04. Oktober 2022
Klasse ist zurück in der Literatur? Stimmt nicht – denn sie war schon immer da, meint Schriftsteller Bov Bjerg. Warum das Feuilleton das nicht sehen kann, erzählt er im JACOBIN-Interview.
Schriftsteller Bov Bjerg bei einer Lesung in Köln, 11. März 2017.
IMAGO / Horst GaluschkaDie Texte des Schriftstellers Bov Bjerg lassen sich ohne die Berücksichtigung der Kategorie »Klasse« kaum verstehen. In seinem Erfolgsroman Auerhaus (2015) bricht er mit dem althergebrachten Bild der alten Bundesrepublik als sozial nivellierter Gesellschaft. Seine Hauptfiguren kommen aus Bauern- und Arbeiterfamilien; sie sind sich ihres Klassenstatus ebenso bewusst wie der gesellschaftlichen Ordnung, in die sie hineinwachsen sollen.
Nicht nur in Auerhaus, sondern auch in Bjergs Roman Serpentinen (2020) thematisiert er psychische Leiden, die gerade für die Sozialfigur des Bildungsaufsteigers charakteristisch erscheinen. Serpentinen ist dabei nicht bloß ein Roman über Klassenfragen, vielmehr zugleich eine Reflexion über Klassenliteratur selbst. Die wiederum erfährt seit Didier Eribons Rückkehr nach Reims eine deutlich gestiegene Aufmerksamkeit. Die klassenspezifischen Aspekte in Bjergs Werken sind bislang dennoch kaum diskutiert worden. Weshalb das so ist, was ihn an der deutschen Rezeption von Eribons Bestseller stört und warum er kein Popliterat ist, erzählt er im JACOBIN-Interview.
Es scheint, als habe das literarische Schreiben über Klasse und soziale Ungleichheit seit einigen Jahren Konjunktur. Hast Du eine Erklärung dafür?
Nein. Eigentlich ist es auch nicht sonderlich neu. Vor hundert Jahren gab es Autorinnen, die darüber geschrieben haben, damals oft aus dem Bürgertum, nach dem Krieg gab es im Westen den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt und im Osten den Bitterfelder Weg. Es gibt Wolfgang Hilbig, es gibt Josef Winkler und jetzt scheint das Thema auf einmal wieder da zu sein.
In meiner Erinnerung fing die aktuelle »Welle« an mit Didier Eribons Rückkehr nach Reims. Das Buch ist meiner Ansicht nach hier im Feuilleton extrem schief rezipiert worden: Man hat versucht, ihn für eine Sache zu vereinnahmen. Es wurde so getan, als ob da ein Franzose ein Buch geschrieben habe, das endlich erklärt, warum die Arbeiterklasse rechtsradikal wird, und dass die Linken daran schuld sind. Das ist nun nicht unbedingt die Quintessenz dieses Buches. Aber das hat natürlich dem bildungsbürgerlichen Feuilleton ganz gut in den Kram gepasst, es genauso zu labeln. Wenn man das, worum es in dem Buch geht, ernst genommen hätte, dann hätte man vielleicht auch seine eigene Position, seinen eigenen sozialen Aufstieg und alles, worauf man selbst so stolz ist, infrage stellen müssen. Weil man sich einbildet, alles nur der eigenen Anstrengung, dem eigenen Grips, der eigenen Überlegenheit zu verdanken zu haben. Und das wollte natürlich niemand.
War es diese selektive soziale Wahrnehmung, die Eribons Buch für das Bildungsbürgertum so widerstandslos konsumierbar machte?
Ich glaube, man hat es gelesen oder wollte es lesen als Antwort auf die Frage: Wo kommen die ganzen Nazis auf einmal her? Und da kommt ein junger Franzose und der sagt uns: Ihr seid nicht schuld, die Proleten sind schuld! Und das hat man ganz gerne propagiert.
