28. Juli 2022
Welche Strategie steckt hinter Putins Angriff auf die Ukraine? Gar keine, meint der russische Soziologe Boris Kagarlitzki. Wie instabil die Macht des Kremls tatsächlich ist und was das für die russische Linke bedeutet, erklärt er im JACOBIN-Interview.
Wladimir Putin in Moskau, 27. Juli 2022.
Während sich der russische Angriff auf die Ukraine in den fünften Monat hineinzieht, droht der Krieg die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu verlieren. Zumindest in Europa dominieren steigende Lebensmittel- und Gaspreise, Inflation und ein weiterer Sommer voller Rekordtemperaturen die Schlagzeilen. Je länger der Krieg andauert, desto mehr wird er normalisiert und akzeptiert. Das haben wir zuvor schon bei den Kriegen in Afghanistan und im Jemen erlebt. Für die Menschen in der Ukraine bleibt die Invasion jedoch eine unausweichliche Realität. Russische Truppen dringen weiter in den Osten des Landes vor und die Zahl der zivilen Opfer steigt.
Um Nachrichten aus Russland ist es in den letzten Monaten merklich ruhiger geworden. Über Antikriegsproteste, chauvinistische Pro-Putin-Kundgebungen und geschlossene McDonald’s-Filialen hört man dieser Tage nichts mehr. Die Unterstützung des Krieges innerhalb der russischen Bevölkerung mag zwar gedämpft sein, Anzeichen einer wirksamen politischen Opposition gibt es allerdings auch nicht.
Boris Kagarlitzki ist Soziologe, lebt in Moskau und moderiert den populären russischen YouTube-Kanal Rabkor. JACOBIN hat mit ihm über die Auswirkungen des Krieges auf die russische Gesellschaft, Putins Machtpolitik und die Zukunftsaussichten einer linken Opposition gesprochen.
Zu Beginn der Invasion in der Ukraine gab es viele Berichte über Antikriegsproteste in ganz Russland. Seitdem scheint es ruhiger geworden zu sein. In den Medien liest man, dass der Großteil der russischen Bevölkerung hinter Putin stehen würde. Du lebst in Moskau – wie ist die Stimmung dort?
Am Anfang gab es ziemlich viele Proteste, aber sie wurden sehr brutal niedergeschlagen. Fast täglich kommen Menschen in den Knast – der Kommunalpolitiker Alexej Gorinow, zum Beispiel, wurde gerade zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, weil er während einer Sitzung des Gemeinderats des Moskauer Bezirks Krasnoselski eine Antikriegserklärung abgegeben hatte.
Auf diese Weise versucht man, den Menschen Angst zu machen. Bis zu einem gewissen Grad funktioniert das auch. Nicht weniger als 4 Millionen Menschen haben das Land seit Beginn der sogenannten »Spezialoperation« verlassen. Die Ukraine meldete, dass etwa 7 bis 8 Millionen Menschen das Land verlassen haben, aber etwa die Hälfte von ihnen ist bereits zurückgekehrt. Die Zahl der Menschen, die aus Russland ausgewandert sind, entspricht also in etwa der Zahl der Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind. Wenn man bedenkt, dass hier niemand bombardiert wird, kann man sich vorstellen, wie die Bevölkerung zu diesem Krieg steht.
Du glaubst also nicht, dass die Mehrheit den Krieg unterstützt?
Das ist das interessanteste soziologische und politische Problem: Die russische Bevölkerung ist weder für noch gegen den Krieg. Sie reagieren nicht auf den Krieg. Natürlich gibt es Meinungsumfragen, die von kremlnahen Medien veröffentlicht und von westlichen und einigen pro-ukrainischen Quellen enthusiastisch zitiert werden. Sie wollen es so aussehen lassen, als stehe die gesamte russische Bevölkerung hinter Putin und als seien das alles Faschistinnen und Faschisten – aber das hat nichts mit der Realität zu tun.
