17. Januar 2022
Der Sturz von Lula und seiner Arbeiterpartei begann mit Fehlern in der Kriminalitätsbekämpfung. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, muss die brasilianische Linke aus diesem Scheitern lernen.
Die Münder weit geöffnet, die Augen geschlossen, die Gesichter voller Blutspritzer. Zwei frisch abgetrennte Köpfe liegen auf einem schmutzigen Untergrund. Ein Schubkarren voller lebloser Gliedmaßen steht vor einer Wand aus Eisenstangen, im Hintergrund schreien Männerstimmen. Diese in wackeligen Handyvideos festgehaltenen Szenen sind nur einige unter vielen, die im Januar 2017 in Brasilien verbreitet wurden.
Das Verbrechersyndikat Família do Norte (FDN, »Familie des Nordens«) hatte im überfüllten Gefängniskomplex Anísio Jobim der Stadt Maunaus im brasilianischen Amazonasgebiet eine Rebellion angezettelt. In Anísio Jobim sitzen 1.200 Gefangene ein, mehr als das doppelt so viele, wie die Kapazität maximal zulässt. Innerhalb weniger Stunden richtete das Syndikat sechs mutmaßliche Mitglieder ihrer in São Paulo ansässigen Konkurrenz, des Syndikats Primeiro Comando da Capital (PCC, »Erstes Hauptstadtkommando«) hin. Das PCC ist das mächtigste Syndikat Brasiliens.
Einige Tage später reagierte das PCC mit dreißig Enthauptungen in einer anderen Strafanstalt rund 450 Meilen weiter nördlich im Bundesstaat Roraima. Videos von herausgeschnittenen menschlichen Herzen machten auf Messengerdiensten die Runde: »Hier habt ihr die Antwort – ihr habt unsere Brüder in Manaus getötet, und jetzt werdet ihr dafür bezahlen.« Die Hinrichtungen waren eine besonders grausame Episode in einem eskalierenden Kreislauf der Gewalt, den die brasilianische Regierung nicht stoppen kann – oder will.
Mehr als 35 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie herrschen kriminelle Banden ungehindert über viele brasilianische Favelas, Gefängnisse und abgelegene Dörfer. Ihre Gewalt und ihr Terror sickern in die umliegenden, vergleichsweise privilegierten Gemeinden ein und durchdringen so das gesamte Gemeinwesen. Wie Kolonialherren üben sie ihre Macht unter Duldung durch die lokalen Regierungen aus. Und wie in alten Zeiten erwarten die Oberen im Gegenzug einen fetten Anteil an der unrechtmäßig erworbenen Beute.
In mehreren Regionen des Landes haben korrupte Strafverfolgungsbehörden in den letzten Jahren beschlossen, auf die Mittelsmänner zu verzichten und die Straßenkriminalität selbst in die Hand zu nehmen, indem sie ihre eigenen paramilitärischen Mafias – sogenannte Milizen – einzusetzen. Diese Mafias haben Grausamkeit und Erpressungsmethoden auf ein neues Level gehoben und die traditionellen Drogenbanden in der Beeinflussung staatlicher Institutionen weit übertroffen. Unter ihrer Ägide erklimmt der Drogenkrieg in Brasilien zuvor ungekannte Höhen: Vor einigen Jahrzehnten trugen die Kriminellen noch rostige Revolver. Angebunden an globale Märkte verfügen die Banden heute über Waffen, deren Feuerkraft ausreicht, um gepanzerte Hubschrauber abzuschießen. Sogar den einen oder anderen Raketenwerfer können sie ihr Eigen nennen.
In der Mainstream-Presse wird die überhandnehmende bewaffnete Gewalt in Brasilien meist als eine Frage polizeilichen Handelns diskutiert. Infolgedessen hat die Politik in gepanzerte Fahrzeuge investiert und zugelassen, dass Sicherheitskräfte den von Präsident Jair Bolsonaro verfolgten Ansatz »Erst schießen, dann fragen« verinnerlichen.
Im von großen Ungleichheiten geprägten Brasilien sind es die Oligarchen, die angstmachenden rechten Parteien, die korrupten Polizeikräfte und Militärs, die am meisten von der Gewalt profitieren, die zur Rechtfertigung sozialer Kontrolle dient. Die überwiegend Schwarze Arbeiterklasse und die Armen hingegen tragen fast sämtliche Konsequenzen. Es wäre nur logisch, anzunehmen, dass die brasilianische Linke sich auf die Frage der öffentlichen Sicherheit konzentriert und alles daran setzt, diesen Wahnsinn zu beenden. Aber dem ist nicht so. Das Versagen der Linken bei der öffentlichen Sicherheit ist eines der rätselhaftesten und kompliziertesten politischen Phänomene in einem Land, das für seine undurchschaubare Politik bekannt ist.