Wichtiger als der Inhalt von Eribons Buch scheint ohnehin die betont korrekte Aussprache des Titels – allein daran ließe sich vermutlich viel über Klassengegensätze und Distinktionsverhalten verdeutlichen. Du selbst hast den Titel eben deutsch ausgesprochen und damit an die vielsagende Szene aus Deinem Buch Serpentinen erinnert, in der Micha, der Jugendfreund des Erzählers und ebenfalls Arbeiterkind, gesteht, Eribons Werk nur deshalb nicht in der Buchhandlung, sondern im Internet bestellt zu haben, weil er sich nicht traut, den Titel auszusprechen.
Genau, da beschreibe ich natürlich mich selbst. »Wir sind nicht die Zielgruppe«, sagt Micha über das Buch, weil da für ihn und den Erzähler nichts Neues drinsteht. Und so habe ich es beim Lesen auch empfunden.
Wenn von der Klassenfrage in der Gegenwartsliteratur die Rede ist, dann wirst Du zumeist nur am Rande genannt. Dabei spielen Fragen der sozialen Ungleichheit, des Bildungsaufstiegs und der unkomfortablen Position zwischen den Klassen in Deinen Werken seit jeher eine zentrale Rolle. Befremdet es Dich, dass diese Aspekte so ignoriert werden?
Nein, es befremdet mich nicht. Es ist nur folgerichtig. Das Feuilleton ist besetzt mit Journalistinnen, die aus dem Bildungsbürgertum kommen und die können bestimmte Sachen schlecht sehen. Das ist wie eine gewisse Einschränkung, eine Farbenblindheit oder sowas. Ich bin ihnen gar nicht böse. Ich erwarte es auch nicht anders.
»Von dem riesigen Produktivitätszuwachs der letzten Jahrzehnte ist unten nichts angekommen, und das will man als Wirtschaftsliberaler natürlich nicht wahrhaben.«
Manche Menschen sehen die soziale Dimension. Zum Beispiel bei Auerhaus war Maxim Biller derjenige, der im Literarischen Quartett gesagt hat: Dieses Buch handelt von Leuten, von denen wir sonst nichts hören. Er hat es nicht weiter spezifiziert, aber es war sehr deutlich, was er damit meint.
Ein anderer Aspekt, der dazu beiträgt, ist, dass ich den Begriff Autofiktion immer von mir weise. Ich sage: Nein, es ist keine Autofiktion, es ist Fiktion. Es geht nicht um mich. Klar fließen eigene Erfahrungen ein, aber sobald du sagst: »Das ist Autofiktion«, wird es auf ein Thema reduziert. Dann geht es um proletarische Herkunft oder Alkoholismus oder was auch immer Dein angebliches Thema ist. Das ist gut für die Vermarktung von Literatur und sehr dankbar für alle, die sich mit literarischen Mitteln nicht auseinandersetzen wollen oder können. Also das ist der eine Grund, warum ich es von mir weise. Der andere besteht, gerade bei diesem Thema soziale Herkunft und Bildungsaufstieg, in der ganz unangenehmen Folge, dass sich Leute gewissermaßen zu dir herunterbücken – das würde mich irre machen und das will ich auf gar keinen Fall.
Das bedeutet dann aber auch, zusehen zu müssen, dass ein Buch wie Auerhaus es zwar in den Schulkanon schafft, aber komplett ausgeblendet wird, dass hier mit Selbsterzählungen der alten Bundesrepublik gebrochen wird und die im Text entworfenen utopischen Potenziale undiskutiert bleiben.
Wenn sie es nicht erkennen, dann lesen sie halt drüber hinweg.
Und die teilweise Verkitschung des Romans treibt Dich nicht in die Verzweiflung?
Ja, schon. Manchmal wird Auerhaus wie so eine Hanni-und-Nanni-Geschichte behandelt. Aber ich kann wenig dagegen machen. In den Text wird eben alles Mögliche hineinprojiziert, da können Hinweise, die dem eigenen Wunsch widersprechen, noch so deutlich sein.