Als Soziologe weiß ich, dass die Zahl der Menschen, die bereit sind, auf Meinungsumfragen zu antworten, seit Ausbruch des Krieges so tief gesunken ist, dass diese Umfragen völlig unrepräsentativ sind. Vor dem Krieg waren es schon weniger als 30 Prozent, was bereits sehr wenig ist. Aber mittlerweile gilt es schon als großer Erfolg, wenn 10 Prozent der Befragten antworten, in der Regel sind es eher 5 bis 7 Prozent.
»Selenskyj hat angekündigt, er wolle 1 Million Menschen mobilisieren. Russland kann nicht mal 200.000 Menschen mobilisieren, weil alle davonlaufen.«
Von diesen 5 Prozent unterstützen etwa 65 bis 70 Prozent den Krieg. Eine Interpretation dieser Datenlage, die vor allem von der liberalen Opposition geteilt wird, besagt, dass die Menschen einfach Angst hätten. Ich glaube das ist nicht so recht. Unter den 95 Prozent, die sich weigern, eine Antwort abzugeben, könnte natürlich eine beträchtliche Anzahl von Menschen gegen den Krieg sein und sich eben nicht trauen, das auch so zu sagen. Mein Verdacht ist hingegen aber, dass die meisten Menschen überhaupt keine Meinung dazu haben – aber das kann ich natürlich nicht beweisen.
Überhaupt keine Meinung?
Es mag Dich schockieren, aber bis vor kurzem wussten die meisten Russinnen und Russen nicht einmal, dass in der Ukraine Krieg herrscht. Im Fernsehen wird der Begriff »Spezialoperation« verwendet, was suggeriert, dass Spezialeinheiten irgendwo einen begrenzten Militäreinsatz durchführen. Das wurde nicht mit einem echten Konflikt in Verbindung gebracht, mit Panzern und Artillerie und so weiter. Es wurde auch nicht über ukrainische Zivilopfer berichtet.
Die meisten Menschen schauen keine politischen Sendungen im Fernsehen und sie konsumieren auch keine oppositionellen Medien im Internet. Sie interessieren sich grundsätzlich nicht für Politik. Das gesamte politische Meinungsspektrum – sowohl die Loyalisten als auch die Opposition, ob links oder faschistisch, liberal oder konservativ – macht vielleicht 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung aus, wahrscheinlich sogar weniger als 10 Prozent. Der Rest ist völlig unpolitisch.
Für das Regime ist das ist zugleich ein großer Vorteil als auch die größte Herausforderung. Es tut zwar niemand etwas gegen die Regierung, aber es tut auch niemand etwas für die Regierung. Deshalb ist die Impfkampagne gescheitert und deshalb kann Putin keine allgemeine Mobilmachung ankündigen. Wolodymyr Selenskyj hat neulich angekündigt, er wolle 1 Million Menschen mobilisieren. Russland kann nicht mal 200.000 Menschen mobilisieren, weil alle davonlaufen.
Seit Beginn des Krieges sind mehrere unabhängige Medienhäuser geschlossen worden und jetzt will die Staatsanwaltschaft die Journalisten- und Mediengewerkschaft verbieten. Gibt es in Russland noch eine Öffentlichkeit, in der eine Debatte überhaupt möglich ist?
Die Regierung setzt zwar alles daran, um einen öffentlichen Diskurs zu unterbinden, aber es gelingt ihr nicht. Das Gute an diesem Land ist, dass alles scheitert, egal was passiert. Deshalb scherzen wir, dass der Faschismus in Russland nie Fuß fassen könnte – weil hier gar nichts funktioniert.
»Heute gibt es mehr politische Gefangene als unter Breschnew.«
Unser YouTube-Kanal Rabkor hat etwa 90.000 Abonnentinnen und sendet fast täglich. Aber Vestnik Buri [Anm. d. Red.: beliebter linker YouTube-Kanal in Russland] zum Beispiel hat etwa 200.000 Abonnenten – ganz zu schweigen von den liberalen Medienprojekten. Telegram-Kanäle sind ebenfalls sehr populär, dort erhalte ich viele meiner Informationen und dort finden auch Debatten statt.
