15. März 2025
Die Linkspartei war lange nicht sichtbar genug am Arbeitsplatz, sagt der Volkswagen-Elektroniker und Gewerkschafter Cem Ince, der neu in den Bundestag einzieht für Die Linke. Im Gespräch mit JACOBIN schildert er, wie er das ändern will.
Cem Ince, Mitglied des Bundestags aus Niedersachsen für die Linke.
Wer sich in der Linkspartei oder in ihrem Umfeld bewegt, wird in den letzten Jahren immer wieder den Vorwurf gehört haben, sie habe den Anschluss an die Arbeiterklasse verloren. Und tatsächlich sanken die Zustimmungswerte der Partei unter Beschäftigten und Gewerkschaftsmitgliedern kontinuierlich. Bei der vorletzten Bundestagswahl lag sie bei nur noch 3 Prozent.
Doch dass dieser Trend sich umkehren lässt, zeigt das starke Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl, in der die Partei eine Reihe von Kandidatinnen und Kandidaten aus der Arbeiterklasse aufstellte, wie die Krankenschwester Stella Merendino in Berlin-Mitte oder den Volkswagen-Elektroniker Cem Ince, der über die Landesliste der Linken in Niedersachsen in den Bundestag eingezogen ist. Der Enkel eines kurdischen Gastarbeiters und engagierter IG Metaller will seiner Partei dabei helfen, ihre Basis innerhalb der Arbeiterklasse weiter auszubauen, wie er im JACOBIN-Interview schildert.
Als Du im vergangenen Dezember auf Platz zwei der Landesliste gewählt wurdest, pendelte die Linke in den Umfragen zwischen 3 und 4 Prozent. Nun hat sie bei der Wahl fast das Dreifache erhalten und schickt sogar sechs Abgeordnete aus Niedersachsen in den Bundestag. Wie fühlt sich das an?
Das ist tatsächlich Wahnsinn. Ich hätte gedacht, dass wir zwei Plätze auf jeden Fall reinkriegen, vielleicht noch einen dritten, und jetzt sind wir tatsächlich mit sechs eingezogen.
Der sechste Platz ist mein guter Kollege Jorrit Bosch aus Braunschweig. Er war Mitarbeiter im Wahlkreisbüro von Victor Perli und war als Vorsitzender des Kreisverbandes in Braunschweig die Lebensversicherung unserer Region für den Parteiaufbau. Er hätte gerne weitergemacht als Wahlkreismitarbeiter, ist aber jetzt Abgeordneter.
Und nun stehen wir vor der großen Herausforderung, eigene Teams aufzustellen und Wahlkreisarbeit zu machen. Aber es ist toll, wie es ausgegangen ist. Das sind die besten Voraussetzungen für gute Arbeit in Niedersachsen und in Berlin.
Ab wann hast Du im Wahlkampf gespürt, dass die Dynamik sich dreht?
Das hat schon ab Januar angefangen, wo der Trend für unsere Partei in die richtige Richtung ging und der Trend von anderen Parteien, wie zum Beispiel der FDP, in die andere. Da hat man schon gemerkt, dass wir die 5 Prozent auf jeden Fall knacken werden.
Ich war mir von vornherein sicher, dass wir die 5 Prozent holen. Deswegen fand ich diese Strategie, nur auf drei Direktmandate zu gehen, nie richtig. Man musste auch versuchen, die Themen, die die Menschen bewegen, wie Miete und Lebensmittelpreise, in den Mittelpunkt zu rücken, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, um zu sagen: »Wir bieten politische Lösungen an und dafür möchten wir in Berlin euch vertreten.« Das ist uns gelungen und hat uns viel gebracht.