Was sind denn deutliche Hinweise in Auerhaus?
Erstmal natürlich die soziale Herkunft der meisten Jugendlichen im Haus. Der Beruf der Eltern, Verkäuferin, Putzfrau, Bauer usw., wird ja bei fast allen erwähnt, bei der Mutter des Erzählers und Protagonisten, Höppner, auch ausführlicher gezeigt. Und dann sowas wie zum Beispiel die Figur aus dem bildungsbürgerlichen Milieu, die ganz klar zur Verräterin wird. Das wird nirgends groß erwähnt. Es ist noch nie in einer Besprechung herausgestellt worden. Irgendwo in einem Blog oder einem Kommentar hat sich jemand darüber geärgert, das sei die einzige Figur, mit der er sich identifizieren könne und diese entpuppt sich dann als Schwein. Die Figur ist natürlich mit Absicht so, wie sie ist.
»Wenn die Eliten sich über die Unterschicht moralisch empören, klingt das oft nach so einer strengen Gouvernante.«
Wenn ich in Schulen bin und aus Auerhaus lese oder mit Schülerinnen spreche, die das im Unterricht gelesen haben, dann gibt es da andererseits welche, die sagen: Das war wirklich einmal eine Schullektüre, die mir was gebracht hat. Und das sind dann oft tatsächlich auch Schüler, wo ich dann raushören will, dass die das auch wegen dieser Klassenfrage ansprechend finden.
Mit dem Bauernsohn Frieder hast Du in Auerhaus eine Figur geschaffen, die zweifelsohne das Potenzial zu einem erfolgreichen bürgerlichen Lebensweg hat, aber sich stattdessen entscheidet, Fahrradmechaniker zu sein.
Ja, darin steckt natürliche eine Verweigerung – eine Verweigerung gegenüber all dem, was die bürgerliche Welt für erstrebenswert hält, und stattdessen das zu machen, was man aus verschiedenen Gründen richtig findet, auch aus politischen und ökologischen Gründen. Sollen die anderen ihre scheiß Flugzeuge bauen und das Fünfzigfache verdienen. Aber ich repariere Fahrräder.
Ist es Deine bewusste Entscheidung, sich eben nicht die elitär-bürgerliche Perspektive anzueignen, sondern mit Befremdung und durchaus auch einer gewissen Aggression auf die Welt der Privilegierten zu schauen?
Die Perspektive von unten ist einfach die interessantere. Und es ist natürlich auch die Blickrichtung, die ich drauf habe. Ich weiß nicht, wie der berühmte Arztsohn, der anfängt zu schreiben, auf die Welt blickt. Oder die Professorentochter. Es interessiert mich auch nicht so sehr. Und so suche ich mir eine Perspektive, die mir naheliegt. Womit ich nichts gegen Arztsöhne gesagt haben will. Georg Büchner war auch Arztsohn.
Trotzdem ist es ein Unterschied, ob ich aus dieser Perspektive in ein bildungsbürgerliches Wohnzimmer komme und larmoyant sage: Ich ersterbe in Scham und Ehrfurcht, weil es bei uns zu Hause dagegen aussieht wie bei »kulturlosen Deppen«. Oder die Maßstäbe einmal umzudrehen, indem man, wie in »Schinkennudeln«, den Arbeiterjungen denken lässt: Mensch, diese bedauernswerte Lateinlehrerfamilie hat nicht einmal einen Fernseher.
Die Geschichte habe ich so um 2000 herum fürs Vorlesen auf den Lesebühnen geschrieben. Dieser Blick ist natürlich auch ein Vehikel der Komik. Zumal, wenn man sich den 10-jährigen vorstellt. Ein Erwachsener könnte so nicht mehr in dieses Haus gehen und sich aus dieser Position die sozialen Gefüge angucken. Aber der 10-jährige, der nur die elterliche Wohnung ohne Bücher kennt, kommt in dieses Wohnzimmer voller Bücher und nimmt seine Realität als die normale. Und dadurch sind die Bildungsbürger, die sogar einen Flügel besitzen, die Abweichler.