Natürlich sind einige der Leute, die diese Inhalte produzieren, ausgewandert, und diejenigen von uns, die noch vor Ort sind, werden natürlich mit Problemen konfrontiert. Ich werde zum Beispiel als »ausländischer Agent« bezeichnet. Wenn ich in der Öffentlichkeit spreche, muss ich vorher ein dummes Mantra vortragen, wonach ich ein ausländischer Agent bin. Ansonsten wird eine Geldstrafe verhängt. Aber die Leute lachen immer noch über die Obrigkeiten, und das ist eine weitere gute Sache an Russland. Sie stecken Leute ins Gefängnis, sie verhaften sie und lassen sie Geldstrafen zahlen – aber die Leute lachen immer noch über sie.
Ich bin gespannt darauf, was die Regierung mit Igor Strelkow macht. Strelkow war eine der Schlüsselfiguren in Donezk 2014 und ist ein sehr aggressiver russischer Imperialist und Militarist. Er teilt die Ziele der »Spezialoperation«, ist aber zum schärfsten Kritiker der Regierung geworden. Seine Äußerungen werden aus diesem Grund häufig in den ukrainischen Medien wiedergegeben. Wenn sie ihn verhaften, wird das für viel Unmut sorgen, gerade unter denjenigen in der Bevölkerung, die den Krieg unterstützen.
Du wurdest unter der Regierung von Breschnew wegen der Verbreitung von Samisdat [Anm. d. Red.: im Selbstverlag erschienene oppositionelle Inhalte] verhaftet und nochmals unter Putin wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration. Ist die Repression heute schlimmer als in der Sowjetunion?
Das ist schwer zu vergleichen, denn einige Aspekte sind schlimmer, andere wiederum besser. Heute gehen Menschen für kleinere Vergehen ins Gefängnis, die unter Breschnew unbemerkt geblieben wären. In dieser Hinsicht ist es also auf jeden Fall schlimmer geworden. In der UdSSR ging es um Stabilität. Sie wollten nicht, dass jemand diese Stabilität untergräbt. Andererseits wäre es auch kontraproduktiv gewesen, zu hart vorzugehen, weshalb die Repression routiniert und nicht sehr streng war.
Heute gibt es mehr politische Gefangene als unter Breschnew. Außerdem müssen die Menschen jetzt Geldstrafen zahlen, was zu Sowjetzeiten nicht üblich war. Geldstrafen sind eine besonders kapitalistische Art der Repression dissidenter Meinungen. Eine definitive Verbesserung im Vergleich zu früher ist das Internet. Das eröffnet uns tausendmal mehr Möglichkeiten als der Samisdat.
Wenn die meisten Russinnen und Russen keine Position zum Krieg beziehen, was beschäftigt sie dann? Die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen werden den Menschen doch sicherlich Sorgen bereiten?
Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich und das werden wir ab Ende August oder September ernsthaft zu spüren bekommen. Es ist ein schrittweiser Prozess. Erst schließt ein Unternehmen und die Menschen müssen sich einen neuen Arbeitsplatz suchen, und dann schließt ein weiteres und so weiter. Bestimmte Waren verschwinden, aber nicht alles.
Die meisten Russinnen und Russen sind wie gesagt unpolitisch. Was ihnen am Herzen liegt, sind ihre Arbeitsplätze, ihre Familien, ihre engsten Freundinnen und Freunde und vielleicht ihre Häuser und Haustiere. Die russische Bevölkerung ist auch nicht besonders religiös, obwohl die Kirche als politische Institution eine wichtige Rolle spielt. Solange das Familienleben intakt ist, lässt sich der Rest aushalten – das ist mehr oder weniger die Haltung.