Die ausufernde und zunehmend gewalttätige Kriminalität betrifft nicht alle Brasilianerinnen und Brasilianer gleichermaßen, aber der Terror und die Verzweiflung, die sie hervorrufen, sind nahezu universell. Die Menschen haben Angst, ihre Häuser zu verlassen und ihre eigenen Straßen entlangzugehen. Eine 2018 durchgeführte Umfrage unter den Einwohnern von Rio de Janeiro – einer Stadt mit einer für brasilianische Verhältnisse typischen Mordrate, die aber 5,7-mal so hoch ist wie der Durchschnitt US-amerikanischer Städte im Jahr 2021 – ergab, dass 92 Prozent der Menschen jeden Tag mit der Angst leben, dass sie von einer verirrten Kugel getroffen werden könnten.
Außerdem sind die Menschen wütend. Wütend auf die Kriminellen, die sie ausrauben; auf die Polizei, die nur selten da ist, wenn man sie braucht; auf das Justizsystem, das, obwohl es Verdächtige massenhaft einsperrt und in brutale Gefängnisse steckt, als kriminalitätsfreundlich, korrupt und ineffektiv angesehen wird; auf die Politikerinnen und Politiker mit ihren leeren Versprechungen und ihrem falschen Lächeln. Wütend über die Demütigung, unter solchen Bedingungen leben zu müssen – in einem so schönen und an natürlichen Ressourcen reichen Land.
Diese öffentliche Verunsicherung ist vielleicht das beste Prisma, durch das man die oft verwirrende Politik Brasiliens betrachten kann. Sie ist die Wurzel von Bolsonaros Aufstieg zur Macht, der Grund für das Aufkommen der Antikorruptionsbewegung, die zur Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff und zur Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva sowie dem landesweiten Absturz ihrer Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) bei den letzten Wahlen führte. Auch erklärt sie die Schwierigkeiten der Linken, die Herzen und Köpfe der armen und arbeitenden Bevölkerung Brasiliens zu erobern.
Die PT war mehr als dreizehn Jahre lang ununterbrochen an der Macht. An die Regierung kam sie mit kühnen Vorschlägen zur Eindämmung der Gewalt, zur Entkriminalisierung des Drogenkonsums, zur Neugestaltung des Gefängnissystems, und – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes – mit dem Anspruch, die Ursachen der Kriminalität ernsthaft anzugehen. Wie konnte es dann geschehen, dass Tötungsdelikte zugenommen haben, die Zahl der Gefängnisinsassen in die Höhe geschossen ist und der Drogenkrieg verschärft wurde, während die Kriminalität in den Strafverfolgungsbehörden mehr denn je eine ernsthafte Bedrohung darstellt? Und wie kann es sein, dass sich, obwohl Rio de Janeiro allein mehr Morde durch Polizeikräfte pro Jahr verzeichnet als die gesamten USA, die überwältigende Mehrheit der Brasilianerinnen und Brasilianer für mehr Polizei auf den Straßen ist?
In den letzten zwei Jahrzehnten sind in Brasilien laut der offiziellen Statistik mehr als eine Millionen Menschen ermordet worden. Unabhängige Nachforschungen legen nahe, dass diese Zahl in Wirklichkeit weitaus höher liegt. Das sind mehr Menschen als dem globalen »Krieg gegen den Terror« im gleichen Zeitraum zum Opfer gefallen sind. Brasiliens Mordrate war 2018 mehr als sechsmal so hoch wie die seines südlichen Nachbarn Argentinien.
Außerdem ist es das Land mit der siebtgrößten sozialen Ungleichheit auf der Welt. Diese Ungleichheit ist entlang von ethnischen Grenzen stark ausgeprägt. Nicht nur sind Schwarze Menschen in Brasilien häufiger arm und untergebildet, auch leben sie viel häufiger in Vierteln mit höherer Kriminalität und sitzen häufiger in barbarischen Gefängnissen ein. Sie sterben dreimal so häufig eines gewaltsamen Todes wie andere Brasilianerinnen. Und die Kluft wird von Jahr zu Jahr größer. Dies ist das Erbe eines Landes, das mehr afrikanische Sklavinnen und Sklaven importierte als jedes andere und die Sklaverei erst 1888 abschaffte.
Die ersten brasilianischen Polizeieinheiten wurden gegründet, um Aufstände in einer Gesellschaft zu unterdrücken, in der die Versklavten weitaus zahlreicher waren als ihre Herren. Mit dem formellen Ende der Sklaverei kamen neue Anti-Vagabundage-Gesetze, welche der Polizei erlaubten, Menschen zu verhaften, die beim »Müßiggang« erwischt wurden. Die Strafe war unbezahlte Zwangsarbeit. Solche Zwangsarbeit wurde mit Verabschiedung der aktuellen Verfassung Brasiliens abgeschafft; in einigen Gefängnissen gibt es sie dennoch weiterhin. Ihre vollständige Wiedereinführung ist ein »Traum« von Bolsonaro.
Doch es rührte sich immer auch Widerstand. Während der von den USA unterstützten Militärdiktatur von 1964 bis 1985 wurden arme, meist Schwarze, gewöhnliche Kriminelle, denen eine anständige Ausbildung vorenthalten worden war, zusammen mit gebildeten, meist weißen, wohlhabenden, linksradikalen politischen Gefangenen inhaftiert. Infolge politischer Bildung während der Haft ging aus den Gefängnissen das Comando Vermelho (das »Rote Kommando«) hervor – eine neue Art von Gang, die Klassenbewusstsein predigte.
