15. Juni 2022
Die Denkfabrik R21 will bürgerliche Politik neu bestimmen. Was ihnen vorschwebt? Ein bisschen mehr Chancengleichheit. Dieser Modernisierungskurs ist von vorgestern.
Der Leiter der R21 Andreas Rödder (zw. v. r.) und seine Stellvertreterin Kristina Schröder (zw. v. l.) stellten die Programmatik ihres Thinktanks kürzlich in der »FAZ« vor.
Nach der Bundestagswahl 2021 und im Schatten der Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine ausgerufen hat, sortiert sich nicht nur die politische Linke. Auch im bürgerlichen Spektrum werden die Koordinaten neu ausgerichtet. Das zeigte sich etwa an den neuen Schmerzensgrenzen der FDP. 2017 wollte die Partei noch lieber »nicht regieren«, statt »schlecht zu regieren« und ließ die Koalitionsverhandlungen platzen. Heute ermöglicht FDP-Vorsitzender und Bundesfinanzminister Christian Lindner zum wiederholten Mal massive staatliche Ausgaben. Auch die CDU ist davon nicht ausgenommen. Friedrich Merz, der endlich im CDU-Vorsitz angekommen ist, hat noch immer kein Rezept gefunden, um in Abgrenzung zur Ampel-Koalition zum bürgerlichen Hoffnungsträger zu werden. Schließlich wird die Neuanordnung an Um- und Neugruppierungen im bürgerlichen Spektrum deutlich, die der eigenen politischen Richtung wieder Ideen und Strategien verschaffen wollen.
In diese letzte Kategorie fällt die Denkfabrik R21. Diese versteht sich nach eigener Beschreibung als »ein neuer Thinktank für zukunftsorientierte bürgerliche Politik in Deutschland und Europa«. Man wolle »die politischen Ideen, die Europa seit der Aufklärung zu einzigartigem kulturellem und materiellem Wohlstand verholfen haben, neu beleben und für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fruchtbar machen«.
Die bürgerlichen Zielsetzungen der Denkfabrik sind altbekannt und durchaus konventionell. Nach eigener Einschätzung zeichnet man sich jedoch vor allem dadurch aus, dass man »aus bürgerlicher Perspektive die gesamte Breite politischer Themen adressieren und auf die politische Praxis zielen will«. Damit unterscheide sich R21 von anderen Denkfabriken, die »entweder eher theoretisch-wissenschaftlich oder im Bereich der Bildung« tätig seien, sich »auf bestimmte Themenfelder wie die Außen- oder Wirtschaftspolitik« konzentrierten oder schlicht »dem rot-grünen bzw. linksliberalen Spektrum zuzuordnen« seien. Für die bürgerlichen Vordenkerinnen und Vordenker scheint es also keine bedenkenswerten gesellschaftspolitischen Kräfte zu geben, die links von der Ampel-Koalition stehen.
Schaut man Programm und Personal dieser Denkfabrik genauer an, so wird klar: Dies ist ein Projekt aus der Defensive. Im Kreis der Initiatorinnen, Initiatoren und des Beirats finden sich zum einen Leute, die ihre vormals prominentesten Positionen bereits geräumt haben, wie das alte FDP-Schlachtross Hermann Otto Solms, der Ende 2012 in einer Kampfkandidatur um den Spitzenplatz der hessischen Landesliste einem Konkurrenten unterlag. Seine Bundestagslaufbahn schien damit beendet, noch bevor die FDP bei der Wahl im darauffolgenden Jahr an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Die Christdemokratin Kristina Schröder war 2009 bis 2013 Bundesfamilienministerin. Während der zu dieser Zeit amtierenden schwarz-gelben Koalition wurde sie wiederholt zur politischen Zielscheibe linksliberaler und linker Kritik. Ebenfalls mit von der Partie ist der wirtschaftsliberale Ökonom Lars P. Feld, der auf Druck der SPD nicht mehr in den Rat der Wirtschaftsweisen berufen, aber nach der Bundestagswahl von Christian Lindner als Berater für dessen Finanzministerium politisch reaktiviert wurde. Die ehemalige SPDlerin Susanne Gaschke verlor über einen Skandal ihr Amts als Kieler Oberbürgermeisterin und fand eine neue Heimat bei der Springerpresse.
Unter den Gesichtern der R21 ist der Typ des Mahners und Warners vor den Bedrohungen für die bürgerliche Ordnung ebenfalls breit vertreten. Hierzu gehören der durch Buchveröffentlichungen und etliche Talkshow-Auftritte bekannte Psychologe und Geschäftsführer des Instituts für Demokratieförderung und Extremismusprävention »MIND Prevention« Ahmad Mansour, die Islamkritikerin Susanne Schröter und die Migrationsforscherin Sandra Kostner, die mit dem Denkfabrik-Initiator und CDU-Intellektuellen Andreas Rödder das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gründete.
