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07. Juni 2025

Die Grenzen des Tragbaren

Mitglieder des Bundestages nutzen nicht selten ihre Kleider, um Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken. Doch als Cansin Kökturk sie nutzte, um Solidarität mit den Menschen in Palästina auszudrücken, ging das dem Haus wohl zu weit.

Cansin Köktürk verlässt das Plenum, nachdem die Bundestagspräsidentin sie wegen Tragen eines T-Shirts mit der Aufschrift »Palestine« des Saals verwiesen wurde, 4. Juni 2025.

Cansin Köktürk verlässt das Plenum, nachdem die Bundestagspräsidentin sie wegen Tragen eines T-Shirts mit der Aufschrift »Palestine« des Saals verwiesen wurde, 4. Juni 2025.

IMAGO / Political-Moments

Mode sorgt gerade für viel Wirbel in Deutschland. Klar, sie ist politisch. Das hat die mutige Klimaaktivistin Luisa Neubauer Anfang des Jahres sowohl auf dem Presseball als auch auf der Berlinale gezeigt. Auf ersterem mit einem klassischen schulterfreien Kleid in Schwarz, mit den Worten »Hot, Hotter, Dead«, als Anspielung auf die Klimakrise. Auf zweiterem mit einem unschuldigen weißen Kleid und der Aufschrift »Donald & Elon & Alice & Friedrich?«, um Friedrich Merz dazu zu bewegen, nicht zu rechts zu werden. Genial! Ihre ehemalige Weggefährtin Greta Thunberg riskiert derweil auf einem Boot mit Hilfslieferungen für die Menschen in Gaza ihr Leben. Langweilig! Wo ist der Glamour-Faktor?

Neubauer wurde in links- bis rechtsliberalen Kreisen gefeiert. Sie hat angeeckt, allerdings ohne es dabei zu übertreiben. Gerade richtig für das deutsche Bürgertum. Jette Nietzard hat diesen schmalen Grat nicht geschafft. Ausgerechnet die Vorsitzende der angeblich rebellischen Grünen Jugend musste sich vor kurzem unter Druck der Öffentlichkeit für den ACAB-Schriftzug auf ihrem Pullover entschuldigen. Politische Statements von Politikerinnen und Politikern ja, aber bitte mit Augenmaß.

Das dachte sich vergangenen Mittwoch wahrscheinlich auch die neue Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Cansin Köktürk. Sie saß im Plenarsaal des Bundestages, in einem grauen T-Shirt mit der Aufschrift »Palestine«. Gewiss wollte sie die Grenzen des Tragbaren testen. Und es hat funktioniert. Bundestagspräsidentin und Nestle-Fan Julia Klöckner (CDU) hatte Köktürk offenbar zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit gebeten, ihr Oberteil zu wechseln. Als sie der Bitte nicht nachkam, verwies Klöckner sie des Saals.

»Wir haben vereinbart und das sind die klaren Regeln des Hauses, dass weder Aufkleber noch sonstige Bekenntnisse auf T-Shirts eine Rolle spielen«, sagte die Präsidentin etwas ungelenk. Aber wozu hat sich Köktürk mit ihrem Shirt bekannt? Zum Staat Palästina? Die Bundesregierung befürwortet ja zumindest offiziell die Zwei-Staaten-Lösung, also die Existenz Palästinas. Also hat sich Köktürk doch nur zur Bundesregierung bekannt, was einem als linke Politikerin eigentlich sogar zu denken geben sollte.

Aber nein, im Ernst: Möchte man Köktürk »unterstellen«, ein Zeichen gegen den mutmaßlichen Genozid Israels in Gaza zu setzen und an der Haltung der deutschen Politik hierzu, lehnt man sich nicht zu weit aus dem Fenster. Das hat sie auch mehr oder weniger auf Instagram bestätigt. Ihre Haltung hat Klöckner nicht gepasst. Das war zu kritisch. Gar radikal.