Viele andere, wie das PCC, das 1993 in einem Gefängnis von São Paulo gegründet wurde, folgten später diesem Modell. Es leitete Überfallkommandos, verkaufte Gras und spendete – im Einklang mit ihrer rechtschaffenen Botschaft – an die Favelas, die sie kontrollierte, um sich Legitimität zu verschaffen. Solche Beiträge waren wichtige Lebensadern für Gemeinden, die der Staat völlig im Stich gelassen hatte. Das Comando Vermelho ist bis heute eine der größten kriminellen Organisationen in Brasilien, wobei der brutale Kapitalismus nach Jahrzehnten der Revierkämpfe, Konkurrenz mit Milizen und wechselnder Führungen jedoch einen Großteil ihrer sozialen Mission verdrängt hat.
Angefangen in den 1980er Jahren und verstärkt seit den 1990er und 2000er Jahren entwickelte sich Brasilien von einem Umschlagplatz für den milliardenschweren internationalen Kokainhandel selbst zu einem Markt. Die Profite stiegen, ebenso wie der Konkurrenzkampf um Territorium, die Investitionen in die Waffen zu dessen Verteidigung und die Zahl der Toten. In ganz Brasilien vervielfachten sich die Gangs und wurden stärker – aber es waren die Politiker, Militärs und Geschäftsleute, die die Handelsrouten kontrollierten und die wahren Profite machten.
Der Film City of God von 2002 zeichnet diese Eskalation der Gewalt nach. Er erzählt die Geschichte von Jugendlichen, die in einer Favela in Rio de Janeiro heranwachsen, als der Kokainhandel dort Fuß zu fassen beginnt. Im selben Jahr wählte Brasilien Lula zu seinem ersten Präsidenten der Arbeiterklasse.
Als die PT 2002 ihre erste Präsidentschaftswahl gewann, waren die Drogenbanden in Brasiliens monopolisierter Medienlandschaft die phantasmagorischen Hauptbösewichte der Gesellschaft. Die Nachrichten reproduzierten treu die Narrative der Polizei. Sie sendeten kontinuierlich Bilder von schlaksigen jungen Schwarzen in Shorts und Sandalen sowie durch Kopftücher oder T-Shirts verdeckten Gesichtern, wie sie waffenschwingend durch die von ihnen beherrschten Favelas liefen.
Die Versuche der PT, das brasilianische Justizsystem zu reformieren, sind jedoch keine Erfolgsgeschichte, sondern vielmehr ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, denen eine linke Regierung im Kampf gegen Kriminalität begegnen kann.
Lula gewann 2002 in einem Erdrutschsieg, indem er seine linke Rhetorik aus vorherigen verlorenenWahlkämpfen mäßigte, aber dennoch kühne Reformen der öffentlichen Sicherheit versprach. Das Programm fußte auf einem richtigen Verständnis davon, dass arme Kids in Sandalen, wenn auch das Gesicht der Gewalt, so doch nicht deren eigentliche Ursache waren. »Das brasilianische Volk wird von einem weit verbreiteten Gefühl der Unsicherheit beherrscht«, hieß es in Lulas 28-Punkte-Plan zur öffentlichen Sicherheit aus jenem Jahr, »und genau aus diesem Grund wird unsere Regierung versuchen, ein landesweites System der öffentlichen Sicherheit einzuführen«.
Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens hatte das Land einen nationalen Plan, der die »soziale Ausgrenzung« als Hauptursache für Kriminalität und die Notwendigkeit sozialer Programme zur Verbrechensbekämpfung herausstellte. Der Plan betonte zudem die »mangelnde Vorbereitung« der Polizei und das »langsame Tempo der Justiz« als erschwerende Faktoren. Und auch in puncto Korruption nahm Lula kein Blatt vor den Mund: »Das organisierte Verbrechen bedroht das Funktionieren der demokratischen Institutionen, die oft von Banden unterwandert werden.«
Allerdings ließ die PT die Rede von konkreten institutionellen Reformen zur Bekämpfung der Korruption in Polizei und Justiz schnell fallen. Lula und seine Nachfolgerin Rousseff drosselten die Ambition ihrer eigenen Reformen, so die Kriminologen Rodrigo Ghiringhelli de Azevedo und Ana Cláudia Cifali, aufgrund des heftigen Widerstands, auf den sie garantiert innerhalb der Polizeikräfte getroffen wären. Sie übernahmen die Zügel eines Landes, das durch Jahrhunderte brutaler Ausbeutung und extremer Armut geprägt ist, und dessen demokratische Institutionen noch sehr jung sind. Der massive und gewaltsame Einsatz von Polizei war eines der wenigen Instrumente, das der Regierung für die vielen ungelösten Konflikte in Brasilien zur Verfügung stand.
