25. Oktober 2023
Sahra Wagenknechts neue Partei kommt. Mit Sozialismus hat sie eher nichts am Hut, das dürfte sie aber in unmittelbarer Zukunft für das Establishment umso gefährlicher machen.
Amira Mohamed Ali, Sarah Wagenknecht und weitere Mitbegründer des Vereins »Bündnis Sahra Wagenknecht« stehen am 23. Oktober 2023 vor der Bundespressekonferenz.
Nach mehreren schmerzhaften Jahren hat die quälende Selbstdemontage der Linken im Bundestag endlich ein Ende gefunden. Die Pressekonferenz des »Bündnisses Sahra Wagenknecht« (BSW) am Montag markiert eine neue, endgültige Phase in dem langwierigen Scheidungsprozess zwischen der Linkspartei und ihrem populärsten Mitglied. Wagenknecht und neun weitere Abgeordnete der Bundestagsfraktion kündigten ihren Austritt aus der Partei und ihre Absicht an, im Januar 2024 eine neue Partei zu gründen – rechtzeitig zu den bevorstehenden Europawahlen.
Wagenknecht kommt mit ihrem Austritt aus der Linken einem Ausschlussverfahren zuvor. Für manche ist es ein willkommener und längst überfälliger Schritt, für andere eine unverantwortliche Schwächung der Linken, ein »Ego-Trip«. Daran mag vieles wahr sein, es sagt aber wenig über die potenzielle Realisierbarkeit des Projekts aus. Letzteres wird davon abhängen, ob sie ihre riesige Fangemeinde in eine zuverlässige Wählerbasis umwandeln kann. Das Potenzial dafür, wie die ersten Umfragen zeigen, scheint jedenfalls vorhanden zu sein.
Das öffentliche Gesicht der Partei bleibt vorerst eine dünne Webseite ohne richtigen Namen, geschweige denn Kandidatinnen und Kandidaten oder einen Apparat. Doch angesichts der Tatsache, dass die Ampelkoalition in den Umfragen unter 40 Prozent liegt, die AfD ein Rekordhoch erreicht und die einzige linke Opposition im Parlament zwischen 4 und 5 Prozent dümpelt, könnte die Entstehung einer neuen, bundesweiten Partei die deutsche Parteienlandschaft durchaus ins Wanken bringen. Zu wessen Gunsten, wiederum, ist eine andere Frage.
Das Bündnis, das sich am Montag präsentierte, bestand mehr oder weniger aus den erwarteten Gesichtern, Wagenknechts engsten Verbündeten aus der Partei. Einzige Ausnahme: Ralph Suikat, ein millionenschwerer IT-Unternehmer, der in den 2000er Jahren ein Vermögen mit dem Verkauf von Software an Anwaltskanzleien gemacht hat. Seit er Millionär ist, verbringt er einen Großteil seiner Zeit als Verfechter eines progressiven Steuersystems in Deutschland und war Mitbegründer von Taxmenow, »einer Initiative von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt«, die sich nun jedoch von seinem parteipolitischen Engagement distanziert hat.
Die Anwesenheit Suikats an der Seite einiger prominenter Wagenknecht-Mitkämpfer, die alle dem gelegentlich »linkskonservativ« genannten Flügel der Partei angehörten, sagt viel über die politische Triangulation aus, die Wagenknecht anstrebt: ein diffuses Bündnis zwischen etablierteren Segmenten der Arbeiterklasse, abstiegsbedrohten Teilen der Mittelschicht sowie dem, was die chinesischen Kommunisten wohl früher als die »fortschrittliche nationale Bourgeoisie« bezeichnet hätten.
»Linke Vokabeln wie Sozialismus oder Kapitalismus, die Wähler aus der Mitte abschrecken könnten, sind verschwunden und wurden durch eine maßvolle Rhetorik der Fairness, Vernunft und Gerechtigkeit ersetzt.«
Statt einer Links-Rechts-Fusion oder einer Querfront-Partei, wie viele aus den Medien befürchteten, scheint das BSW so etwas wie eine wahlpolitische Volksfront zu imitieren. Wagenknecht und andere grenzten sich in der Bundespressekonferenz von der AfD ab und betonten mehrfach die Gefahr, die von ihrem Aufstieg ausgeht, während sie die Schuld der Regierung und ihrer eigenen ehemaligen Partei zuschieben, der sie vorwerfen, ihre traditionelle Basis zu verprellen. Statt die Gefahren ungezügelter Migration oder die angeblich schädlichen Nebenwirkungen von COVID-Impfstoffen zu betonen, konzentrierten sich die BSW-Vertreter auf sozialdemokratische Brot-und-Butter-Themen:»soziale Gerechtigkeit«, »Frieden«, »Freiheit« und »wirtschaftliche Vernunft«.
Das BSW ist nach eigenen Angaben eine von oben gesteuerte, straff orchestrierte Operation. Wagenknecht hat Lehren aus dem Chaos ihrer 2018 nach einigen Wochen gescheiterten Kampagnenorganisation Aufstehen gezogen. Sie scheint darauf bedacht zu sein, die Partei methodisch und nur mit ausgewähltem Personal aufzubauen. Bislang gibt es keine Möglichkeit, dem Verein beizutreten.
