08. Juli 2022
Boris Johnson wurde von seinen eigenen Leuten gestürzt – sein Mangel an Integrität ging selbst ihnen zu weit. Doch wer sich nur an seiner abstoßenden Persönlichkeit abarbeitet, übersieht seine katastrophale politische Bilanz.
Boris Johnson hat nun wieder mehr Zeit zum Fahrradfahren – seine Politik bleibt.
Boris Johnsons Sturz ist das Resultat von monatelangen Skandalen und immer größerem öffentlichen Druck – ständig belog er die Wählerinnen und das Parlament. Berichte über sexuelle Übergriffe durch den stellvertretenden parlamentarischen Geschäftsführer der Konservativen, Chris Pincher, sowie darüber, dass Johnson von seinem Fehlverhalten wusste, als er ihn auf seinen Posten berief, reihen sich ein in eine schier endlose Serie an Normverletzungen. Doch wirklich überrascht hat das niemanden, auch nicht die dutzenden konservativen Kabinettsmitglieder, die sich bis vor kurzem noch loyal zu Johnson verhielten, ihm nun aber die Amtsfähigkeit absprechen.
In seiner Rücktrittsankündigung vermied es Johnson, sein Amt als Premierminister mit sofortiger Wirkung abzugeben. Dennoch ist klar, dass innerhalb der Konservativen Partei ein Machtkampf um seine Nachfolge entbrennen wird. Da die Tories im Unterhaus über eine komfortable Mehrheit verfügen – auch dank der dutzenden neuen Abgeordneten, die 2019 unter Johnson hinzukamen – ist nicht zu erwarten, dass sich die Regierungspolitik dadurch wesentlich ändern wird. Viele der in den letzten Tagen Zurückgetretenen waren enge Vertraute des Premierministers, die sich nun für den Kampf um seine Nachfolge in Stellung bringen.
In den Medien war viel davon die Rede, dass Johnsons Weigerung, zurückzutreten, eine Verfassungskrise darstelle – und, noch schlimmer, die Queen dadurch in eine »peinliche Situation« geraten könnte. Der Fernsehjournalist Andrew Neil, der vor kurzem noch den relativ erfolglosen rechten Fernsehsender GB News mit aufgebaut hatte, behauptete auf Twitter, die Vergleiche zwischen Johnson und Donald Trump hätten sich nun endlich bewahrheitet. Übertriebene Äußerungen dieser Art dienen heute jedoch nur dazu, es so darzustellen, als stünde Johnson irgendwie außerhalb des Mainstreams seiner Partei – ein Außenseiter, den man leicht marginalisieren könne.
Der Labour-Vorsitzende Keir Starmer hat zu Neuwahlen aufgerufen und behauptet, dass ein »grundsätzlicher« Wandel an der Regierung nötig sei, nicht nur ein Wechsel an der Spitze der Konservativen. Aber Starmer und seine Partei haben sich konsequent geweigert, auch eine tatsächliche politische Alternative zu Johnson zu formulieren. Eine Labour-Politikerin nach der anderen bezichtigt Johnson im Fernsehen der Lüge, der Arroganz und der Amtsunfähigkeit und bezeichnet das interne Drama bei den Tories als »Ablenkung« von den Regierungsgeschäften. Doch Starmers Flügel weigert sich standhaft, die ideologische Agenda, die Johnson und seine Vertrauten seit zwölf Jahren verfolgen, auch als solche zu kritisieren. Als überzeugte Zentristinnen möchten Starmer und seine Vertrauten lieber als kompetente Anwärter für das Management einer depolitisierten Regierungsmaschinerie gesehen werden.
Natürlich ist es wichtig, das gewählte Politikerinnen den gleichen Regeln folgen wie alle anderen auch, doch Prinzipienreiterei stellt angesichts der Regierungsbilanz der Tories eine kraftlose politische Strategie dar. Während ihrer zwölfjährigen Regierungszeit – davon fünf in Koalition mit den Liberaldemokraten – hat Großbritannien erlebt, wie eine permanente Sparpolitik die öffentlichen Dienstleistungen ausgehöhlt hat. Der Umgang mit der Pandemie priorisierte die Freiheit von Unternehmern gegenüber der Freiheit von Zehntausenden von Menschen, atmen zu können. Und es machte sich ein reaktionärer Nationalismus breit, der sich etwa in dem Vorhaben niederschlug, abgelehnte Asylbewerberinnen einfach in Flugzeuge nach Ruanda zu setzen, egal, woher sie ursprünglich herkamen.