Etwas ist hier nicht in Ordnung

Die Frau Bundestagspräsidentin hat indes Unrecht, wenn sie von »klaren Regeln des Hauses« spricht. Denn so klar sind sie nicht. Eine offizielle Kleiderordnung gibt es im Bundestag nicht. Kopfbedeckungen etwa werden in nicht-medizinischen oder -religiösen Fällen in der Regel nicht erlaubt, wie der Linkspartei-Abgeordnete Marcel Bauer aufgrund seiner Baskenmütze bereits zu spüren bekam. Sein Verweis aus dem Plenarsaal lag also vermutlich nicht an mutmaßlicher modischer Verirrung.

In den Zugangs- und Verhaltensregeln des Bundestages heißt es sonst aber nur: »Die Kleidung und das Verhalten müssen der Würde des Hauses entsprechen.« Wer den Bestimmungen der Hausordnung zuwiderhandele oder »in einer der Würde des Hauses nicht entsprechenden Weise angetroffen wird«, kann aus dem Bundestag fliegen.

»Die Bundestagspräsidentin entscheidet, wann Kleidung als politische Demonstration oder Uniformierung interpretiert wird. Also sie entscheidet, wie politisch der Bundestag sein darf.«

Anna Rubinowicz-Gründler, Sprecherin der Bundestagsverwaltung, erklärt gegenüber dem Tagesspiegel: »Es existiert keine Liste erlaubter oder verbotener Symbole.« Die Bundestagspräsidentin entscheidet, wann Kleidung als politische Demonstration oder Uniformierung interpretiert wird. Also sie entscheidet, wie politisch der Bundestag sein darf.

Genau das ist die Krux. In der Regel sind Rauswürfe Einzelfallentscheidungen. Liegen also im Ermessen der Bundestagspräsidentin. Oder anders gesagt: Es handelt sich in den meisten Fällen um reine Willkür. Warum sonst hat die zum rechten Unionsflügel gehörende Klöckner bei der konstituierenden Bundestagssitzung den AfD-Kollegen Torben Braga nicht sanktioniert? Er trug am Revers seines Anzugs eine blaue Kornblume. Das erinnert an österreichische Nazis. Historiker und Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, Jens-Christian Wagner, spricht in der taz von klarer »NS-Symbolik«. Entweder wusste Klöckner nicht um den Hintergrund, oder sie störte sich nicht daran. Beides wäre in ihrem Amt besorgniserregend.

Oder ist die blaue Kornblume in Ordnung, weil sie zwar ein Bekenntnis, aber keins auf einem »T-Shirt« war, wie Klöckner zu Köktürk sagte. Das würde auch erklären, warum einige Abgeordnete mit gelben Schleifen, Ukraine- oder Israelflaggen auf ihren Revers weder in dieser noch in der vergangenen Legislaturperiode des Sitzungssaals verwiesen wurden. Aber was ist mit jenen Unionsabgeordneten, die zu Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine in blau-gelber Kleidung im Plenarsaal saßen?

Cansin Köktürk sollte das also einfach auf die Probe stellen und sich in der kommenden Sitzung mit der Palästina-Fahne als Revers-Pin auf ihren Platz setzen. Gleichzeitig könnte es ihr Genosse Bodo Ramelow mit einem grauen T-Shirt und der Aufschrift »Israel« probieren. Das Ergebnis wäre jeweils sehr aufschlussreich.

Köktürk hat mit ihrer gut kalkulierten Aktion nun selbstverständlich genauso wenig den mutmaßlichen Genozid Israels an den Palästinenserinnen und Palästinensern beendet, wie Jette Nietzard die Polizei abgeschafft oder Luisa Neubauer das Klima gerettet hat. Das war natürlich auch nicht der Anspruch. Was sie gemacht hat, war, die Regeln des Bundestages zu hinterfragen. Aber auch, die Scheinheiligkeit des deutschen Politikbetriebs aufzuzeigen, genauso wie einen weiteren Beweis dafür zu liefern, dass Klöckner in ihrem Amt als eigentlich neutrale Bundestagspräsidentin vielleicht doch nicht so gut aufgehoben ist. Ein modischer Sieg eben.

Baha Kirlidokme ist Redakteur bei der Frankfurter Rundschau.