale Sowjet Anfang Oktober einen bewaffneten Verband auf, um die Stadt vor Pogromen zu schützen. Eine Woche später fasste der Sowjet von Orjol den Beschlus, gegen alle Formen antisemitischer Gewalt zu den Waffen zu greifen.
Im russischen Fernen Osten fasste der All-Sibirische Sowjetkongress eine Resolution gegen den Antisemitismus, in der erklärt wurde, die revolutionäre Armee würde »alle notwendigen Maßnahmen« ergreifen, um Pogrome zu verhindern. Dies zeigt, wie stark der Kampf gegen Antisemitismus in Teilen der organisierten sozialistischen Bewegung verankert war: Selbst im Fernen Osten, wo relativ wenige Juden lebten und Pogrome rar waren, identifizierten sich die lokalen Sowjets mit dem Leid, das den Juden an der Westfront von Antisemiten zugefügt wurde.
Ohne Zweifel wurden die Sowjets gegen Mitte 1917 zu den politischen Hauptgegnern des Antisemitismus in Russland. So konstatierte auch die Zeitung Ewrejskaja Nedelja (»Jüdische Woche«) in einem Leitartikel: »Es muss gesagt werden, und dafür zollen wir ihnen Respekt, dass die Sowjets einen energischen Kampf [gegen Pogrome] ausgefochten haben. Vielerorts ist es nur ihren Kraftanstrengungen zu verdanken, dass der Friede wiederhergestellt werden konnte.«
Es ist dabei wichtig festzuhalten, dass diese Kampagnen gegen Antisemitismus Fabrikarbeiter und manchmal auch Aktivisten innerhalb der breiten sozialistischen Bewegung zum Ziel hatten. Der Antisemitismus wurde als ein Problem ausgemacht, das die soziale Basis der radikalen Linken und sogar Teile der revolutionären Bewegung selbst betraf. Dies war ein Eingeständnis darüber, dass Antisemitismus nicht bloß »von oben«, von den ehemaligen zarischen Eliten, gestreut wurde; er hatte eine organische Basis in Teilen der Arbeiterklasse, und musste auch entsprechend konfrontiert werden.
Für die bolschewikische Führung war revolutionäre Politik nicht bloß inkompatibel mit Antisemitismus, sondern Letzterer war die Antithese der Ersteren. »Gegen die Juden zu sein, heißt für den Zaren zu sein«, lautete 1918 eine Prawda-Schlagzeile. Doch wäre es verkürzt, von den klaren Statements Lenins und Trotzkis gegen Antisemitismus automatisch Schlussfolgerungen über die Gedanken und Gefühle der Parteibasis zu ziehen. Wie die Ereignisse von 1917 zeigen, standen Revolution und Antisemitismus nicht immer in einem Gegensatz zueinander.
Zeitungsberichte vom Sommer und Herbst 1917 zeugen davon, dass lokalen Bolschewiki immer wieder von Vertretern anderer sozialistischer Parteien vorgeworfen wurde, Antisemitismus zu begünstigen oder gar Antisemiten an der Parteibasis eine Heimat zu bieten. So stand etwa in Georgi Plechanows Zeitung Jedinstwo, dass ein Menschewik, der versucht habe, vor den Moskauer Kasernen im Petrograder Wyborg-Viertel zu den Soldaten zu sprechen, er von ihnen, angestachelt von Bolschewiken, mit »Nieder mit ihnen! Das sind alles Saujuden!« niedergebrüllt worden sei. Allerdings sei dazu angemerkt, dass Plechanow ab Mitte 1917 einem geradezu obsessiven Antibolschewismus frönte, und dieser Schilderung daher mit Vorbehalt begegnet werden muss.