Polizeikräfte sind in Brasilien auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten organisiert. Viele Sicherheitsexperten sind jedoch der Meinung, dass wirksame Veränderungen nur durch Koordination auf Bundesebene erreicht werden können. Als Kandidat versprach Lula diese Art von Veränderung. Dann musste er jedoch einsehen, dass der Plan eine massive Unterstützung durch den Kongress und langwierige Verhandlungen mit allen 27 Gouverneuren voraussetzte, um eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Er war besorgt, dass »das Ausmaß und die Tiefe der Reformen« die Präsidentschaft »in den Mittelpunkt der öffentlichen Sicherheit stellen und ihr eine ungewöhnliche Prominenz in einem Bereich geben würden, der vorwiegend die Regierungen der Bundesstaaten betrifft, was das unmittelbare Risiko eines politischen Schadens mit sich bringen würde«, so Luiz Eduardo Soares, ein ehemaliger Sekretär für öffentliche Sicherheit unter Lula. Aus diesem Grund wurde der Plan aufgegeben.
Während seiner achtjährigen Amtszeit konnte Lula dennoch einige ehrgeizige politische Maßnahmen durchsetzen. Angefangen mit dem föderalen Entwaffnungsgesetz, das den Erwerb und den Besitz von Waffen stark einschränkte. Allein dieser Maßnahme wird ein sofortiger Rückgang der Mordrate zugeschrieben. Die PT überließ die Deutungshoheit jedoch waffenfanatischen »Law-and-Order«-Rechten, die diese Politik als ein Geschenk an Kriminelle auf Kosten der »guten Bürger« angriffen. Die Regierung war ständig in Sorge, von einer überwiegend konservativen Wählerschaft als nachlässig in Sachen Verbrechensbekämpfung wahrgenommen zu werden. Anstatt auf ihren Erfolgen aufzubauen, entschied sie sich, eine Reihe von Gesetzen zu verabschieden, welche die Zahl der Gefängnisse ansteigen ließen und das Strafrechtssystem an seine Grenzen brachten.
Von besonderer Bedeutung ist dabei ein Gesetz von 2006, das die Strafen für Drogenhandel verschärfte. Es entkriminalisierte zwar den Drogenbesitz für den persönlichen Gebrauch – eine an sich fortschrittliche Maßnahme – hielt jedoch keine Mengenangaben fest. Damit wurde die ursprüngliche Stoßrichtung ins Gegenteil verkehrt. Viele arme Schwarze mit einem Joint in der Tasche wurden wegen »Rauschgifthandels« verurteilt, während reiche, weiße Jugendliche straffrei blieben. Dieses diskriminierende Gesetz erlaubte außerdem, bei der Strafzumessung den Ort des Auffindens zu berücksichtigen: Eine kleine Menge Drogen, die in einer Favela sichergestellt wurde, konnte damit als »verdächtiger« eingestuft werden als die gleiche Menge in einem wohlhabenden Viertel.
Schlimmer noch: 84 Prozent der Strafverfolgungen wegen Drogenhandels, bei denen es um 10 Gramm oder weniger ging, basierten ausschließlich auf polizeilichen Zeugenaussagen, ohne andere physischen Beweise, um diese zu untermauern. In den PT-Jahren verdreifachte sich die Zahl der Inhaftierten in Brasilien auf 726.700 Menschen und belegte damit den dritten Platz weltweit.
Rousseff, die 2011 ihr Amt antrat, war in ihrer allgemeinen Sicherheitsagenda weit weniger ehrgeizig als ihr Vorgänger, aber noch eifriger in der Frage der Kriminalität. In den ersten Wochen ihrer Amtszeit verkündete der neu ernannte Sekretär für Drogenpolitik, Pedro Abramovay, der zuvor als hochrangiger Justizbeamter unter Lula tätig gewesen war, gegenüber der Zeitung O Globo, dass die Regierung Gefängnisstrafen für kleine Drogendealer abschaffen wolle, die nur verkaufen, um ihren eigenen Konsum zu finanzieren. Dies würde einen der Hauptfehler des Drogengesetzes von 2006 korrigieren. »Wir sprechen über Leute, die keine Verbindungen zum organisierten Verbrechen haben, die aber ins Gefängnis gesteckt und anderthalb Jahre später wieder freigelassen werden, jetzt mit solchen Verbindungen«, erklärte Abramovay. Er argumentierte, dass diese Politik auch zur Überbelegung der Gefängnisse beigetragen habe.
Aber Rousseff war außer sich. Sie verlangte vom Justizminister, er solle Abramovay sofort entlassen und zu Protokoll geben, dass die Regierung tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung gehen würde. Abramovay trat zurück; sein Vorschlag wurde nie realisiert.
Soares, Lulas ehemaliger Sekretär für öffentliche Sicherheit, berichtet von einer weiteren Enttäuschung für fortschrittliche Reformer, die sich in Juli 2011 ereignete. Die Verantwortlichen des Justizministeriums hatten sechs Monate damit verbracht, neue Politikentwürfe zur Bewältigung der explodierenden Mordrate auszuarbeiten. »Der lang ersehnte Termin kam: das Treffen mit der Präsidentin. Der Minister übergab ihr das Dokument, während die Präsentation vorbereitet wurde«, schreibt Soares. »Tötungsdelikte?« meinte Rousseff, »das ist Sache der Bundesstaaten«. Soares erinnert sich, dass sie »das Dokument beiseite legte und zum nächsten Tagesordnungspunkt überging«. Die Mordrate stieg während ihrer Präsidentschaft um 18 Prozent an.