Aber es kann so nicht ewig weitergehen. Der Krieg wird sich nämlich auch auf das Familienleben, den Arbeitsmarkt und sogar das Privatleben auswirken. Und sobald die Menschen das spüren, können sich die Dinge sehr schnell ändern. Ich denke, sobald die Regierung etwas tut, das das Leben von Familien betrifft, könnten sich sehr plötzlich Proteste formieren. Aus eben diesem Grund hat die Regierung auch noch keine offene Kriegserklärung abgelegt.
Es wird viel darüber diskutiert, ob Sanktionen ein wirksames Mittel sind, um die russische Kriegsmaschinerie zu bremsen und Putin im eigenen Land zu treffen. Es klingt, als würdest diese Strategie für erfolgreich halten.
Nun, es gibt Sanktionen und es gibt Sanktionen. Einige davon spielen Putin in die Hände, wie etwa die Versuche, die russische Kultur zu »canceln« und so weiter. Denn Abschottung ist genau die Ideologie des Regimes.
Wie sieht es mit Wirtschaftssanktionen aus, etwa einem Gasembargo?
Das wirksamste Instrument war bisher der Rückzug ausländischer Firmen aus Russland, denn das führt zu anderen Problemen, insbesondere zu Embargos für bestimmte Lieferungen wie Ersatzteile.
»Hinter Putin steht hauptsächlich die Polizei und eine Gruppe der privilegiertesten Oligarchen.«
Die russische Autoindustrie ist zum Beispiel komplett auf Eis gelegt. Sie ist so abhängig von deutschen, japanischen und südkoreanischen Teilen, dass sie mittlerweile nichts mehr produzieren kann. Auch der militärisch-industrielle Komplex leidet wegen ähnlicher Lieferengpässe. Dasselbe gilt für die Luftfahrt: Viele einheimische Unternehmen sind bereits bankrott und werden nun von großen Fluggesellschaften wie Aeroflot und S7 geschluckt.
Wie lange kann die russische Wirtschaft Deiner Meinung nach noch durchhalten?
Je nach Branche zwei, vielleicht drei Monate. Das Wichtigste ist jedoch, dass die Leute, denen wirklich alles gehört, langsam selbst Verluste machen. Niemand sorgt sich um die Industrien oder die Menschen, jeder sorgt sich um die Profite.
Innerhalb der Bourgeoisie gibt es Gruppen, die mit den aktuellen Geschehnissen unzufrieden sind und ehrliches Interesse an einer Art von Friedensabkommen zeigen. Das Problem ist, dass sie politisch nicht viel zu sagen haben, denn die Entscheidungen trifft nach wie vor ein sehr kleines Team, das sich um Putin schart. Nicht einmal jeder Oligarch hat Zugang zu ihm.
Ich bezeichne das als»irrationale Zentralisierung der Macht«. Sie findet schon seit langem statt und ist zum Teil auf die Ineffizienz des Staates zurückzuführen. Die lokale Bürokratie ist so unproduktiv und korrupt, dass das Zentrum immer mehr Befugnisse bündeln muss, um etwas zu erreichen. Das Zentrum traut den lokalen Bürokratinnen und Bürokraten gerade deshalb nicht, weil es sie systematisch untergräbt. Es ist ein sich selbst erhaltendes System, das völlig irrational geworden ist und weit über das hinausgeht, was wir in der Sowjetzeit gesehen haben.
Wie Du gerade sagtest, wächst die Unzufriedenheit innerhalb der Bourgeoisie. Könnte das dazu führen, dass es innerhalb der russischen Elite oder des Staates zu Spaltungen kommt?
Putin ist der Einzige, der Entscheidungen trifft, auch wenn er derzeit extrem isoliert ist. Um Putin herum gibt es eine kleine Gruppe, die ebenfalls extrem isoliert ist, sogar innerhalb der Elite. Das Militär scheint nicht zufrieden zu sein. Wahrscheinlich gibt es Spaltungen innerhalb des Militärs. Wir wissen es noch nicht, aber es gibt Anzeichen dafür.