Merkwürdig ist unterdessen die Selbstdarstellung des Vereins: Auf dessen Website finden sich lediglich sterile Stockfotos und ein paar knappe Texte. Ihr Launch-Video kombiniert ebenso unauthentisches Archivmaterial mit Clips von Wagenknecht im Parlament, einschließlich einer etwas unheimlichen Nahaufnahme ihrer Füße in schwarzen Lederpumps. Die Ästhetik erinnert dabei eher an die Marketing-Kampagne einer lokalen Sparkassenfiliale als an den Start einer Anti-Establishment-Partei. Linke Vokabeln wie Sozialismus oder Kapitalismus, die Wähler aus der Mitte abschrecken könnten, sind verschwunden und wurden durch eine maßvolle Rhetorik der Fairness, Vernunft und Gerechtigkeit ersetzt. Vielleicht ist die Corporate Identity einer Bankfiliale die richtige visuelle Sprache, um die erklärte Zielgruppe der BSW zu erreichen.
Das Kurioseste an Wagenknechts neuem Projekt ist allerdings die Tatsache, dass es zumindest auf kurze Sicht eine glaubwürdigere Bedrohung für das politische Establishment darstellt als die Linkspartei, obwohl letztere Positionen vertritt, die deutlich links vom BSW liegen.
Wagenknecht ist ein gesellschaftliches Phänomen. Kaum eine Politikerin in Deutschland erregt so viel Aufsehen und sorgt für so stark geteilte Meinungen. Was sie schreibt, wird zum Bestseller, und ihre öffentlichen Veranstaltungen sind ausverkauft. Aufgrund ihres Status als politischer Joker und ihrer überragenden öffentlichen Persönlichkeit ist Wagenknecht in der Lage, mit den politischen Eliten zu deren eigenen Bedingungen zu konkurrieren, sei es als Gast in Talkshows oder als heterodoxe Ökonomin, die die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung kritisiert und herausfordert. Ihre anti-monopolistische Haltung und ihr Plädoyer für den Erhalt des deutschen Produktionsstandortes sind zwar alles andere als revolutionär, stellen aber eine echte Herausforderung für die Orthodoxie des Mainstreams dar und setzen die anderen Parteien von der Union bis hin zu den Grünen unter Druck.
Die Linkspartei hingegen hält auf dem Papier an einem scharf antikapitalistischen Profil fest, hat aber ihre Rhetorik in vielen Bereichen abgeschwächt und scheint bei politischen Gegnern nicht mehr denselben Zorn hervorzurufen wie früher. Ihre schwindenden Wahlerfolge machen sie objektiv weniger bedrohlich als früher, gleichzeitig hat sie sich durch ihre Beteiligung an mehreren Landesregierungen als durchaus vernünftige Koalitionspartei erwiesen, die bereit ist, sich um des Regierens willen staatstragend zu zeigen und große programmatische Zugeständnisse zu machen – ein Dilemma, mit dem Wagenknecht als eminente Bundespolitikerin bisher nicht konfrontiert war.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist ihre ehemalige Partei eine weitgehend marginalisierte Kraft, die seit einem Jahrzehnt bei so gut wie keiner Wahl mehr die Erwartungen übertroffen hat. Ihre schrumpfende Basis hat sich in die Großstädte verlagert, wo sie mit dem Rest der Mitte-Links-Partien um progressive Stimmen konkurriert – mit gemischten Ergebnissen. Um Protestwähler wird die Linke zukünftig mit dem BSW konkurrieren. Gleichzeitig muss sie dies mit der Tatsache in Einklang bringen, dass sie weiterhin an mehreren durchaus gemäßigten Landesregierungen beteiligt ist. Mit dieser Zwickmühle kämpft die Partei seit Anbeginn ihrer Existenz, aber spätestens jetzt wird sie wirklich existenziell.
Das BSW ist zunächst in der glücklichen Lage, sich ohne diese Widersprüche als Fundamentalopposition zum politischen Mainstream positionieren zu können. Hierfür macht Wagenknecht Zugeständnisse an die Rechten, wenn sie zum Beispiel deren Forderung nach einer »Obergrenze« in der Migrationspolitik übernimmt, aber sie zielt eindeutig nicht auf das bestehende linke Milieu in Deutschland als ihr Wahlklientel ab. Ihre Positionen, auch wenn sie für viele Linke vielleicht ein Sakrileg darstellen, sind keineswegs jenseits des politischen Mainstreams und weit entfernt von der Art von »nationalem Sozialismus«, den ihr manche scharfzüngigen Kritiker vorwerfen.
Wenn es dem Team um Wagenknecht gelingt, die organisatorischen Fehler von 2018 zu vermeiden und bis Anfang nächsten Jahres einen funktionierenden Apparat auf die Beine zu stellen, dann hat die Partei Chancen, 2024 einige Abgeordnete nach Brüssel zu schicken und bei den anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland starke Ergebnisse zu erzielen. Sollte dies gelingen, würde sie mit viel Momentum in die Bundestagswahl im darauffolgenden Jahr gehen und die LINKE entweder ersetzen oder zwischen ihr und der SPD eine neue, siebte Fraktion bilden.