»Für mich war klar, die einzige Partei, die die Interessen der Arbeiter vertritt, ist die Linke.«
Dann kam dieser Rechtsruck der anderen Parteien, wo wir als einzige Partei stabil antifaschistisch geblieben sind. Heidi Reichinneks Brandrede im Bundestag hat uns dazu noch weiter in die Höhe katapultiert. Wir hatten eine Veranstaltung mit Heidi am 14. Februar, am Valentinstag, im Gewerkschaftshaus der IG Metall. Wenn man als Linke eine Veranstaltung im Gewerkschaftshaus macht, dann laufen die üblichen Verdächtigen rum. Aber diesmal ist das ganze Gewerkschaftshaus aus allen Nähten geplatzt. So viele junge Leute, vor allem junge Frauen, die da hingekommen sind, die Interesse hatten an Heidi, aber auch an den politischen Inhalten, die wir transportiert haben. Das waren über 500 Menschen. Ich habe das Gewerkschaftshaus in Salzgitter noch nie so voll gesehen.
Ich würde gern ein bisschen mehr über Dich und Deine politische Laufbahn erfahren. Die Linke ist natürlich eine Partei, die aus der Tradition der Arbeiterbewegung kommt, aber Metaller sind in ihren Reihen nicht gerade in der Mehrzahl heutzutage. Wie bist Du zur Politik und schließlich zur Linken gekommen?
Mein Opa ist als Gastarbeiter hierhergekommen. Er war Stahlarbeiter bei der Salzgitter AG und hat später seine Familie nachgeholt. Mein Vater hat meine Mutter in der Türkei kennengelernt. Dann ist sie auch nach Deutschland beziehungsweise nach Salzgitter gekommen, und ich bin hier geboren.
Ich habe 2012 meine Berufsausbildung bei Volkswagen angefangen. Wenn man bei Volkswagen mit der Berufsausbildung anfängt, dann tritt man auch in die IG Metall ein. Das ist nach wie vor die Regel, und das ist auch eine gute Regel, weil man sich als Jugendlicher politisiert. Man kann Seminare und Veranstaltungen durchführen und gemeinsam dazulernen.
Ich war dann schnell IG-Metall-Vertrauensmann meiner Ausbildungsgruppe und bin es bis heute geblieben. Dann habe ich als Jugend- und Auszubildendenvertreter kandidiert, wurde auch gewählt und habe dieses Amt bis 2020 ausgeübt. Ich war Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung und stellvertretender Vorsitzender der Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung, also über alle Volkswagenstandorte. Da hat man jede Menge gelernt. Die Bildungsarbeit der IG Metall ist für junge Menschen, aber auch für ältere Kolleginnen und Kollegen echt etwas, was einen politisch voranbringt.
Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich in eine Partei eintrete, weil ich Parteipolitik nicht so attraktiv fand. Ich war aber immer links eingestellt, habe immer links gewählt und für mich war klar, die einzige Partei, die die Interessen der Arbeiter vertritt, ist die Linke. Die SPD hat sich schon lange davon verabschiedet. Das ist, was ich mein ganzes Leben lang mitbekommen habe. Ich habe nie eine SPD mitbekommen, die für Arbeiter gekämpft hat, sondern nur eine, die immer alles mitgemacht hat.
»Entscheidend wird sein, die Themen aus der Sicht der arbeitenden Klasse zu sehen.«
Als ich 2020 altersbedingt aus der Jugendvertretung ausschied und mich beruflich weitergebildet hatte, wurde ich von dem damaligen Kreisvorsitzenden der Linken hier in Salzgitter gefragt, ob ich nicht die Linke unterstützen möchte. Mir hatte das Politische im Alltag sowieso gerade gefehlt. Ich bin dann in die Linke hier in Salzgitter eingetreten, habe zur Kommunalwahl kandidiert und ein halbes Jahr später bin ich Vorsitzender der Linken in Salzgitter geworden, weil der damalige Vorsitzende gesagt hat: »Ich habe das jetzt zwanzig Jahre lang gemacht, wir müssen verjüngen.« Jetzt ist die Verjüngung überall in der Linken Thema und überall kommen junge Genossinnen und Genossen dazu. Wir haben diesen Umbruch schon vor ein paar Jahren gemacht, was uns auch geholfen hat, uns hier in Salzgitter gut aufzustellen.
