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09. August 2025

Der Brutalismus ist zurück

Weltweit holt eine neue Generation von Architekten den Brutalismus in die Gegenwart. Der Neobrutalismus ist kein bloßes Revival, sondern die ökologische Weiterentwicklung des polarisierenden Baustils.

Colegio Reggio in Madrid, Spanien.

Colegio Reggio in Madrid, Spanien.

IMAGO / Cover-Images

Seit etlichen Jahren erlebt die brutalistische Architektur ein Revival. Von einhelliger Begeisterung kann dennoch keine Rede sein. Als 2023 der Mäusebunker in Berlin nach 10.000 Unterschriften vom Abriss bewahrt wurde, titelte die B.Z.: »Hässlichstes Gebäude Berlins jetzt unter Denkmalschutz«. Parallel zum Kampf um die Deutungshoheit geschieht Erstaunliches in der Welt der zeitgenössischen Architektur.

So ist vielerorts zu beobachten, wie neue Projekte unmittelbar an den Brutalismus der 1950er bis 70er Jahre anzuknüpfen scheinen. Rohe Baumaterialien, offen gezeigte Konstruktionen, ablesbare Funktionen und eine neue Freude an skulpturalen Formen lassen Zweifel daran aufkommen, dass der Brutalismus gegen 1980 für immer in der Versenkung verschwand. Blickt man auf Bauten wie die 2015 fertiggestellte Universidad de Ingeniería y Tecnología (UTEC) in Lima, verblüfft bereits auf den ersten Blick die Ähnlichkeit zu den kühnen Bauten von vor einem halben Jahrhundert. Zu beobachten ist nicht weniger als eine globale Wiederkehr als Neobrutalismus.

Kann man heute noch so bauen?

Spricht man mit den Architektinnen und Architekten, hört man zwar meist ein latentes Interesse für die Bauformen der Vergangenheit heraus. Besonders Le Corbusiers Spätwerk wie etwa das radikal brutalistische Koster La Tourette wird allerorts bewundert. Die eigene Architektur wird in der Regel jedoch nicht als Rückgriff auf dieser Vorbilder verstanden. Vielmehr reagierten sie mit ihren Ansätzen auf die Aufgaben von heute.

Und doch ähneln nicht nur die Ästhetik, sondern auch die dahinterstehenden Ansätze, ob bewusst oder unbewusst, den historischen. Ähnliche Herangehensweisen führen zu einer ähnlichen Ästhetik. So geht es damals wie heute mit dem Ziel einer betont »ehrlichen« Architektur darum, Konstruktion und Funktion offen ablesbar zu machen sowie bewusst auf Verkleidung und Putz zu verzichten und die fundamentalen Baumaterialien offen zu zeigen.

Nun kann man natürlich schlecht behaupten, dass eine verputzte Wand oder ein Holzpaneel »unehrlich« seien. Auch sind sie nicht notwendigerweise funktionslos, denkt man beispielsweise an die isolierenden Eigenschaften. Dennoch besteht ein besonderer Reiz darin, die Knochen eines Baus zu zeigen. Neben ästhetischen Erwägungen wird der Verzicht auf industrielle Bauprodukte auch als pragmatische Antwort auf Ressourcenknappheit benannt. Eine Ziegel- oder Betonwand spart Putz und Farbe und muss idealerweise auch nicht regelmäßig überstrichen werden.

Universidad de Ingeniería y Tecnología (UTEC) in Lima, Peru. Foto: IMAGO / Depositphotos

Universidad de Ingeniería y Tecnología (UTEC) in Lima, Peru. Foto: IMAGO / Depositphotos

Allerdings muss der Einsatz von Beton selbst längst kritisch betrachtet werden. Wie kann man noch riesige Stahlbetonskulpturen planen, wenn allein die Zementindustrie für 7 Prozent des menschengemachten CO2-Ausstoßes verantwortlich ist und in manchen Regionen bereits für Beton geeigneter Sand und Kies knapp werden? Von der Industrie beworbene Innovationen wie klimaneutral hergestellter Zement und Recycling- oder Biobeton sind weit davon entfernt, ein Umschwenken der globalen Bauwirtschaft zu erwirken und bleiben bis auf Weiteres Nischenprodukte für Werbebroschüren.

