03. April 2024
Im Februar wurde der russische Marxist Boris Kagarlitzki unter dem Vorwurf der »Rechtfertigung von Terrorismus« zu fünf Jahren Haft verurteilt. Aus seiner Zelle schreibt er über die Umstände, in denen er und Tausende andere Gefangene aktuell leben.
Boris Kagarlitzki (Zweiter von rechts) erscheint zu einer Anhörung während seines Prozesses.
Im Juli 2023 hatte die russische Polizei den marxistischen Soziologen und politischen Aktivisten Boris Kagarlitzki unter dem Vorwurf der »Rechtfertigung von Terrorismus« verhaftet. Dank einer massiven internationalen Solidaritätskampagne wurde er im Dezember auf freien Fuß gesetzt. Am 13. Februar 2024 nahmen die Richter das Verfahren gegen ihn jedoch wieder auf und verurteilten ihn zu fünf Jahren Gefängnis. Aus seiner Zelle in Selenograd, wo er derzeit seine Strafe verbüßt, schrieb Kagarlitzki einen Brief an JACOBIN. Darin spricht er über die Lebensbedingungen in russischen Gefängnissen.
Nachdem ich aus [der Untersuchungshaft in] Syktywkar nach Moskau zurückgekehrt war, legte mir ein befreundeter Journalist nahe, etwas über meine Erfahrungen im Gefängnis zu schreiben. Die Idee gefiel mir, und ich machte mich sofort an die Arbeit. Nachdem ich etwa fünfzehn Seiten geschrieben hatte, stellte ich jedoch fest, dass ich nicht genug Material für ein ganzes Buch haben würde. Das Problem löste sich bald von selbst, denn der Leviathan in Form der Staatsmacht sorgte dafür, dass sich neue Möglichkeiten für mich auftaten, mein Wissen über das Gefängnisleben aufzufrischen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft beschloss nämlich ein Berufungsgericht, das in Syktywkar verhängte Urteil zu überprüfen. Erneut wurde ich hinter Gitter gebracht.
Meine jüngste Erfahrung im Gefängnis unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der vorherigen. Innerhalb von etwas mehr als einem Monat habe ich drei Gefängnisse und fünf Zellen durchlaufen, bevor ich mich in meiner »Langzeitzelle« niederlassen durfte, in der ich nun auch diese Zeilen schreibe. Im Zuge dieser Reise durch die Gefängnisse habe ich neue Menschen kennengelernt und dabei Zugang zu einer äußerst reichen Fundgrube an neuem Material erhalten. Mir sind eine Menge neuer Gedanken gekommen. Nach und nach schreibe ich sie auf (diese Gedanken haben nicht immer etwas mit dem Gefängnisleben zu tun, aber sie sind natürlich von meinen Erfahrungen hier geprägt). Ich habe viel Zeit und Gelegenheit, über Philosophie und Psychologie nachzudenken, aber die wichtigsten Erkenntnisse sind mit den erzwungenen Ortswechseln verknüpft.
Zwar sind die Regeln des Gefängnislebens im Grunde überall gleich, aber die tatsächliche Praxis kann sich deutlich unterscheiden, nicht nur von Gefängnis zu Gefängnis, sondern sogar von Zelle zu Zelle. An jedem Ort entstehen unterschiedliche Gemeinschaften, die sich weiterentwickeln, auflösen und neu bilden, wenn sich die Umstände ändern. Es gibt große und kleine Gefängnisse, reiche und arme, in den Provinzen und in der Hauptstadt. Die Wärter können freundlich sein und sogar Verständnis zeigen, aber sie können auch niederträchtig werden. Die Insassen sind ebenso verschieden, haben unterschiedliche Charaktereigenschaften, gehören diversen kulturellen Gruppen und sozialen Schichten an. Es gibt immer etwas zu besprechen, wobei diese Unterhaltungen natürlich nicht immer angenehm sind.
Was die Menschen am meisten interessiert, ist das Essen. Anständig zu essen ist eines der höchsten Vergnügen, das man sich in einem Gefängnis erhoffen kann. Daher ist die Qualität der Gefängnisküche ein Thema, das immer besonders lebhaft diskutiert wird.
Als ich in Selenograd ankam, wurde ich aus irgendeinem Grund in einer Quarantänezelle untergebracht, obwohl die zwei Wochen, die ich zuvor in Kapotnia verbracht hatte, bereits einer Quarantäne gleichkamen. Das größte Problem mit der Quarantäne war, dass die Menschen draußen nicht richtig mit mir in Kontakt treten konnten. Ich erhielt auch keine Pakete. Meine drei neuen Zellengenossen befanden sich in genau der gleichen Situation. Von ihnen erfuhr ich von der Untersuchungshaftanstalt Medwedkowo, wo die Gefangenen anscheinend sehr gut versorgt werden. Was habe ich während meiner Zeit in der Selenograd-Quarantäne alles an Lobeshymnen auf die Köche [in Medwedkowo] gehört! Der Haferbrei dort! Die Menge an Fleisch in der Suppe! Die Größe der Portionen beim Abendessen! Nach den Kommentaren meiner Zellengenossen zu urteilen, hätte diese Einrichtung mindestens einen Michelin-Stern verdient.