Im Vorfeld der Olympischen Spiele sowie der Fußballweltmeisterschaft und angesichts unerwartet heftiger Proteste, verabschiedete Rousseff unter starkem Druck seitens der USA im Jahr 2013 ein repressives Anti-Terror-Gesetz. Außerdem beschloss sie noch ein weiteres Gesetz, das der Polizei mehr Befugnisse zur Beschaffung von Beweismitteln sowie weitreichende Rechte gab, um mutmaßliche kriminelle Organisationen zu infiltrieren. Beide Gesetze waren offen genug formuliert, um auch gegen soziale Bewegungen eingesetzt werden zu können.
Diese Entscheidungen entfremdeten Verbündete auf der Linken. Auch stellten sie die juristischen Instrumente bereit, welche später in der Operation Lava Jato zur Verfolgung der PT selbst genutzt wurde. Dieses Verfahren setzte wiederum eine Kette von Ereignissen in Gang, die zum Amtsenthebungsverfahren Rousseffs 2016 und zur Inhaftierung Lulas 2018 führen würde.
Im Jahr 2014 unterzeichnete Rousseff außerdem ein Dekret zur »Garantie von Recht und Ordnung« (GLO), das erlaubte, das Militär in den Favelas von Rio im Kampf gegen Drogenbanden einzusetzen. Die Gebiete sollten so »befriedet« werden, bevor Brasilien die Fußballweltmeisterschaft ausrichtete. Dieses Vorgehen führte zu einer großen Zahl von Missbräuchen, Verbrechen und Rechtsverletzungen.
»Die Straßen und das Leben in den Favelas wurden von den Machthabern in dieser sogenannten demokratischen Periode brutal militarisiert«, schreibt Gizele Martins, eine Journalistin und Aktivistin aus den Favelas des Complexo da Maré, die unter der GLO besetzt wurden. Siebzehn Monate lang »lebten wir mit Ausgangssperren, Überwachung, Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, zusätzlich zum Verbot jeglicher Aktivität auf der Straße«. Martins zufolge wurden lokale Aktivistinnen und Aktivisten wie sie »zensiert« und »bedroht«, weil sie die Missstände des Alltags dokumentierten.
Linke Politikerinnen und Politiker entgegnen, dass die weite Verbreitung konservativer Haltungen in der Bevölkerung ihnen Grenzen setze. Dies ist weitgehend richtig. Nur 24 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer unterstützen zum Beispiel die Legalisierung von Marihuana für den Freizeitgebrauch. Aber die eigenen Umfragedaten der PT aus dem Jahr 2015 zeigen auch eine komplexe Gemengelage von Meinungen, und lassen annehmen, dass die Öffentlichkeit in vielen Fragen der öffentlichen Sicherheit von Maßnahmen hätte überzeugt werden können, wenn sie mit der richtigen Führung und Botschaft gekoppelt gewesen wären.
Während 72 Prozent der Befragten fanden, dass Polizeikräfte Fehlverhalten ihrer Kolleginnen und Kollegen ignorieren, sagten ebenso viele, dass sie der Polizei vertrauen. »Geringe Polizeipräsenz auf den Straßen« war das am häufigsten genannte Problem, und »mehr Investitionen in die Ausbildung und Ausrüstung der Polizei« sowie die »Bekämpfung der Polizeikorruption« waren die häufigsten Antworten darauf, wie die Regierung die Sicherheitslage verbessern könnte. Rund 82 Prozent befürworteten den Einsatz des Militärs zur Verbrechensbekämpfung.
Andererseits sagten ebenso viele Menschen, die Polizei solle ihre Strategien ändern, um Todesfälle zu vermeiden, und bekräftigten, dass strengere Aufsicht notwendig sei. Die Mehrheit der Befragten stimmte den folgenden Aussagen zu: »Brasilianische Gefängnisse sind eine Schule für das organisierte Verbrechen« (84 Prozent) und »die Überbelegung der Gefängnisse verletzt die Menschenrechte« (77 Prozent). Interessanterweise gaben 90,8 Prozent der Befragten an, sie hätten noch nie von der Forderung nach »Entmilitarisierung der Polizei« gehört. Das war ein beliebter Slogan bei linken Anti-Regierungs-Protesten zwei Jahre zuvor gewesen, und war bereits von einigen progressiven Politikerinnen und Politikern aufgegriffen worden.
Letztendlich führte die versöhnliche Strategie der PT dazu, dass sie institutionelle Vereinbarungen mit dem brasilianischen Sicherheitsapparat schloss, statt Reformen einzuleiten. Das Ergebnis: Ohne eine Führung durch progressive Kräfte dominieren die reaktionärsten Elemente der brasilianischen Gesellschaft die Debatte über die öffentliche Sicherheit mit einfachen, klaren und rachsüchtigen Botschaften.