Du hast »Schinkennudeln« in der Anthologie Klasse und Kampf wiederveröffentlicht. Das Widerständige des Textes erschließt sich aus dem Entstehungskontext der Nullerjahre und dem damaligen Blick auf Arme noch einmal anders. Man denkt etwa an den bekannten Artikel »Das große Fressen« des Historikers Paul Nolte von 2003, in dem er schlechte Ernährung, Alkohol, Tabak und Fernsehen zum Hauptproblem, ja zur »Klassenkultur« einer für ihre Misere selbst verantwortlichen »neuen Unterschicht« erklärt und vorschlägt, die Kinder aus solchen Familien per Bus in andere Schulen zu schicken, womöglich besser noch zum regelmäßigen Mittagessen in streng bürgerlichen Haushalten wie in Deiner Erzählung.
An sich scheint mir das aus den USA stammende Konzepte des »Busing« eine sehr gute Idee. Aber das hat dann auch zur Folge, dass die bürgerlichen Kinder nicht in Pankow oder im Prenzlauer Berg aufs Gymnasium gehen, sondern auf die Sekundarschule im Wedding. Und dass sie dorthin mit dem Bus gefahren werden – ob das wohlhabende Bürgertum diesen Schritt zu gehen bereit ist, das ist doch sehr fraglich.
Aber was für merkwürdige Fantasien auch: Leute, die vor der Glotze hocken und trinken und sich demoralisiert langsam zu Tode rauchen, die gab es auch in den 1970ern schon.
Es gab aber auch jede Menge Leute, die mit einem ungelernten Job nicht nur sich selbst, sondern eine ganze Familie ernähren konnten. Ich selbst habe ein paar Jahre lang 20 Stunden die Woche als Zusteller bei der Post gearbeitet, und damals konnte ich von dem Geld ganz okay leben. Das ist heute völlig undenkbar. Heute musst du zwei schlecht bezahlte Vollzeitjobs machen und kannst dann noch nicht mal eine Familie ernähren. Das war in den 1970ern anders. Von dem riesigen Produktivitätszuwachs der letzten Jahrzehnte ist ja unten nichts angekommen, und das will man als Wirtschaftsliberaler natürlich nicht wahrhaben.
»Als Bildungsaufteiger führst auf verschiedenen Ebenen ein Leben, das dir nicht in den Schoß gelegt worden ist. Du kommst in Loyalitätskonflikte.«
Aber zurück zu »schlechte Ernährung, Alkohol, Tabak und Fernsehen«. Wenn die Eliten sich über die Unterschicht moralisch empören, klingt das ja oft nach so einer strengen Gouvernante. Ich finde es inzwischen fast lustig, weil es so vorhersehbar ist. Das war schon bei Oliver Twist so. Da gibt es die Szene, wo Oliver Twist im Waisenhaus einen Nachschlag vom Abendessen möchte. Maßlos, unverschämt, eine unerhörte Sache, die vors Armenkollegium kommt, und dann sagt ein Herr in einer weißen Weste: »Denken Sie an mich, Gentlemen, der Knabe wird dereinst gehängt werden.«
Depression ist ein Thema, das Deine Werke leitmotivisch durchzieht. Allerdings wird auch dieses Thema gerne seiner sozialen Dimension enthoben, sowohl in der allgemeinen Diskussion als auch bezogen auf Deine Bücher. Kann man von Depressionen erzählen und dabei von Klassenfragen schweigen?