Hinter Putin steht hauptsächlich die Polizei und eine Gruppe der privilegiertesten Oligarchen. Das ist also eine sehr kleine Gruppe innerhalb der kapitalistischen Klasse. Deshalb glaube ich nicht, dass sie lange überleben werden, denn das widerspricht der langfristigen Logik der kapitalistischen Gesellschaft. Man braucht eine breitere Basis, zumindest innerhalb der herrschenden Klasse, um das Land zu regieren.
Das erklärt auch die Lähmung der Regierung in den letzten vier Monaten. Diese sehr kleine Gruppe, die inzwischen nicht einmal die Elite repräsentiert, war nicht in der Lage, sich über irgendeine Initiative einig zu werden und eine Entscheidung zu treffen.
Was ist ihr Plan? Ist es ihr Ziel, ein wieder erstarkendes Russland in den Westen zu reintegrieren oder orientieren sie sich langfristig eher an Asien?
Es gibt keinen Plan. Und genau das ist Problem. Sie wissen, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht haben und dass dieser Fehler womöglich fatal sein könnte, aber das ist auch schon alles. Die Tatsache, dass ein Fehler gemacht wurde, ist für Putin und sein Team inakzeptabel. Die Regierung erkennt Fehler nicht mal inoffiziell an und öffentlich schonmal gar nicht – aber ohne das Eingeständnis, dass Fehler gemacht wurden, kommt man nicht weiter. Dann kann man keine Strategie entwickeln.
»Die Invasion wurde nicht vorbereitet, denn es ging von Anfang an nicht um Außenpolitik, sondern um Innenpolitik.«
Analysen aus dem Westen gehen davon aus, dass wir es mit rationalen Menschen zu tun haben, die rationale Entscheidungen treffen – oder zumindest mit Menschen, die überhaupt Entscheidungen treffen. Tatsache ist aber, dass niemand irgendetwas entscheidet. Selbst wenn es Vorschläge gibt, funktionieren sie nicht, weil es keinen einzigen Vorschlag gibt, der innerhalb der Elite von genügend Leuten akzeptiert wird.
Wenn es keinen Plan gibt, was hat Putin dann dazu bewogen, nach acht Jahren Stillstand im Donbass den Rubikon zu überschreiten und in die Ukraine einzumarschieren?
Das ist ein weiterer gängiger, aber verständlicher Fehler der Analysen aus dem Westen: Sie basieren auf der Annahme, dass der Krieg auf geopolitische Erwägungen zurückzuführen ist. Internationale Politik spielt meiner Meinung nach, wenn überhaupt, eine sehr untergeordnete Rolle. Der Angriff gegen die Ukraine war vor allem durch die innenpolitische Situation bedingt. Das erklärt auch, warum er so plötzlich kam und so kläglich scheiterte. Die Invasion wurde nicht vorbereitet, es stecken keine diplomatischen Überlegungen dahinter, denn es ging von Anfang an nicht um Außenpolitik, sondern um Innenpolitik.
Während der sogenannten »Großen Rezession« von 2008 bis 2010 schrumpfte die russische Wirtschaft schneller als jede andere entwickelte Volkswirtschaft. Russland war komplett abhängig von Öl und Gas. Auf den Abschwung der Weltwirtschaft folgte ein Einbruch der Nachfrage nach Öl und Gas. Und das wiederum brachte die Wirtschaft Russlands zum Erliegen.
Bis 2011 erholte sich das Land jedoch mit am schnellsten. Nachdem die US-Notenbank ihr Programm zur quantitativen Lockerung begonnen hatte, führten Spekulationen auf dem Ölmarkt dazu, dass russische Unternehmen und die russische Elite mit Geld überschüttet wurden. Das hat wiederum eine klassische Überakkumulationskrise ausgelöst. Sie hatten viel Geld, aber sie konnten es nirgendwo investieren. Dazu hätte man die Struktur der russischen Wirtschaft ändern müssen, was auch eine Veränderung der Gesellschaftsstruktur bedeutet hätte. Unter einer derart konservativen Regierung und Elite ist das aber undenkbar.