Allerdings: Für Planer spricht nach wie vor viel für konventionellen Stahlbeton. Die Bauindustrie ist selbst in entlegenen Regionen darauf eingestellt, und im Vergleich zu vielen anderen Materialien sind die Transportwege kürzer und die Kosten geringer. Hinzu kommen die immer noch unübertroffenen Eigenschaften von Stahlbeton: Kein anderes Material ist zu einem vergleichbaren Preis so frei formbar. Stahlbeton erlaubt kühnste Auskragungen, dünne Schalenkonstruktionen und schier unbegrenzte skulpturale Möglichkeiten.

Auf Nachhaltigkeit angesprochen entgegnen manche, dass Beton es immerhin erlaube, mit wenig Material viel Raum zu umschließen, was dazu führe, dass insgesamt weniger Ressourcen verbraucht würden. Auch trage der mit dickeren Dämmbetonwänden erkaufte Verzicht auf hochspezialisierte Wandschichten zu einer späteren Sondermüllverminderung bei.

»Wer sich dafür interessiert, wo und unter welchen Bedingungen sein Frühstücksei gelegt wurde, könnte sich auch dafür interessieren, wie ein Bauwerk entsteht, woraus es besteht und wie es konstruiert ist.«

Im globalen Betonverbrauch stellen neobrutalistische Projekte sicherlich nur einen verschwindend geringen Bruchteil dar. Durch ihre Fotogenität haben sie jedoch einen prominenten Einfluss auf unser kollektives visuelles Gedächtnis. So können sie sich einer gewissen geschmacksbildenden Vorbildfunktion nicht verwehren, was die Frage, ob man diese Entwürfe nun bewundern oder verurteilen soll, nicht einfacher macht.

Warum jetzt?

Architektur ist immer ein Spiegel der Zeit, in der sie entsteht. Die Ästhetik resultiert aus einer bestimmten ethischen Haltung gegenüber dem Entwerfen und dem Bauen. Architekturbüros reagieren dabei aber nicht nur auf Bedingungen und Herausforderungen, sie sind auch abhängig davon, dass die Auftraggebenden ihre Entwürfe absegnen und finanzieren. Und da die brutalistische Ästhetik immer noch mit ihrem Image zu kämpfen hat, ist dies in diesem Fall nicht selbstverständlich. Doch in unseren zunehmend virtuellen und entmaterialisierten und hyperkomplexen Lebenswelten entsteht eine Sehnsucht nach betont physischen, haptischen, begreifbar erscheinenden Phänomenen, die der (Neo)Brutalismus bedienen kann.

Wer sich dafür interessiert, wo und unter welchen Bedingungen sein Frühstücksei gelegt wurde, könnte sich auch dafür interessieren, wie ein Bauwerk entsteht, woraus es besteht und wie es konstruiert ist. Die grob geschalte Betonwand erzählt mit ihren Arbeitsspuren nicht nur von ihrem Entstehen, sie zeigt (und überhöht mitunter) das physische Wesen des Hauses. Wo sich die tragenden und lastenden Elemente begegnen und Leitungen und Rohre offen verlegt sind, erscheint das System begreifbar. Leider wird man nicht viel schlauer aus der Frage, wo der Strom nun eigentlich herkommt, wenn die Stromleitung von der Steckdose einige Meter weiter doch wieder nur in der Wand verschwindet.

Zugleich bieten die massiven, rauen Oberflächen ein körperliches Erlebnis. Wände aus Backstein oder Beton muten weniger abstrakt an als Glas und weiß gestrichene Flächen. Damit schlagen neobrutalistische Ansätze in dieselbe Kerbe wie die kollektive Faszination für das Handwerk. Wie schon vor 150 Jahren, als die Arts-and-Crafts-Bewegung Natur und Handwerk als Gegenmittel für eine als bedrohlich wahrgenommene, rasante Industrialisierung postulierte, bietet auch heute das Regionale, Handgemachte, nicht seriell Produzierte wieder ein Sehnsuchtsbild.