Ich kann das jedenfalls nicht. Es ist bekannt, dass ein relativ großer Teil dieser Bildungsaufsteiger, die es tatsächlich »schaffen«, über kurz oder lang auch in der Psychoanalyse landen. Was eigentlich folgerichtig ist, weil das immer Widersprüche und Konflikte mit sich bringt, die du irgendwie lösen musst, auch ohne eine traumatisierende Familienerfahrung im Hintergrund zu haben: angefangen von der sozialen und räumlichen Entfremdung, die auch eine sprachliche Entfremdung bedeutet. Du führst auf verschiedenen Ebenen ein Leben, das dir nicht in den Schoß gelegt worden ist. Und du kommst in Loyalitätskonflikte. Die Zusammenhänge sind schwer auflösbar, ohne dass du dich systematisch darum kümmerst. Aber letztlich kommst du den ganzen Sachen auf die Schliche.
»Die Literatur kann der Leserin zeigen, dass da ein Verbündeter ist.«
Und die Depression ist natürlich eine Folge dieser Entfremdung. Wie die sich dann konkret äußert oder wie man versucht, sich selbst zu therapieren, da gibt es etliche Facetten. Das kann sich auch in einer Sucht kanalisieren.
Auch der Zusammenhang von Armut und Depression ist empirisch belegt.
Ja, das ist eine andere Facette. Es ist bei dem Thema Armut auch naheliegend, weil du einfach viel weniger Möglichkeiten hast, dich irgendwie aus dem Sumpf zu ziehen, wenn du arm bist – finanziell, aber zum Teil natürlich auch durch die Bildung, die dir fehlt. Du weißt gar nicht, was es für Möglichkeiten gäbe und wie du aus deinem Loch kommen kannst.
Im Unterschied zu anderen Autorinnen schilderst Du die Scham des Klassenübergängers nicht nur als ein Gefühl, das man nach oben empfindet, sondern im Gegenteil gerade nach unten, gegenüber dem eigenen Herkunftsmilieu. So heißt es etwas in Serpentinen: »Nur körperliche Arbeit war Arbeit, nur körperliche Arbeit war etwas wert. Körperliche Arbeit durfte nicht delegiert werden. Wer sie nicht selbst erledigte, der wechselte die Fronten.«
Dagegen zeigte sich zum Beispiel Florian Illies in Generation Golf ausdrücklich dankbar über einen Zeitgeist, der ihm und seinen Kollegen Kracht und Stuckrad-Barre erlaubte, nun endlich zugeben zu können, dass man eine Putzfrau beschäftigte. Verstehst Du Dein Schreiben als Gegensicht zu dieser Literatur der »Generation Golf« beziehungsweise der Popliteratur, die ihren Blick ja weniger schamvoll, sondern naserümpfend nach unten richtete?
Diese Putzfrau ist meine Mutter. Vermutlich haben die Kinder von Putzfrauen auf das Thema eine etwas andere Sicht als die Kinder der Upper Class. Im Übrigen soll er von mir aus zwanzig Putzfrauen beschäftigen, solange er sie anständig bezahlt.
Die Literaturwissenschaft rückt Dich durchaus in die Nähe der Popliteratur.
Ja. Obwohl ich mit diesem Label nie etwas zu tun haben wollte. Ich finde es schrecklich. Der Konsumismus, das Gepose, die soziale Herkunft, die eigene soziale Gegenwart dieser Autoren sowieso, das alles war und ist meilenweit von mir entfernt.
Rein vom Geburtsjahrgang könnte man Dich der »Generation Golf« zurechnen, aber bezogen auf die soziale Herkunft gibt es natürlich eine Differenz. Man hat das Gefühl, dass der sozial zunächst nicht miterzählte Teil Deiner Generation sich jetzt mit Verzögerung äußert.
Auch das hat natürlich seinen Grund. Mit dieser privilegierten Herkunft der »Generation Golf« fühlst du dich natürlich schon mit 18 dazu ermächtigt, Hans und Franz den Stinkefinger zu zeigen. Mit der größten Selbstverständlichkeit in die Öffentlichkeit zu treten, ist eine Haltung, die ich heute noch nicht habe
Du hast Dich also für die Frage, welche Farbe die Barbour-Jacke haben soll, nie interessiert?