Am Morgen des 9. Februar 2020 stürmten siebzig schwer bewaffnete Polizeikräfte ein Bauernhaus in der verschlafenen, ländlichen Stadt Esplanada im Inland des nordöstlichen Bundesstaates Bahia. Das Anwesen gehörte einem Lokalpolitiker aus Bolsonaros damaliger Partei. Was weiter geschah ist umstritten, mit einer Ausnahme: Die Polizei tötete Adriano Nóbrega, damals Brasiliens berüchtigtster Milizionär und flüchtiger Verbrecher. Sie behauptet, er sei bei einem Feuergefecht ums Leben gekommen. Fotos von der Autopsie legen jedoch nahe, dass er aus nächster Nähe erschossen und möglicherweise zuvor gefoltert wurde. Auf seiner Flucht hatte sich Nóbrega mit mehreren engen Vertrauten des Bolsonaro-Clans getroffen, Partys besucht und sogar an Rodeo-Wettbewerben teilgenommen.
Die brasilianische Presse hatte im vorigen Jahr aufgedeckt, dass Nóbregas Familie bei Bolsonaros Sohn Flávio angestellt und in die vermuteten Veruntreuungen der Familie verwickelt war. Nóbrega, ein ehemaliger Hauptmann von Rios Eliteeinheit BOPE, soll geholfen haben, die gestohlenen Gelder der Bolsonaros zu waschen und zu investieren.
Zuvor hatte Nóbrega als Kommandant der Miliz Crime Office landesweite Berühmtheit erlangt – einem Killerkommando, das für die Ermordung von Marielle Franco, der linken Stadträtin von Rio im März 2018 verantwortlich gemacht wurde. Zehn Jahre früher war Franco Mitarbeiterin des progressiven Abgeordneten Marcelo Freixo gewesen – zu einer Zeit, als dieser eine Kongresskommission leitete, welche die Machenschaften der Milizen untersuchte. Zwei von Nóbregas Miliz-Kollegen, darunter Bolsonaros Nachbar und der Vater der Ex-Freundin seines Sohnes, erwartet ein Verfahren für die mutmaßliche Ausführung des Mordes. Neben Nóbrega starben weitere Personen, die verdächtigt werden, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Fast vier Jahre später ist der Fall nach wie vor ungelöst, und sind die Drahtzieher auf freiem Fuß.
Die dreiste Ermordung Francos, die ineffektiven Ermittlungen und die enge Beziehung der Verdächtigen zur Familie von Brasiliens Präsidenten markieren einen traurigen Höhepunkt in der Entwicklung der nationalen Milizbewegung, die seit Jahrzehnten mit Hilfe der Regierung operiert. Die frühesten Vorläufer der heutigen Milizen waren »Vernichtungstrupps«, die während der Diktatur von Polizisten außer Dienst ins Leben gerufen wurden. Sie wurden von lokalen Geschäftsgrößen bezahlt, um »die Straßen zu säubern« und »unerwünschte Elemente« zu exekutieren. Sie wurden von der Presse bejubelt und der Staat garantierte ihnen praktische Straffreiheit.
Die Milizen wurden immer Mächtiger. Zugleich ebnete das Vorgehen von Polizei und Militär gegen Drogenbanden in strategisch wichtigen Stadtvierteln in Rio de Janeiro der Übernahme durch die Milizen den Weg. Eine Studie von Fogo Cruzado, einer Organisation, die bewaffnete Gewalt dokumentiert, ergab, dass mehr als die Hälfte Rios von Milizen kontrolliert wird.
Es ist kein Zufall, dass Nóbrega sich dafür entschied, sich in Bahia niederzulassen, wo die Aktivitäten der Milizen zunehmen. Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates ermitteln gegen Polizeikräfte wegen Auftragsmordes, Diebstahls, Zeugenentführung, Drogenhandel, Folter und Erpressung. Im nördlichen Bundesstaat Pará, wo der Amazonas in den Atlantik mündet, kämpfen Milizen gegen den örtlichen Verband des Comando Vermelho. Wie in Rio kontrollieren die Milizen informelle öffentliche Verkehrsmittel, halten Monopole auf raubkopierte Fernseh- und Internetverbindungen und Gas zum Kochen, erpressen lokale Unternehmen für »Schutz« und Handeln mit Drogen. Pará verzeichnet nach Rio die zweithöchste Zahl an Morden durch die Polizei pro Jahr.
Diese territorialen Streitigkeiten führen unweigerlich zu mehr Toten. Aber sobald sich die Milizen etabliert haben und die offiziellen Polizeibehörden sie in Ruhe lassen, werden Schießereien in ihren Territorien seltener. Die Zahl der »Verschwundenen« ist jedoch viel höher und wird in der Kriminalitätsstatistik nicht erfasst. Das ermöglicht mitschuldigen Politikerinnen und Politikern zu behaupten, sie würden die Kriminalität effektiv bekämpfen, während sie in Wirklichkeit nur die Übernahme öffentlicher Institutionen durch das organisierte Verbrechen vorantreiben.