Spore Initiative in Berlin, Foto: Felix Torkar.

Spore Initiative in Berlin, Foto: Felix Torkar.

Wer baut und warum?

In dieses Bild passt auch, dass sich die Auftraggeberschaft im Brutalismus und Neobrutalismus stark voneinander unterscheidet. Für den Brutalismus war die öffentliche Hand ganz zentral. Universitäten, Kulturzentren, Rathäuser, Infrastruktur- und Regierungsprojekte waren gut dotiert und Verwaltungen der Nachkriegsära erstaunlich experimentierfreudig. Im Gegensatz dazu tritt der Neobrutalismus zum größeren Teil in der Privatwirtschaft auf. Bildungsbauten wie die UTEC entstehen nun für Privatuniversitäten, und das eigentlich ressourcentechnisch nicht mehr tragbare Einzelhaus hat sich zur zentralen Bauaufgabe neobrutalistischer Gestaltung entwickelt.

Die Prioritäten haben sich im Neoliberalismus verändert. Zum neuen Denkmalschutz des brutalistischen Hygieneinstituts in Berlin-Lichterfelde sinnierte seine Besitzerin, die landeseigene Krankenhausgesellschaft Charité, ob man heute eigentlich noch so baue, dass diese Gebäude ihrerseits in sechzig Jahren ein Denkmalschutzsiegel verdienten. Die häufig utilitaristischen, gesichtslosen Minimallösungen der letzten Jahre müssen sich diese Frage tatsächlich gefallen lassen, denn zum nachhaltigen Bauen gehört auch eine lange Lebensdauer.

»Bei aller rohen Schönheit bleibt die Kernkritik an mangelnder Klimaeffizienz und hohem Ressourcenverbrauch.«

Ein Grundsatz des Brutalismus ist die »memorability as an image«, also ein optische Einprägsamkeit. Wenn die Formgebung über das Mindestmaß hinaus geht, entsteht das Potenzial zur Identifikation und Wertschätzung, das es möglich macht, einen Bau auch nach dreißig, siebzig oder hundert Jahren in Schuss zu halten und die beim Bau verwendeten Ressourcen weiterzuverwenden.

Dass beim Neobrutalismus von einer überwiegend gehobenen, privatisierten Architektur gesprochen werden muss, heißt aber nicht, dass es nicht auch Gegenbeispiele gibt. In China profitiert eine neue Generation von Architekturbüros von einem Bauboom für Kulturzentren und Förderprojekte in ländlichen Regionen. Unter großem Aufwand entstehen hier Architekturen, die skulpturale Formen mit lokalem Bauhandwerk und Materialien verbinden.

Mit diesen Ansätzen gewann etwa Wang Shu bereits 2012 die höchste internationale Architekturauszeichnung, den Pritzker Preis. Liu Jiakun folgte 2025. Wang Shus Ningbo Museum erscheint in monumentalen Volumen, deren Beton die Spuren der Schalung aus Bambus in sich tragen. Teile der Fassade bestehen aus wiederverwendeten Formsteinen und Ziegeln von Häusern, die für den Bau abgebrochen wurden. Damit werden die massiven Abrisswellen im Kontext des rasanten chinesischen Wachstums vielleicht nicht offen kritisiert, aber zumindest thematisiert und hinterfragt. Die Oberflächen verankern das Museum in seiner Umgebung.

Ningbo Museum in Ningbo, China. Foto: Siyuwj (CC BY-SA 3.0)

Ningbo Museum in Ningbo, China. Foto: Siyuwj (CC BY-SA 3.0)

Währenddessen finden sich in Südostasien und Lateinamerika vermehrt Ansätze für eine sozial geprägte Backsteinarchitektur. Tropical Space in Vietnam und Minimo Común in Paraguay schaffen raffinierte Mauerverbände, die die passive Belüftung befördern und prägnante Formen im Wohnungsbau realisieren. Dabei ist Nachbauen erwünscht. Die offen gezeigten Materialien und Konstruktionen sollen bei Minimo Común dazu anregen, Elemente im Eigenbau zu übernehmen. Sie seien glücklich, wenn sie damit mehr Menschen erreichen könnten. So wird die architekturtheoretische Kopfgeburt der »Ablesbarkeit« auf einmal zu einem praktischen Werkzeug für soziale Teilhabe.