Sobald man in einer Zelle mit einem Fernseher und einem Kühlschrank untergebracht ist, ist man weniger auf die Gefängnisküche angewiesen, sondern vielmehr auf Lebensmittelpakete und die Zellengenossen. Es wird keineswegs alles oder mit jedem geteilt, aber der Umgang mit gemeinsamen Dingen geschieht dennoch ganz natürlich und zweckmäßig. In der Zelle, in der ich in Kapotnia untergebracht war, fiel mir auf, dass gewisse demokratische Verfahren eingeführt worden waren, bei denen einige Fragen durch Abstimmung und andere durch Konsens entschieden wurden. Nahrungsmittel waren jedoch kein Gemeinschaftseigentum; die Häftlinge hatten sich in mehrere Gruppen aufgeteilt (insgesamt waren wir zwischen 13 und 15 Leute, wobei ständig neue hinzukamen und andere das Gefängnis verließen), und die Vorräte wurden innerhalb dieser Gruppen geteilt.
»Das Maß an Solidarität und gegenseitiger Hilfe ist hier merklich größer als außerhalb der Gefängnismauern.«
Ich empfand dies als eine Art Anarcho-Sozialismus. Aber es gab auch Individualisten. Zum Beispiel war da ein ehemaliger Hochschulleiter, der wegen Korruption inhaftiert war. Der Kühlschrank war voll mit seinen Lebensmittelvorräten, die er mit niemandem teilte. Nur einmal kam er auf mich zu und bot mir ein Stück Kuchen an. Ich war erstaunt und nahm das Geschenk dankend an. Leider wurde mir der Grund für seine Großzügigkeit schnell klar: Der Kuchen hatte sein Haltbarkeitsdatum bereits überschritten.
Hier in Selenograd ist die Zelle kleiner, und es kommt niemand auf die Idee, solche formellen Verfahren einzuführen, geschweige denn Abstimmungen abzuhalten. Dennoch bilden sich zwangsläufig informelle Gemeinschaften, die nach ihren eigenen Regeln funktionieren. Das Maß an Solidarität und gegenseitiger Hilfe ist hier merklich größer als außerhalb der Gefängnismauern.
Natürlich habe ich Glück gehabt. Ich bin in einer Zelle mit anständigen Menschen (soweit das unter solchen Bedingungen möglich ist). Aber vielleicht ist das auch gar nicht so überraschend: Die meisten Insassen hier sind schließlich keine hartgesottenen Kriminellen, sondern ganz normale Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, die einer Versuchung nachgegeben haben oder die Kontrolle über ihre Lebensumstände verloren haben. Als ich in meine Zelle in Kapotnia gebracht wurde, sagte einer der Insassen, der schon länger dort war als die anderen, sofort zu mir: »Du bist wegen Mord hier drin, oder?« Ich war schockiert. »Sehe ich denn wirklich wie ein Mörder aus?« Die Antwort war noch unerwarteter als die Frage: »Die Leute, die wegen eines nicht geplanten Mordes hier drin sind, sind alle sehr anständig, intelligent und freundlich.« Derweil ist der Ruf von politischen Gefangenen nicht immer sonderlich gut: »Die halten zu viel von sich selbst und werden gerne mal hysterisch.«
Ich hoffe, ich konnte den Ruf der politischen Gefangenen in den Augen meiner Zellengenossen zumindest ein wenig verbessern.
Das Gefängnis in Selenograd, in dem man mich untergebracht hat, ist relativ klein und verfügt nur über begrenzte Mittel. Das zeigt sich an der Menge und Qualität des Essens und an der Tatsache, dass die Einrichtung chronisch unterbesetzt ist. Die Wärter beschweren sich ständig darüber und ernten Mitgefühl und Verständnis der Gefangenen. Ganz grundsätzlich stört einen die Qualität des Gefängnisessens jedoch nicht mehr, sobald man in einer Zelle mit Kühlschrank untergebracht ist. Wir haben mit unserer Zelle besonders viel Glück: Einer der Insassen hat eine Kochausbildung absolviert und ist von Beruf Konditor. Er hat es geschafft, einen Slowcooker-Topf für die Zelle zu besorgen. Jeden Abend riecht es köstlich bei uns.
Während der Kühlschrank eine Quelle positiver Emotionen ist, steht der Fernseher leider für das Gegenteil. Auf kuriose Weise existieren diese beiden Geräte in einer Art organischer Einheit; entweder man hat beides oder keins. Im TV wird man jeden Tag mit Propaganda überschüttet, die zu einer Art Hintergrundrauschen wird, dem man sich nur schwer entziehen kann, indem man einfach den Kanal wechselt – denn die Botschaften sind ja überall dieselben. Nach einer gewissen Zeit entwickelt man eine Immunität. Der Fernseher hat aber auch eine positive Funktion: er dient als Uhr.
Aus den Gesprächen, die ich mit meinen Zellengenossen über einige Wochen – in manchen Fällen auch nur wenige Stunden – geführt habe, habe ich nach und nach eine Art Enzyklopädie menschlicher Typen und Lebensgeschichten zusammengestellt, auf deren Grundlage ich vielleicht irgendwann einmal ein ordentliches Buch schreiben kann. All diese einzelnen Erfahrungen und Kenntnisse müssen jedoch noch zusammengetragen und überarbeitet werden. Ich hoffe natürlich, dass ich dies draußen, in Freiheit, tun kann.
Momentan sammle ich einfach nur Wissen an. Die Reise geht weiter.
Selenograd, 25. März 2024
Boris Kagarlitzki ist Professor für Soziologie an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und Redakteur bei Rabkor. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Die Revolte der Mittelklasse (Hamburg, 2013) und Back in the USSR. Das neue Russland (Hamburg, 2012).