Natürlich nicht. Ich lasse diesen Markenfetischismus auch bewusst weg. Ich habe nie in Texten mit irgendwelcher Markenscheiße gearbeitet. Das geht bis zu Deadline, wo die Protagonistin ständig am Googlen ist, und selbstverständlich verwende ich den Begriff Google dort kalkuliert nicht, weil ich kein Reklamefutzi bin. Was ich mache, ist keine Reaktion auf das, was die »Generation Golf« publiziert hat oder diese sogenannte Popliteratur. Aber es ist natürlich kein Zufall, dass diese Akteure im Literaturbetrieb so dominant sind oder waren. Weil auch die Literaturkritik von Menschen mit genau diesem sozialen Hintergrund dominiert wird. Und weil diese Leute bestimmte Sachen ausblenden müssen, werde ich dazu gerechnet.
In ihrem Roman Schäfchen im Trockenen beschreibt Anke Stelling die Entdeckung der Klassenfrage entscheidend als eine Befreiung vom bundesrepublikanischen Selbstbild der großen egalitären Mittelstandsgesellschaft. Gab es diesen Prozess der Einsicht bei Dir auch oder hast Du immer schon darauf gewartet, wann die anderen auch merken, dass wir in einer Klassengesellschaft leben?
Nein. Darauf warte ich auch nicht. Und bei mir gab es auch diesen Schnitt in dem Sinn nicht. Meine Mutter hat drei Kinder allein erzogen und sie selbst ist nur fünf Jahre zur Schule gegangen. Als ich in die fünfte Klasse gekommen bin, hat sie gesagt: »So, jetzt kann ich dir nicht mehr helfen.« Das war eine richtig offizielle Ansprache. Somit waren mir die sozialen Unterschiede, war mir die soziale Kluft immer schon klar. Ich brauchte kein Erwachen mit 20 oder so.
Hast Du das Gefühl, dass sich der Zeitgeist wandelt? Manche Soziologen und Politikwissenschaftlerinnen sagen, es gäbe eine Rückkehr der Klassenfrage.
Schön wär’s ja, aber ich fürchte, das ist Kokolores. Wir haben drei Kinder und ich merke es zum Beispiel an der Schulpolitik, dass sich da einfach null ändert. Und es liegt daran, dass die Reichen natürlich ihre Privilegien mit Zähnen und Klauen verteidigen würden, wenn daran gerüttelt würde. Es gibt keine Bildungsgerechtigkeit oder was auch immer, davon sind wir echt weit entfernt. Da mache ich mir auch überhaupt keine Illusionen. Einzelne schaffen es und die müssen dann herhalten als Beispiel dafür, dass es ja gar nicht so ungerecht ist.
Du hast vorhin mit der Rede vom berühmten schreibenden Arztsohn auf eine 2014 eine von Florian Kessler initiierte Literaturdebatte (»Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!«) angespielt. Jetzt, wo das Thema en vogue ist, werden demnächst die ganzen Arztkinder kommen und über »Klasse« schreiben?
Das können sie nicht, machen sie nicht, wollen Sie nicht.
Warum nicht?
Das war vielleicht vor hundert Jahren möglich, dass sozial engagierte Autorinnen aus dem Bürgertum darüber fiktional schreiben konnten. Würden sie das heute machen, würde es ihnen niemand glauben. Sie wären sofort als Hochstapler zu identifizieren. Oder als Hochstaplerin.
Was kann eine ungleichheitssensible Literatur Deiner Meinung nach überhaupt leisten? Kann sie zu einem emanzipatorischen Klassenbewusstsein beitragen?
Keine Ahnung, ob die Literatur in dem Sinne irgendetwas leisten kann. Sie kann der Leserin zeigen, dass da ein Verbündeter ist. Und vielleicht ist das auch schon alles.