Nur acht Monate später wählte Brasilien trotz der Empörung über den Mord an Marielle Franco eine Reihe von Miliz-nahen Politikerinnen und Politikern. Deren rechtsextreme Botschaft wandte sich lautstark gegen die PT und ihre angebliche Vorliebe für Kriminalität, Korruption, Kommunismus und kulturelle Entartung. Ihre Programme enthielten auch Forderungen nach größerer Straffreiheit für die Polizei zur »Verbrechensbekämpfung«, einschließlich eines Freibriefs für die Tötung von Verdächtigen, Vorschläge zum Verhindern von Ermittlungen und der Strafverfolgung von polizeilichem Fehlverhalten, und ein Vorstoß zum einfacheren Erwerb von Waffen. Unter dem Beifall rechtsgerichteter Medien ritten diese offenen Befürworter von Polizeikriminalität auf der Welle der »Anti-Korruptions«-Stimmung, die sich fast ausschließlich gegen die PT und die Linke richtete.
Viele der erfolgreichen »Law-and-Order«-Kandidaten waren selbst ehemalige Polizeikräfte und Militärs. Darunter auch eine Abgeordnete aus São Paulo, die durch das Video einer Überwachungskamera bekannt wurde, in dem sie ihre Dienstpistole aus ihrer Handtasche zog und einen bewaffneten Räuber vor der Schule ihres Kindes erschoss. Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen, organisierte der Gouverneur des Bundesstaates am nächsten Tag eilig eine Zeremonie, um sie mit einer rosa Orchidee zu ehren.
Die Linke musste 2016 und 2018 massive Niederlagen einstecken. In São Paulo, Lulas Heimatstadt, stimmten viele Arme und Arbeitende in Vierteln, die lange Zeit treu an die PT gingen, mit überwältigender Mehrheit für Bolsonaro-nahe Politikerinnen und Politiker, die dem Verbrechen zu Leibe zu rücken versprachen und dabei eine neoliberale Wirtschaftsagenda propagierten.
Die PT und ihre Verbündeten, die jahrelang Gesetze verabschiedet hatten, die der Willkür im Justizsystem Tür und Tor öffneten, verbrachten das Jahr 2018 fast ausschließlich damit, auf die willkürliche Inhaftierung ihres Anführers Lula aufmerksam zu machen. Und das im Anschluss an zwei Jahre, in denen sie auf die ungerechtfertigte Amtsenthebung von Rousseff fixiert waren. Während sie versuchten, das Thema Korruption möglichst zu vermeiden, gelang es ihren Gegnern, sie als »die korrupteste Partei in der Geschichte Brasiliens« zu brandmarken. Die Anschuldigungen, die im Zuge dieser Anti-PT-Kampagne erhoben wurden, waren natürlich stark übertrieben. Die Korruption, die stattgefunden hatte, war nicht neu und betraf meistens ebenso jene Personen, die die Angriffe auf die PT anführten. Vieles davon waren »Begleiterscheinungen« der Einbeziehung der etablierten Parteien in die Regierungskoalition im Kongress.
Selbst nach Jahren intensiver Ermittlungen konnten die Staatsanwälte nicht beweisen, dass Lula oder Rousseff durch Korruption auch nur einen Cent verdient haben. Aber das spielte keine Rolle mehr – das Narrativ hatte sich bereits festgesetzt, was zum großen Teil auf Jahre der unhinterfragten Berichterstattung über die inzwischen in Ungnade gefallene Lava-Jato-Untersuchung zurückzuführen ist. In den Augen vieler Brasilianerinnen und Brasilianer spielten die Details keine Rolle mehr. Unter den PT-Regierungen hatten sie das Anwachsen von Milizen und Banden beobachtet und gesehen, dass die Straffreiheit für Kriminelle und korrupte Polizeikräfte schlimmer war denn je. Auch hatten sie unter Umständen selbst Korruption in kleinem Maßstab erlebt, an der ein Polizeichef oder eine Regierungsbeamte beteiligt waren.
Vielleicht hatten sie sogar ihren Job oder einen Teil ihrer Ersparnisse verloren, als das Imperium des damals berühmtesten Unternehmers, des zwielichtigen Eike Batista, zusammenbrach. Batista war mit viel Unterstützung der PT reich und später als Betrüger entlarvt worden. Im Jahr 2014 stürzte Brasilien in die tiefste wirtschaftliche Rezession seiner Geschichte. Die Kriminalitätsraten waren höher als je zuvor. Da all diese Entwicklungen unter der PT-Regierung passierten, lag es nicht nahe, zu glauben, dass auch sie eine Bande von Gaunern war?
Genau wie bei der Straßenkriminalität hatte die PT die Vision, auch mit Kriminalität und Korruption auf höchster Ebene aufzuräumen. Aber ihr fehlte der Wille oder die Macht, die notwendigen Strukturreformen durchzuführen. Halbherzige Maßnahmen stärkten die Feinde der Partei. Ironischerweise baute die PT-Regierung fast alle Instrumente, mit denen sie durch das Justizsystem zu Fall gebracht werden sollte, selbst auf. Sie gewährte der Bundespolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Rechnungshof größere Autonomie und ermächtigte sie, politische Korruption umfassender zu untersuchen. Sie verabschiedete auch die rechtliche Grundlage für die neuen Ermittlungsmethoden, die in den Lava-Jato-Prozessen teilweise missbräuchlich eingesetzt wurden.