Allerdings waren diese Anschuldigungen auch darüber hinaus weit verbreitet. Ungefähr zur gleichen Zeit berichtete die menschewikische Wperjod, in Moskau seien Menschewiken von Bolschewiken als »Saujuden« beschimpft worden, die »das Proletariat ausbeuten« würden. Als am 18. Juni Hunderttausende Arbeiter auf die Straße gingen, hätten einige Bolschewiken Demonstrationsbanner des Allgemeinen Jüdischen Arbeiter-Bunds niedergerissen und dabei antisemitische Parolen gerufen. Als Reaktion darauf warf der Bund-Führer Mark Liber den Bolschewiki sogar vor, sie seien »pro-pogromistisch«.
Im Oktober häuften sich solche Vorwürfe. In ihrer Ausgabe vom 29. Oktober ging die Ewrejskaja Nedelja sogar so weit zu behaupten, die antisemitische Schwarze Hundertschaft würde landesweit »in die Parteireihen der Bolschewiki strömen«.
Solche Vorwürfe waren selbstredend weit übertrieben. Die bolschewikische Führung stand dem Antisemitismus feindlich gegenüber, und viele Parteimitglieder waren daran beteiligt, dem Antisemitismus in den Betrieben und den Sowjets parteiübergreifend entgegenzutreten. Doch dass Bolschewismus auch Zuspruch seitens der ultrarechten Antisemiten erhalten konnte, war nicht ganz von der Hand zu weisen. Am 29. Oktober publizierte das rechtsextreme antisemitische Blatt Groza (»Das Gewitter«) einen erstaunlichen Leitartikel, in dem Folgendes zu lesen war:
»Die Bolschewiki haben die Macht ergriffen. Der Jude Kerenski, ein Lakai der Briten und der internationalen Bankiers, der frecherweise den Titel des Oberbefehlshabers der Streitkräfte an sich gerissen und sich selbst zum Premierminister über das russisch-orthodoxe Zarentum [sic!] ernannt hatte, wird aus dem Winterpalast hinausgefegt, wo er das Andenken des Friedensstifters Alexander III. mit seiner Anwesenheit besudelt hatte. Am 25. Oktober haben die Bolschewiki alle Regimenter hinter sich versammelt, die sich geweigert hatten, einer Regierung von jüdischen Bankiers, verräterischen Generälen, verräterischen Landbesitzern und diebischen Kaufleuten zu dienen.«
Die Zeitung wurde sofort von den Bolschewiki geschlossen, doch der unwillkommene Zuspruch alarmierte die Parteiführung.
Was die Ängste der moderaten Sozialisten vor einer Überlappung von Antisemitismus und Revolution befeuerte, war die Art, wie die Bolschewiki die Massen mobilisierten und ihren Klassenhass kanalisierten. Am 28. Oktober, während die Revolution in vollem Gange war, erließ das menschewikische Wahlkomitee von Petrograd einen verzweifelten Appell an die hauptstädtischen Arbeiter, und warnte die Leserschaft, die Bolschewiki hätten »die unwissenden Arbeiter und Bauern« verführt; der Ruf »Alle Macht den Sowjets« könne leicht in »Schlagt die Juden, schlagt die Krämer« umschlagen. Laut dem Menschewiken Lwow-Rogatschewski läge die »Tragödie« der russischen Revolution darin, dass »dunklen die Massen unfähig« seien, »den Provokateur von dem Revolutionär zu unterscheiden, oder einen Judenpogrom von einer sozialen Revolution«.
Diese Bedenken hallten auch in der jüdischen Presse wider. So hieß es in einem Leitartikel der Ewrejskaja Nedelja: »Genosse Lenin und seine bolschewikischen Freunde rufen das Proletariat auf, ›vom Wort zur Tat‹ überzugehen, aber wo eine slawische Menge sich versammelt, bedeutet ›vom Wort zur Tat übergehen‹ in Wahrheit ›auf die Juden eindreschen‹.«
Entgegen dieser alarmistischen Prognosen blieb jedoch die große Pogromwelle in den Stunden und Tagen nach der Oktoberrevolution aus. Der Aufstand mündete, den Vorhersagen zum Trotz, nicht in antisemitische Gewalt. Die oben zitierten Befürchtungen zeugen davon, wie tief die Furcht vor den »dunklen Massen« bei einem Teil der sozialistischen Linken, die sie zu vertreten beanspruchte, verankert war. Dies traf besonders auf die Intelligenzija zu, die der Vorstellung eines proletarischen Aufstandes generell mit Grauen gegenüberstand, da sie Gewalt und Barbarei als seine logische Konsequenz sah.