Das schürte innenpolitische Widersprüche, denn jeder konnte sehen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich extrem schnell weitete, sogar im Vergleich zur vorangegangenen Periode. Das führte auch innerhalb der Elite zu Auseinandersetzungen darüber, wie dieses Geld unter den verschiedenen Gruppen aufgeteilt werden sollte. Das Ergebnis waren große Infrastrukturprojekte wie die Krim-Brücke, die teuerste Brücke der Geschichte.
In einer solchen Situation bietet die militärische Expansion eine weitere Möglichkeit, das zusätzliche Geld zu investieren. Erst produziert man Unmengen militärischer Ausrüstung, für die man dann irgendeine Verwendung braucht – also marschiert man in Syrien ein. Im Grunde genommen verbrennt man Geld, um die eigene Wirtschaft anzukurbeln. Zu diesem Expansionismus kommt dann noch ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich dass Putin schwer krank ist.
Physisch krank?
Er hat Krebs und einige andere Krankheiten. Das sind natürlich Gerüchte, aber jeder auf der Straße weiß davon. Und selbst wenn er nicht krank wäre: Er wird nicht ewig leben und er ist bereits seit über zwanzig Jahren an der Macht. Und wenn man an einen Punkt kommt, an dem man sich entscheiden muss, wer sein Nachfolger sein wird, muss man die Frage stellen: Wie gestaltet man diesen Übergang?
Putin hat wiederholt versprochen, den Übergangsprozess selbst einzuleiten. Aber das er nie getan, denn sobald er einen Nachfolger benennt, hat er nicht mehr die alleinige Kontrolle. Der ursprüngliche Plan zur Änderung der Verfassung im Jahr 2020, der von Putin selbst gebilligt wurde, sah vor, den Übergang so zu organisieren, dass Putin eine Art oberster Ajatollah wird, wie im Iran. Am selben Tag, an dem die Duma über die Änderung abstimmen wollte, forderte [die Putin-freundliche Duma-Abgeordnete] Walentina Tereschkowa plötzlich die Verlängerung von Putins Amtszeit. Wie zu erwarten, änderten alle innerhalb von zwanzig Minuten ihre Meinung und stimmten gegen den Plan.
Die Regierung hat die Institutionen zerstört, die den Übergang steuern sollten. Jetzt wird es also einen Übergang ohne Regeln geben, der von Putin selbst verordnet wird. Dafür braucht man außerordentliche Befugnisse. Und wie bekommt man außerordentliche Befugnisse? Durch Krieg.
Die Regierung brauchte also einen Krieg, aber sie wollte nicht die Art von Krieg, die jetzt stattfindet. Putin wollte einen kurzen Kampf führen, den Sieg verkünden und dann den Übergang so gestalten, wie es ihm passt. Und wenn das alles erst einmal abgeschlossen ist, soll sich eben der nächste Präsident um die Aussöhnung mit dem Westen kümmern.
Putin und sein Gefolge waren sich zu 100 Prozent sicher, dass in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden alles zusammenbrechen würde. Vielleicht hätte der Plan 2014 funktionieren können, aber 2022 hat er nicht funktioniert. Sie sind gescheitert.
Wenn die Elite in einer solchen Krise steckt, wie gespalten ist die russische Linke in Bezug auf den Krieg? Aus der Ferne sieht es so aus, als ob die Kommunistische Partei und die meisten Gewerkschaften ihn tatsächlich unterstützen.
Die unabhängige Gewerkschaftsbewegung in Russland ist extrem schwach. Die offiziellen Gewerkschaften sind Teil des Staatsapparats, sie haben mit der Arbeiterbewegung nichts zu tun.
Innerhalb der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation gibt es im Wesentlichen drei Tendenzen. Erstens gibt es die Führung. Sie ist völlig in das System integriert und tut, was man ihr sagt. Dann gibt es die Basis, die meist gegen den Krieg ist – Leute wie Andrej Danilow. Und wie immer gibt es eine Art Mitte, die schweigt und darauf abwartet, wer gewinnt.