Aber sie brachte keine politischen oder wahlrechtlichen Reformen auf den Weg, die den Einfluss des Geldes in der Politik geschwächt oder die Notwendigkeit verringert hätten, sich Verbündete zu kaufen, um als Partei an der Macht eine Regierungskoalition zu festigen. Ebenso wenig setzte sie die versprochenen Regelungen zur Zerschlagung einflussreicher rechter Medien durch. Stattdessen fütterte sie diese mit öffentlichen Mitteln.
Der größte Misserfolg der Partei war »die Lula-Strategie« der »permanenten Versöhnung«, so der Historiker Lincoln Secco, dessen Spezialgebiet die PT ist. »Es war sinnvoll, Lula im Jahr 2002 zu wählen«, sagte Secco in einem Interview mit El País, aber die Bedingungen änderten sich, und die PT unter Lula und Rousseff fuhr dennoch weiterhin die Taktik »pragmatisch zu sein, während die Opposition immer radikaler und ideologischer wurde«. Strukturelle Reformen wurden nicht ausreichend vorangetrieben »als Lula noch sehr beliebt war und dies möglich gewesen wäre«.
Die brasilianische Linke jenseits der PT hat sich in diesen Fragen als noch weniger fähig erwiesen. Ein Teil, angeführt vom ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Ciro Gomes, ist in Fragen der Sicherheit nach rechts gerückt, während ein anderer Teil identitäre und radikale Slogans vertritt, die außerhalb ihrer Aktivistenkreise keinerlei Anklang finden. Die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) ist das beste Beispiel für diesen Trend: Sie wurde von einer Gruppe von PT-Dissidenten gegründet, die Bündnisse mit der alten Garde der Oligarchie ablehnten. Sie verließen die Partei – aber die Arbeiterbasis der PT folgte ihnen nicht. Obwohl sie für eine arbeiterfreundliche Politik eintrat und nicht-weiße Kandidatinnen und Kandidaten aus den Favelas rekrutierte, kommt der größte Teil ihrer Wählerschaft – genau wie ihre Führung – aus den reichsten, weißesten und progressivsten Gegenden.
Diese Entkopplung wird in aktivistischen Forderungen wie der nach einer »Abschaffung der Polizei« deutlich, die von der PSOL aufgegriffen wurden. »In letzter Zeit haben wir gesehen, dass Gruppen innerhalb der linken Parteien versuchen, wieder in die Debatte einzutreten, aber mit einem identitären Diskurs, der darauf hinausläuft, in Online-Debatten Pluspunkte zu sammeln, anstatt sich auf ein Gespräch einzulassen«, sagt Maria Isabel Couto, Direktorin bei Fogo Cruzado. »Sie sind abgekoppelt von einer breiteren Basis, die im Dialog mit den Menschen steht, die durch die zunehmende Gewalt verängstigt sind«.
Kriminalität ist ein zu wichtiges Thema, als dass man es der Rechten überlassen könnte. Schließlich ist sie ein Ausdruck von Unterdrückung – besonders in Ländern wie Brasilien mit ihrer dunklen Geschichte von Diktatur, Rassismus und Gewalt. Die Linke übernahm die Macht mit einer Vision, die Kriminalität zu reduzieren. Sie versuchte, Reformen umzusetzen – letztlich priorisierte sie aber in ihrem Bemühen um Machterhalt die Pflege ihrer Beziehungen zu den institutionellen Akteuren gegenüber der Vision einer egalitären Gesellschaft.
Zwar erfordern Machtübernahmen immer eine Art von Entgegenkommen. Aber es sind genau diese Kompromisse mit konservativen Kräften, die zum Anstieg der Gewalt, der Unzufriedenheit der eigenen Basis und zum anschließenden Aufstieg der Rechten beigetragen haben. Gleichzeitig hat die weitere brasilianische Linke keine glaubwürdige Alternative im Bereich der öffentlichen Sicherheit anzubieten.
Die blutigen Szenen im Gefängnis Anísio Jobim und in ganz Brasilien waren das Produkt von »Law-and-Order«-Kräften, die selbst tief in der organisierten Kriminalität verwurzelt sind und Sozialprogramme ablehnen, welche die Ursachen der Gewalt tatsächlich bekämpfen könnten. Diese Kräfte haben nichts als Verachtung für die arbeitende Bevölkerung übrig, die unter der Kriminalität leitet. Aber eine Linke, die dieses Leiden unter der Kriminalität ignoriert, dient der Gesellschaft nicht viel besser.
Andrew Fishman arbeitet als investigativer Journalist in Rio de Janeiro.
Cecília Olliveira ist Stipendiatin der Shuttleworth Foundation und ehemalige Redakteurin bei »The Intercept Brasil«.
Andrew Fishman arbeitet als investigativer Journalist in Rio de Janeiro.
Cecília Olliveira ist Stipendiatin der Shuttleworth Foundation und ehemalige Redakteurin bei »The Intercept Brasil«.