Die verhaltene Reaktion der Labour Party auf den Kollaps der Regierung scheint jedoch konsistent mit Starmers Strategie der vergangenen zwei Jahre zu sein, sich als »verantwortungsvolle« Oppositionskraft nah an die Regierung zu klammern – im Kontrast zum »ideologischen« Projekt von Jeremy Corbyn. Selbst als die Pläne für die Abschiebungen nach Ruanda bekannt wurden, kritisierte Starmer sie aufgrund ihrer hohen finanziellen Kosten, nicht ihrer brutalen Unmenschlichkeit. Und von der pro-europäischen Haltung, die Starmers Basis einst verband, ist praktisch nichts mehr zu hören. Doch während politische Oppositionsarbeit zu einer Frage persönlicher Rechtschaffenheit umgedeutet wird und viel davon die Rede ist, dass in der britischen Politik die Standards einbrechen, wird bekannten Lügnern wie Tony Blair und seinem früheren Berater Alastair Campbell erlaubt, ihr Image wieder reinzuwaschen.
Während die Labour Party sich weigert, eine eigene politische Position zu formulieren, haben andere diese Rolle übernommen. Im Juni streikten die Eisenbahnerinnen der Gewerkschaft RMT und gewannen in breiten Schichten der von gestiegenen Lebenshaltungskosten geplagten britischen Gesellschaft Sympathie, während die Labour-Führung und die Massenmedien davon ausgingen, die Öffentlichkeit sei von den Streiks einfach nur genervt. Und so blieb es Martin Lewis – dem Gründer der Webseite Money Saving Expert – überlassen, anstelle eines Labour-Vertreters im Fernsehen zu erläutern, dass die gestiegenen Energiepreise bedeuten, dass sich im Winter Millionen von Britinnen und Briten ihre Heizkosten nicht mehr leisten werden können, was zu »sozialen Unruhen« führen könnte, die die Streitereien der Tories über Johnson in den Schatten stellen würden.
Zwar gibt es auch innerhalb der Konservativen Elemente, die einem interventionistischen Staat nicht abgeneigt sind. Doch der kommende Kampf um den Parteivorsitz scheint eher ein Wettstreit zwischen Marktradikalen zu werden. Der Austausch von Finanzminister Rishi Sunak gegen den Ölmagnaten Nadhim Zahawi in den letzten Tagen von Johnsons Amtszeit – woraufhin eine geplante Erhöhung der Unternehmenssteuern sofort auf Eis gelegt wurde – gibt einen Vorgeschmack darauf. Die Regierungspolitik von Johnson wurde in den letzten Tagen bei den Tories vor allem dafür kritisiert, dass er nicht genug Steuersenkungen plane und angeblich eine zu »grüne« Agenda verfolge. Auch ist zu erwarten, dass beim Kampf um Johnsons Nachfolge die Angstmache vor dem schottischen Nationalismus und vor dem Aufstieg von Sinn Féin in Irland eine große Rolle spielen wird.
Johnson wurde auch deshalb gestürzt, weil sich viele Tory-Abgeordnete vor den nächsten Parlamentswahlen fürchten, nachdem bei Nachwahlen in jüngster Zeit bereits einige Sitze verloren gingen. Sorgen machen sich sowohl Abgeordnete aus »Red Wall«-Sitzen im Norden, die früher fest in der Hand von Labour waren, als auch ihre Kolleginnen aus dem Süden, denen die Liberaldemokraten gefährlich werden könnten. Da die Opposition in den letzten zwei Jahren insgesamt ein sehr schwaches Bild abgab, ist aber zu erwarten, dass die Konservativen unter neuem Vorsitz zu alter Stärke zurückkehren werden – nicht zuletzt dank wohlwollender Berichterstattung, wie sie auch Johnson und seine Vorgängerin Theresa May genossen, als sie das Ruder übernahmen. Selbst in Johnsons schwerster Stunde, nach mehr als einer Hälfte der Legislaturperiode, führt Labour nur wenige Prozentpunkte vor den Tories. Für eine Mehrheit im Unterhaus würde ein solcher Vorsprung wahrscheinlich nicht ausreichen.
Starmers Partei scheint überzeugt, dass ihnen die Macht durch die Inkompetenz der Tories einfach zufallen wird. Der Ausschluss von Tausenden von Sozialistinnen und Sozialisten und die vollständige Abgrenzung der Labour-Führung von dem linksgerichteten Programm, mit dem Starmer selbst 2020 zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, unterstreichen, dass ein radikaler Bruch mit der Corbyn-Ära stattgefunden hat. Labour hat sich zur »respektablen« Option, zur »Tory light«-Partei gewandelt, die sich dem britischen Kapital als »sichere« Alternative andient. Doch trotz aller personellen Konflikte bleibt die Grundstruktur der britischen Politik bestehen: Älteren, wohlhabenden Menschen mit Immobilienbesitz, deren hohe Wahlbeteiligung den Tories eine solide Basis garantiert, steht die Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung gegenüber, deren materielle Interessen in den Medien praktisch nicht vorkommen. Solange sich Labour weigert, für letztere einzustehen und eine klare politische Trennlinie zu ziehen, hat die Partei keine Chance, die Dominanz der Tories über die britische Politik zu brechen.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).