Irgendwann hat dann Victor Perli gesagt, dass er nicht mehr zur Verfügung steht, für den Bundestag zu kandidieren. Dann haben wir hier im Wahlkreis einen Kandidaten gesucht. Und der Tenor war sehr schnell klar, das muss ein Arbeiter sein. Und noch besser wäre, wenn dieser Arbeiter von Volkswagen ist – wegen der ganzen Arbeitskämpfe und den Stellenabbau, Standortschließungen und so weiter. Ja, dann habe ich mich bereiterklärt und wurde einstimmig als Direktkandidat für unseren Wahlkreis gewählt. Kurze Zeit später habe ich in Niedersachsen noch für den Listenplatz zwei kandidiert und mich überraschenderweise durchgesetzt.
Dein Vorgänger war in der Partei klar dem gewerkschaftlich orientierten Flügel zuzuordnen. Du als Metaller vermutlich auch. Es wurde in den letzten Jahren viel gestritten darüber, ob die Partei den Anschluss an »die Arbeiter« verloren hat oder nicht. Wie siehst Du das?
Die Linke war unter Arbeiterinnen und Arbeitern nicht präsent. Wenn man im Betrieb mit den Leuten gesprochen hat, dann kam die Linke nicht vor – da ging man eher nach rechts, zur AfD, wenn man von der etablierten Politik enttäuscht war. Wir haben es als Linke nicht geschafft, da eine richtige Alternative aufzuzeigen, zu sagen: »Hey Leute, wenn ihr wirklich abgefuckt seid von der Politik, so, dann gebt uns euer Vertrauen, wir werden für euch streiten.«
Wir waren nicht gut vernetzt in den Gewerkschaften – vielleicht bei Verdi, aber bei IG Metall und Co. so gut wie gar nicht. Wir haben zu wenig Arbeiter in unseren Reihen gehabt, die aus diesen Branchen kommen, die wissen, wie Kolleginnen und Kollegen im Betrieb ticken, dass man da auch mal die Ansprache anders halten muss, um Zugang zu gewinnen. Das hat man lange stiefmütterlich behandelt und vernachlässigt und konnte deswegen in vielen Betrieben leider keinen Fuß fassen.
Aber die jetzige Entwicklung mit »Arbeiter ins Parlament« macht mir Hoffnung. Ob das meine Wahlkampfstrategie war oder die von Stella oder den anderen Genossinnen – wir kommen aus dem Beruf und machen die Arbeitskämpfe jeden Tag mit. Wir wissen, was es heißt, im Betrieb Druck ausgesetzt zu sein. Dann können wir uns auch in Gewerkschaften besser vernetzen, besser vertreten sein und die Kolleginnen und Kollegen besser abholen, weil wir authentisch reden können und wissen, wovon wir sprechen. Entscheidend wird sein, die Themen aus der Sicht der arbeitenden Klasse zu sehen.
Das hat sich bei dem Wahlergebnis auch gezeigt: Zum ersten Mal seit Jahren ist die Linke unter Arbeitern und Gewerkschaftern wieder noch oben gegangen. Meinst Du, diesen Trend kann man konsolidieren und ausbauen?
Ich habe immer gesagt, dass man Strategien nicht gegeneinander ausspielen sollte. Haustürgespräche sind gut, machen aber nicht überall Sinn. Deswegen sollte man das als ein Fundament sehen, aber man sollte gleichzeitig versuchen, sich mit Gewerkschaften zu vernetzen. Man sollte versuchen, im Austausch mit Betriebsrätinnen zu sein.