Ihren defensiven Charakter gesteht die Denkfabrik sogar ein. Ihre Gründung sei »umso notwendiger, als die Gesellschaft eine zunehmende Polarisierung erlebt und extreme Positionen an Raum gewinnen«. So beklagt man von links »gruppenbezogene Identitätspolitik, ›cancel culture‹ und Erwartungen immer weiter reichender staatlicher Leistungen und Regulierungen«, die »die offene Gesellschaft und ihren Wohlstand« gefährdeten. Von rechts griffen »populistische Ressentiments und autoritäre Vorstellungen einer geschlossenen und rückwärtsgewandten Gesellschaft um sich«. Man ist alarmiert durch die Destabilisierung, die in Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten aufgrund der politischen Polarisierung zu beobachten ist, und man fürchtet um den »gewachsenen bürgerlichen Normenkanon« für »das Zusammenleben, den sozialen Frieden, den Wohlstand und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft«.
Diese Auflistung ist so unoriginell, wie unvollständig. Denn die Neuordnung bürgerlicher Politik wird nicht alleine von äußeren Bedrohungen durch Identitätspolitik und Rechtspopulismus angetrieben, sondern auch durch die politische Konstellation in der sogenannten politischen Mitte. Das vergangene Jahr hat eine CDU hinterlassen, die nicht nur ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl zu verarbeiten hat. Nach Ende der 20-jährigen Ära Merkel erscheint die Partei inhaltlich wie strategisch entkernt – selbst angesichts der Tatsache, dass die Identität der CDU seit jeher kaum auf programmatischer Substanz gründete. Friedrich Merz mag innerlich gejubelt haben, als er zwei Jahrzehnte nach seiner unfreiwilligen Ablösung als Fraktionsvorsitzender im Bundestag durch Angela Merkel nun in beiden Partei-Spitzenämtern ihr Nachfolger wurde. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Personalie Merz letztlich eine Verlegenheitslösung ist. Er wurde erst dann gewählt, als sich mit Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet zwei Merkel-Gefolgsleute vergeblich an der Nachfolge der Kanzlerin versucht hatten.
Merz agiert in einem Vakuum bürgerlicher Politik. Seine zwei Punktsiege gegen eine staatliche Impfpflicht und für einen engen, rein militärischen Verwendungszweck des Sondervermögens über 100 Milliarden Euro konnte er nur erzielen, weil die Ampel-Koalition in beiden Fällen nicht die jeweils erforderliche Stimmenmehrheit aufbringen konnte. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die CDU und das liberal-konservative Spektrum ausmanövriert wurden und in der gegenwärtigen politischen Lage nicht mehr hegemoniefähig sind.
Das liegt zum einen an den Themen, mit denen die Ampel-Koalition öffentlichkeitswirksam befasst ist. Am Klimaschutz kommen Union und FDP mittlerweile nicht mehr vorbei. Sie können in der Politik nur noch bremsen, aber nicht mehr die Spur wechseln. Beim Ukraine-Krieg unterscheiden sich die Ampel-Parteien und die Union nur in der Lautstärke und der Schrittlänge, nicht aber in der Richtung. Und gegen die Inflation traut sich auch die Union aus gutem Grund nicht, nach einer Art »Volcker Shock« – also einer Geldpolitik mit horrenden Leitzinsen – zu rufen. Da die EZB formal unabhängig ist, bliebe dieser Ruf ohnehin ungehört. Zudem bindet die Ampel-Koalition über ihren »lagerübergreifenden« Charakter weite Kreise der Gesellschaft, der organisierten Interessen, der Medien und der Intellektuellen ein. Für die Union wird es somit immer schwieriger, zumal sie nicht in den Verdacht kommen will, sich der im Abstieg befindlichen AfD anzunähern.
Möchte man eine Ahnung davon bekommen, wo die neue bürgerliche Reise aus Sicht der Denkfabrik R21 hingehen soll, lohnt sich ein Blick auf einen Artikel des Leiters Andreas Rödder und seiner Stellvertreterin Kristina Schröder, den die FAZ kürzlich abdruckte. Darin grenzen sie sich ab von einer angeblich linken Politik der Gleichstellung, die »nicht von Individuen« ausgehe, sondern »von Gruppenzugehörigkeiten nach Geschlecht, Herkunft oder sexueller Orientierung«. Damit ziele die Linke im Ergebnis »auf eine neue ständisch gegliederte Gesellschaft« ab. Dagegen stellen sie eine Politik, die eine »Gleichheit der Voraussetzungen« anstrebe, damit die gesellschaftliche Verteilung von Positionen, Einkommen und Vermögen tatsächliche Leistungsunterschiede abbilde und nicht ungleiche Startbedingungen. Ihr Entwurf geht dabei von Individuen und Familien aus. Die Ablehnung politischer Eingriffe, die Ungleichheit durch Regulierung oder Umverteilung mildern und das Besingen des »Aufstiegs durch Bildung« sind altbekannte Konstanten des bürgerlichen Spektrums.