Die Wagenknecht-Partei wird keine sozialistische Partei sein. Aber es wäre ebenso zu kurz gefasst, sie als rechte Partei zu bezeichnen. In vielen Fragen wird sie vermutlich ähnliche Positionen vertreten wie die Linkspartei, wenn auch in einem anderen rhetorischen Gewand. Sie wird eher mit den Sozialdemokraten in Schweden oder der Sozialistischen Partei in den Niederlanden vergleichbar sein, die beide eine härtere Haltung zu Migrations- und Kulturfragen eingenommen haben. Sie wird stark auf Nicht-Wähler setzen müssen, und auf die Unzufriedenen in den Kleinstädten und auf dem Land, wo die Entfremdung gegenüber der Bundespolitik schon lange am spürbarsten ist. Damit bildet sie keine unmittelbare Konkurrenz zur jetzigen LINKEN, die in solchen Milieus schon längst ihren Rückhalt verloren hat.
»Die Linkspartei schafft es immer weniger, ihre antikapitalistische Programmatik mit ihrer realpolitischer Biegsamkeit in Einklang zu bringen.«
Aber selbst wenn das neue Projekt von Sahra Wagenknecht nicht darauf aus ist, sich an ihrer ehemaligen Partei abzuarbeiten, wird es nicht umhin kommen, Mitglieder an der Basis zu rekrutieren – Leute, die Ortsgruppentreffen abhalten, Wahlplakate aufhängen und Flugblätter verteilen. Wenn Wagenknecht nicht in der Lage ist, über Nacht Hunderte, wenn nicht Tausende von disziplinierten politischen Aktivisten aus dem Nichts herbeizuzaubern, werden die offensichtlichsten und unmittelbarsten Kandidaten jetzige und ehemalige LINKE-Mitglieder und andere Menschen mit Organisationserfahrung sein. Sie werden Haltungen mitbringen, die früher oder später mit Wagenknechts Hinwendung zu den kleinen und mittleren Kapitalisten kollidieren könnten. Sie werden dafür sorgen, dass die Parteibasis der traditionellen Linken kulturell sehr viel ähnlicher sein wird, als es die Sparkassen-Ästhetik vermuten lässt, und dafür, dass das BSW für nicht wenige Mitglieder möglicherweise eine attraktive Alternative darstellen wird.
All dies ist kurzfristig nicht zwingend von Bedeutung, kündigt langfristig aber grundsätzliche Schwierigkeiten an. Im Moment bieten Themen wie die wirtschaftlichen Auswirkungen der Russland-Sanktionen (in erster Linie steigende Energiepreise), die neu entdeckte Bereitschaft von Grünen und SPD in der Bundesregierung, Waffen in Kriegsgebiete zu schicken, und die Entfremdung über eine angeblich außer Kontrolle geratene politische Korrektheit solide Anknüpfungspunkte für ein Bündnis zwischen Industriearbeitern und Mittelstandsunternehmen. Doch Klassengegensätze hören in Unternehmen nicht auf magische Weise auf zu existieren, nur weil diese kleiner sind als ihre multinationalen Konkurrenten. Tatsächlich zeichnen sich kleine und mittlere Unternehmen häufig durch niedrigere Löhne und weniger sichere Arbeitsplätze aus, da sie schwieriger gewerkschaftlich zu organisieren sind, und verletzbarer gegenüber wirtschaftlichen Schwankungen. Mit diesem Dilemma wird sich eine Partei, die »den Rücken gerade macht für die arbeitenden Menschen im Land«, wie Christian Leye es formuliert, früher oder später auseinandersetzen müssen – spätestens dann, wenn sie eine Regierung bilden sollte.
Während Sahra Wagenknecht den langen Marsch von der marxistisch-leninistischen Philosophin zur heterodox-ordoliberalen Ökonomin vollzieht, den sie vor über einem Jahrzehnt begonnen hat, hält ihre ehemalige Partei weiterhin an der Vision eines demokratischen Sozialismus fest, in dem die Mehrheit den gesellschaftlich produzierten Reichtum besitzt und kontrolliert. Anknüpfungspunkte für eine sozialistische Partei gäbe es in der Bundesrepublik zu Genüge, wo doch fast ein Fünftel der arbeitenden Bevölkerung im Niedriglohnsektor gefangen ist und die Arbeitskämpfe in letzter Zeit wieder anstiegen. Doch die Linkspartei schafft es immer weniger, ihre antikapitalistische Programmatik mit ihrer realpolitischer Biegsamkeit in Einklang zu bringen. Weder war sie eine treibende Kraft in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre, noch erfüllt sie die Rolle einer Fundamentalopposition, wie sie das einmal tat. Wagenknecht, lange frustriert von dieser Stagnation, scheint nun den Sozialismus endgültig aufzugeben und schafft mit ihrem neuen Bündnis stattdessen ein Angebot, die Marktwirtschaft sozialer zu regulieren. Immerhin.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.