Was die Bolschewiki in dieser Periode auszeichnete, war ihre Nähe zu den Petrograder Massen, die die Intelligenzija so fürchtete.
Die Überlappungen zwischen Antisemitismus und revolutionärer Politik waren jedoch real. Nur wenige Tage nach der Oktoberrevolution hielt der Schriftsteller Ilja Ehrenburg – der später zu den bekanntesten jüdischen Autoren der Sowjetunion werden sollte – seine Gedanken zu dem soeben stattgefundenen weltbewegenden Ereignis fest. Sein Zeugnis ist die vielleicht lebhafteste Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen Antisemitismus und Revolution im Jahr 1917:
»Gestern stand ich in der Warteschlange, um an den Wahlen für die Verfassungsgebende Versammlung teilzunehmen. Leute um mich herum sagten: ›Wer gegen die Saujuden ist, stimme für Nr. 5 [die Wahlliste der Bolschewiki]!‹, ›Wer für die Weltrevolution ist, stimme für Nr. 5!‹ Der Patriarch fuhr vorbei und besprenkelte die Wartenden mit Weihwasser; alle entblößten ihre Häupter. Eine Gruppe vorbeilaufender Soldaten schmetterte uns die ›Internationale‹ entgegen. Wo bin ich? Sieht es so in der Hölle aus?«
In dieser verstörenden Szenerie verschwimmen die Grenzen zwischen revolutionärem Bolschewismus und konterrevolutionärem Antisemitismus. Ehrenburgs Bericht greift die quälende Frage aus Isaak Babels Bürgerkriegserzählungen vor: »Wo ist die Revolution, und wo die Konterrevolution?«
Trotz der Bestrebungen der Bolschewiki, ihn als rein »konterrevolutionäre« Erscheinung einzuordnen, entzog sich Antisemitismus solchen klaren Kategorisierungen und tauchte beiderseits der politischen Fronten in komplexen und unerwarteten Formen auf. Dies zeigte sich in aller Schärfe sechs Monate später, als im Frühjahr 1918 im ehemaligen jüdischen Ansiedlungsrayon die ersten Pogrome nach der Oktoberrevolution ausbrachen. In Städten und Siedlungen der Nordwestukraine, etwa in Gluchow, wurde die Macht der Bolschewiki durch antisemitische Gewalt seitens der lokalen Kader und Rotgardisten zementiert. Die Konfrontation der Bolschewiki mit Antisemitismus im Jahre 1918 war oft eine Konfrontation mit der eigenen sozialen Basis.
Über hundert Jahre nach der Oktoberrevolution, erinnern wir sie zu Recht als einen Moment der radikalen sozialen Umgestaltung, in dem eine neue Welt möglich schien. Doch die Geschichte der Revolution muss in all ihrer Komplexität festgehalten werden.
Antirassismus muss kultiviert und erneuert werden, und zwar kontinuierlich. Ein Jahrhundert später, während wir gegen den Schaden ankämpfen, den Rassismus der Klassenpolitik zugefügt hat, zeigt uns die Geschichte von 1917, wie reaktionäre Ideen Fuß fassen, aber auch wie sie konfrontiert und bekämpft werden können.
Brendan McGeever ist Dozent für Soziologie an Birkbeck, University of London und Autor des Buches »The Bolsheviks and Antisemitism in the Russian Revolution«.
Brendan McGeever ist Dozent für Soziologie an Birkbeck, University of London und Autor des Buches »The Bolsheviks and Antisemitism in the Russian Revolution«.