Der Anfang vom Ende?

Bei aller rohen Schönheit bleibt die Kernkritik an mangelnder Klimaeffizienz und hohem Ressourcenverbrauch. Und so mehren sich beispielsweise aus der Schweiz die Stimmen, die attestieren, dass das Ende der Fahnenstange bald erreicht sein könnte. In den vergangenen Jahren werden öffentliche Wettbewerbe zum Großteil von holzbasierten Entwürfen gewonnen, egal, ob es als Verblendung nur ein grüner Anstrich oder ein echter Holzbau sei. Ein möglicher Weg in die Zukunft ist der Wechsel zu anderen Materialien. Schon der Erfinder des Brutalismusbegriffs Reyner Banham stellte 1955 klar, dass es weniger um den Beton selbst ginge.

»Eine echte Wiederbelebung des experimentierfreudigen Brutalismus im Geiste der öffentlichen Bauaufträge der Nachkriegszeit steht bislang aus.«

Auch wenn der Begriff von béton brut, also rohem Sichtbeton hergeleitet wurde, geht es vielmehr um die Grundidee, egal ob es nun offen gezeigter Beton, Backstein oder Stampflehm ist. Und so finden sich neobrutalistische Ansätze immer mehr auch in Projekten, bei denen es besonders um ökologisch nachhaltige Aspekte geht. Das Colegio Reggio in Madrid etwa ist ein Patchwork aus Glaselementen, Filtermauerwerk, Sichtbetonrundbögen, Lehmwänden und Bullaugen. Die offengelegten Elemente sollen den Kindern eine spielerische Annäherung an die Architektur ermöglichen, während sich durch den Verzicht auf Verblendungen und Wandschichten gleichzeitig 48 Prozent des Materials einsparen ließen. Gedämmt wird mit Kork, wodurch der Energieverbrauch halbiert werden konnte.

Colegio Reggio in Madrid, Spanien. Foto: IMAGO / Cover-Images

Colegio Reggio in Madrid, Spanien. Foto: IMAGO / Cover-Images

Vielleicht sehen wir also bald einem zweiten Ende der Betonmonster entgegen, während sich die Haltung in einer Art Ökobrutalismus ein weiteres Mal von innen heraus erneuert. So oder so: Diese Formen roher Architektur werden uns auf absehbare Zeit weiter in unserer gebauten Umwelt begleiten.

Doch eine echte Wiederbelebung des experimentierfreudigen Brutalismus im Geiste der öffentlichen Bauaufträge der Nachkriegszeit steht bislang aus. Der Neobrutalismus hat seine Wurzeln heute vor allem im Privaten – in gut finanzierten Wohnhäusern, Privatuniversitäten oder Kulturprojekten einzelner Mäzene. Was fehlt, ist der politische Wille, öffentliche Architektur wieder als gestalterisches und soziales Experimentierfeld zu begreifen.

Die öffentliche Hand braucht den Mut, sichtbare und erinnerbare Gebäude zu fördern – Bauten, die Identifikation stiften und langfristig nutzbar bleiben. Dafür bräuchte es nicht nur größere Gestaltungsspielräume in öffentlichen Ausschreibungen, sondern auch ein kulturelles Umdenken: weg vom kurzfristigen Effizienzdenken, hin zu einer Architektur, die als kollektives Erbe verstanden wird – roh, offen, zugänglich.

Felix Torkar ist Architekturhistoriker und arbeitet als Acquisitions Editor beim JOVIS Verlag in Berlin. Für seine Doktorarbeit forschte er vier Jahre lang zum Neobrutalismus.