22. März 2024
Der Brexit gilt als reaktionär, die EU als progressiv. Doch so einfach ist das nicht.
»Insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges idealisieren die ›Pro-Europäer‹ die EU als ein kosmopolitisches Projekt.«
Die Tendenz, sowohl Innen- als auch internationale Politik extrem vereinfachend zu betrachten, hat im letzten Jahrzehnt bedeutend zugenommen. Die internationale Politik wird weithin als Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie dargestellt, während die Innenpolitik oft als Kampf zwischen liberalen Zentristinnen und illiberalen »Populisten« aufgefasst wird, die, ob wissentlich oder nicht, den Willen von verschlagenen autoritären Staaten wie Russland befolgen. Seit der russischen Invasion in der Ukraine vor zwei Jahren ist es nochmal gängiger geworden, Politik nach dem Motto »die Guten gegen die Bösen« zu bewerten – und jeden, der anderer Meinung ist, als Putin-Sympathisant abzutun.
Diese mittlerweile allgegenwärtig scheinende Art des binären Denkens tauchte erstmals Mitte der 2010er Jahre auf. Damals begann das politische Kommentariat, verschiedenste Figuren, Bewegungen und Parteien auf der ganzen Welt gleichzusetzen – demnach folgten sie alle vermeintlich demselben »populistischen Handbuch«. Im Falle des britischen Referendums über den Austritt aus der EU wurde diese inflationäre Verwendung des Populismus-Begriffs sogar auf eine demokratische Entscheidung ausgeweitet.
Der Brexit wurde weithin als das britische Äquivalent zur Wahl von Trump in den USA gesehen – mit anderen Worten, er wurde mit der extremen Rechten identifiziert. In Deutschland hat sich diese Tendenz, den Brexit mit der extremen Rechten in Verbindung zu bringen, als besonders stark erwiesen. Unterstützt wird dieser Eindruck sicherlich auch von Äußerungen wie jüngst seitens Alice Weidel, dass der Brexit ein »Modell für Deutschland« sei.
In Wirklichkeit war der Brexit jedoch viel komplexer und ergebnisoffener. Für den Austritt aus der EU brachten verschiedene politische Kräfte die unterschiedlichsten Gründe vor. Es gab sowohl rechte als auch linke Argumente für den Brexit (auch wenn letzteres oft vergessen oder abgetan wird) sowie Argumente, die sich nur schwer ins Schema links/rechts einordnen lassen, etwa rund um Demokratie und Souveränität.
Beim Referendum im Juni 2016 wurden die Menschen nicht vor die Wahl zwischen Parteien gestellt, die in ihren Programmen ihre politischen Positionen darlegten, sondern vor die einfache Frage, ob sie die EU verlassen oder in ihr bleiben wollten. Den Brexit mit der extremen Rechten gleichzusetzen, vernebelt nicht nur, was 2016 tatsächlich passiert ist, sondern auch, wohin sich die britische Gesellschaft seither entwickelt.
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Hans Kundnani ist Visiting Fellow beim Remarque Institute an der New York University und Associate Fellow bei Chatham House in London. Sein Buch Eurowhiteness: Culture, Empire and Race in the European Project ist bei Hurst Publishers erschienen.