»Wenn man mit Leuten spricht, die dem russischen Militärapparat nahestehen, spürt man, dass sie besorgt sind, manchmal sogar panisch.«
Die andere sozialdemokratische Partei, Gerechtes Russland, ist noch schlimmer. Sie gibt unglaublich chauvinistische, fast faschistische Erklärungen ab. Ziemlich viele Leute haben die Partei verlassen und die Basis ist praktisch nicht existent. Ich kenne ein paar andere Mitglieder, die sehr kritisch sind, aber lieber schweigen. Darüber hinaus gibt es natürlich die unabhängige Linke, die vor allem auf YouTube und Telegram aktiv ist.
Haben die kleineren, unabhängigen Gruppen wirklich eine Basis in der Gesellschaft?
Ich denke schon. Sie mögen marginal erscheinen, aber das gilt momentan für jede Art von echter politischer Aktivität in Russland. Wir befinden uns in einem Umbruch. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns Gehör verschaffen und innerhalb der Gesellschaft verankern. Ich denke, dass wir in Anbetracht der aktuellen Situation ziemlich gut dastehen.
Wie geht es in Zukunft weiter? Könnte eine Antikriegsbewegung oder ein andere progressive Bewegung in Russland entstehen?
Ich glaube, der Armee geht die Luft aus. Die Lieferungen von militärischer Ausrüstung des Westens verändern die Situation in der Ukraine sehr stark. Es ist ähnlich wie im Krimkrieg, als die Briten und Franzosen die besseren Waffen hatten. Wenn man mit Leuten spricht, die dem russischen Militärapparat nahestehen, spürt man, dass sie besorgt sind, manchmal sogar panisch.
Ich denke, wenn es weitere Niederlagen in der Ukraine gibt, dann wird das etwas bewegen. Ich weiß nicht, womit wir dann rechnen müssen, aber es werden dramatische Ereignisse eintreten. Ich sage nicht, dass sie einen Putsch starten, denn das entspricht nicht der russischen Militärtradition. Aber ihnen stehen andere Möglichkeiten offen.
Wenn sie versuchen, eine allgemeine Mobilmachung einzuleiten oder die Wehrpflicht auf neue Gruppen auszudehnen, wird es einen Aufstand geben. Wir wissen nicht, wie die Reaktion genau aussehen wird, aber sie wird äußerst negativ ausfallen.
Erst gestern sprach ich mit Grigori Judin, einem anderen linken Soziologen aus Moskau, der gerade aus dem Ausland zurückgekehrt ist. Er sagte zu mir: »Wenn Du durch Moskau gehst, was siehst Du? Überall riesige Zäune. Kein anderes europäisches Land hat so viele Zäune.« Den Menschen hinter den Zäunen ist es egal, was auf der anderen Seite ist. Sie sind nur in ihrer kleinen Welt eingezäunt.
Die Regierung ist mit der jetzigen Gesellschaft also ganz zufrieden. Aber wenn sie gezwungen wird, all diese Zäune niederzureißen, werden sich die Spielregeln grundsätzlich verändern. Die russische Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Kleingruppen, die voneinander isoliert sind, aber irgendwann werden sie aufeinander treffen, ob sie wollen oder nicht. Und das ist das Gelegenheitsfenster für die Linke und für alle, die gesellschaftliche Veränderung anstreben. Die Menschen werden lernen müssen, wie man kommuniziert, wie man sich organisiert und wie man seine kollektiven Interessen erkennt. Das ist genau der Moment, der auf uns zukommt. Und das ist unsere Chance.
Boris Kagarlitzki ist Professor für Soziologie an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und Redakteur bei Rabkor. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Die Revolte der Mittelklasse (Hamburg, 2013) und Back in the USSR. Das neue Russland (Hamburg, 2012).
Boris Kagarlitzki ist Professor für Soziologie an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und Redakteur bei Rabkor. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Die Revolte der Mittelklasse (Hamburg, 2013) und Back in the USSR. Das neue Russland (Hamburg, 2012).