Man sollte mehr Wert darauf legen, Themen zu setzen, die die arbeitende Bevölkerung betreffen. Und das sind Themen wie Mitbestimmung, unsere Standorte zu retten und generell die Industriearbeitsplätze zu sichern – weil die Industriearbeitsplätze auch dafür sorgen, dass es stabile Regionen gibt, dass es gute Dienstleistungen gibt, dass es einen guten Einzelhandel gibt. Das ist alles miteinander verkettet.
»So viel Unterschied zwischen der SPD und der Linken im Stimmergebnis ist ja auch nicht mehr, und wenn wir uns die neuesten Umfragen anschauen, dann wird das tatsächlich immer noch geringer.«
Genau deswegen finde ich, dass man sich als Partei breiter aufstellen muss. Man muss immer mehrere Strategien fahren, um überall Fuß zu fassen und vernetzt zu sein.
Du hast gerade Standortsicherung angesprochen. Die deutsche Industrie steht vor immensen Herausforderungen, aber nirgendwo sind sie gerade so sichtbar wie bei Deinem Arbeitgeber, VW. Ist VW dem Tod geweiht, oder kann man die Krise noch irgendwie umgehen? Und was wäre Deine Forderung, als Arbeiter und als Bundestagsabgeordneter, an den Staat und an VW?
Erstmal glaube ich nicht, dass Volkswagen am Boden ist. Es werden immer noch Milliardengewinne eingefahren, es werden immer noch Dividenden an die Eigentümer-Familien in Salzburg ausgeschüttet, die den Hals nicht vollkriegen können. Deswegen finde ich, dass es einfach Umverteilung in die andere Richtung braucht: Dass man diese Gelder für Investitionen nutzt, dass man Arbeitsplatzsicherung und Standortsicherung betreibt, dass man eine gute Transformation hinkriegt. Aber diese Transformation muss mit staatlicher Unterstützung erfolgen.
Wir haben bei Volkswagen den Umbau zur Elektromobilität. Hier in Salzgitter wird von Volkswagen eine riesige neue Batteriefabrik aufgebaut. Wir haben die Salzgitter AG. Das ist ein riesiger Stahlhersteller, der auf CO2-neutralen Stahl umstellen will, also quasi Stahl durch Wasserstoffproduktion gewinnen möchte. Die brauchen auch wahnsinnig hohe Investitionen und staatliche Unterstützung.
Das ist das, was der Staat jetzt leisten muss. Er muss den Betrieben unter die Arme greifen und sagen: »Wir unterstützen euch. Im Gegenzug dazu möchten wir Standortsicherung, Arbeitsplatzsicherheit und eine Ausbildungsgarantie, sodass junge Menschen in dieser Region eine Perspektive haben.«
Früher hat man gesagt: »Wenn du bei Volkswagen eine Ausbildung beginnst, dann ist das wie ein Sechser im Lotto.« Dahin muss es wieder zurückgehen – mit staatlicher Unterstützung, aber man muss im Gegenzug verlangen, dass die Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht werden. Sie tragen Verantwortung für unsere Regionen und dieser können sie sich nicht einfachentziehen. Auch der Staat trägt Verantwortung dafür, dass das ganze Geld nicht für Aufrüstung investiert wird, so wie das jetzt gerade in der aktuellen Debatte im Bundestag passiert.
VW ist aber nicht der einzige Hersteller, der gerade vor Herausforderungen steht. Glaubst Du, man sollte als Linke darauf setzen, den Industriestandort zu behalten? Oder muss man angesichts der Klimakrise darüber nachdenken, ob das Land nicht auch anders wirtschaften kann?
Doch, das ist genau die Transformation, von der immer so viel gesprochen wird. Transformation heißt nicht, dass die Industrie verschwinden soll, sondern es bedeutet, dass man anders produzieren soll, CO2-neutral und mit mehr Mitbestimmung. Es ist einfach eine andere Herangehensweise an die Produktion. Das ist, was wir als Linke sichern müssen, weil es hängen so viele Existenzen dran. Viele Familien hier in meiner Region leben von der Industrie. Das ist Fakt und das ist in vielen anderen Regionen auch so.