Bemerkenswert ist hingegen das Eingeständnis, dass es ein »proaktives staatliches Empowerment« für sozial Benachteiligten brauche. Ebenso sei bei der Herstellung gleicher Voraussetzungen »tatsächlich mehr Staat nötig« und die Politik dürfe »auch vor Verteilungsfragen nicht zurückschrecken«. Geradezu hellhörig wird man ob der Ansage, die bürgerliche Politik erkenne »den Zielkonflikt, der sich mit der zunehmenden Ungleichheit von Vermögen zwischen der Bewahrung des Eigentums auch über die Generationen und den meritokratischen Prinzipien der Leistungsgesellschaft« eröffne, weswegen »eine Debatte über Eigentum und Besteuerung vorgezeichnet« sei. Eben diese Debatte solle die »bürgerliche Politik [...] offen und ohne Tabus führen«.
Um zu prüfen, ob die Antworten dieser neuen Bürgerlichen wirklich auf der Höhe der Zeit sind, sollte man sie an ihren eigenen Ansprüchen messen. Das modernisierte Bürgertum landet im Grunde bei einer Position, die man im Wesentlichen schon von New Labour und der »Neuen Mitte« der Schröder-Jahre kennt. Die Sozialdemokratie verabschiedete sich auf dem Weg zu dieser Neuen Mitte von dem Ziel, eine möglichst egalitäre Gesellschaft aufzubauen, weshalb die immer weiter auseinanderklaffende Einkommensschere und immerzu weitervererbte Vermögensungleichheiten hingenommen wurden.
Das liberal-konservative Lager lässt wiederum seine Gleichgültigkeit gegenüber der Ungleichheit hinter sich und erkennt an, dass die gesellschaftliche Realität in erheblichen Teilen weder chancengleich, noch leistungsgerecht ist. Interessanterweise übernimmt die neu-bürgerliche Revision nicht nur die Positionen der Neuen Mitte, sondern auch deren Blindstellen und Doppelmoral: Alle Überlegungen zur Chancenvermehrung werden nur im Horizont einer Marktgesellschaft gedacht. Letztere soll durch eine moderatere Ungleichheit lediglich wieder funktionaler werden.
Selbst wenn man in diesem Deutungs- und Bewertungsrahmen bleibt, ist der Entwurf von Rödder und Schröder ökonomie- und geschichtsvergessen. Für die Neubürgerlichen gibt es nur den individuellen und familienbezogenen, aber keinen kollektiven sozialen Aufstieg. Nicht zufällig ist vom Mindestlohn, besonders aber von Flächentarifverträgen nie die Rede, obwohl diese seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland die Institution waren, durch die eine zumindest teilweise Emanzipation in der Arbeit (bessere Arbeitsbedingungen) und von der Arbeit (kürzere Arbeitszeiten) für Millionen von Menschen Wirklichkeit wurden. Arbeitsökonominnen und -ökonomen haben jüngst darauf hingewiesen, dass Tarifverträge nicht nur den Wohlstand demokratisieren, sondern auch als »Produktivitätspeitsche« wirken: Wenn die Unternehmen ihren Profit nicht durch Lohnsenkungen steigern können, müssen sie Produkt- und Prozessinnovationen anstreben.
Wenn die »gesamtgesellschaftliche Innovationsoffensive«, die Rödder und Schröder ersehnen, wirklich erfolgen soll, dürften sie zur Frage eines weniger flexiblen, durch Kollektivvereinbarungen gesteuerten Arbeitsmarktes eigentlich nicht schweigen. Schließlich sind sich die Neubürgerlichen nicht zu schade, der Gleichstellungspolitik vorzuwerfen, sie schaffe eine neue »Ständegesellschaft«. Zum mehrgliedrigen Schulsystem – einer ständestaatlichen Institution, die selbst im Jahr 2022 die Chancenstruktur in Deutschland in erheblichem Maß vorgibt – wird geflissentlich geschwiegen. Dessen Unantastbarkeit scheint nun bereits so weit zu reichen, dass man sie gar nicht mehr bekräftigen braucht.
Die Abkehr von früheren konservativen Dogmen ist wohlfeil, denn in keiner koalitionspolitischen Konstellation wären diese heute noch durchzusetzen. Mit der Übernahme einer Politik des »Dritten Wegs« schaffen die Sprecherinnen und Sprecher der neuen Denkfabrik – ob absichtlich oder nicht – eine intellektuelle Blaupause für künftige schwarz-grüne oder grün-schwarze Koalitionen. Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit, die über diese neuvermessene Konsenszone der konservativen Sozialdemokratie, Unionsparteien und Bündnisgrünen hinausgeht, wird die gesellschaftliche Linke also immer noch selbst erkämpfen müssen.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Er schreibt unter anderem in Sozialismus und Das Argument.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.