Wir wissen, dass die Industrie kleiner wird. Wir werden viele Arbeitsplätze verlieren. Wir müssen aber dafür kämpfen, dass das sozialverträglich passiert. Denn wenn wir es nicht hinkriegen, wenn diese Transformation zu einer zukunftsfähigen Industrie, die auch international gefragt ist, nicht gelingt, dann werden wir viele Probleme haben.
Mal ketzerisch gefragt: Wenn ich jetzt Industriearbeiter wäre und Dir zuhören würde – was bringt mir eine Linke bei 8 Prozent in der Opposition, wenn es doch eine SPD gibt, die immerhin in der Regierung ist und dadurch vielleicht etwas Gestaltungsmacht hat?
So viel Unterschied zwischen der SPD und der Linken im Stimmergebnis ist ja auch nicht mehr, und wenn wir uns die neuesten Umfragen anschauen, dann wird das tatsächlich immer noch geringer. Das hat einfach den Grund, dass die Punkte, die ich gerade genannt habe, überhaupt nicht vorkommen. Die Sondierungsgespräche, die Aussetzung der Schuldenbremse und so weiter – da wird das alles gar nicht thematisiert. Wir sind die Einzigen, die solche Themen überhaupt mit auf den Tisch legen.
»Ich dachte, es kann doch nicht sein, dass Leute immer noch eine faschistische Partei aus Protest wählen. Aber das gibt es noch.«
Deswegen glaube ich auch, dass der Zuspruch für uns immer größer wird, weil wir sehen, dass die anderen Parteien sich in allem ziemlich einig sind. Da geht es nur noch um Kleinigkeiten. Welche Waffen werden exportiert? Wie viel Geld soll jetzt doch noch in die Rüstungsindustrie? Da sind wir als Linke gefragt.
Apropos die anderen Parteien: Neben der sehr glücklichen Nachricht am Wahlabend, dass die Linke fast 9 Prozent bekam, gehörte auch dazu, dass die AfD ihr Ergebnis von 2021 auf über 20 Prozent praktisch verdoppelte und bei Arbeitern und Gewerkschaftern besonders gut punktete. Merkst Du diesen Rechtsruck auch im Betrieb?
Ich habe von Anfang an gesagt, wir können uns gerne über diese 8–9 Prozent freuen, wir dürfen aber nicht vergessen, dass die AfD über 20 Prozent geholt hat und wir jetzt im Parlament in einem Haus voller Faschisten sitzen. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen, weil das einfach ein schlimmer Fakt ist.
Ich glaube aber nicht, dass diese Leute alle nationalistisch oder faschistisch sind. Ich höre auch sehr oft von Kolleginnen und Kollegen: »Wen willst du denn sonst wählen? Die anderen Parteien helfen uns einfach nicht mehr weiter und ich möchte denen einfach eins auswischen.« Diese Protestwähler gibt es tatsächlich immer noch.
Ich habe das selber nicht für möglich gehalten. Ich dachte, es kann doch nicht sein, dass Leute immer noch eine faschistische Partei aus Protest wählen. Aber das gibt es noch. Die wollen den etablierten Parteien eins auswischen und deswegen rennen sie zur AfD. Da müssen wir als Linke zeigen, dass wir die richtige Partei sind, wenn sie den anderen Parteien eins auswischen wollen, wenn sie Druck machen wollen für ihre Themen und für die arbeitende Klasse.
Du wirst von mir da keinen Widerspruch hören, aber macht es Dir nicht dennoch Sorgen, wenn Du liest, dass laut Umfragen eine Pluralität der AfD-Wähler die Partei hauptsächlich wegen Migration wählen? Bei vielen Menschen scheint sich die Vorstellung festgesetzt zu haben, dass Migration eine Bedrohung für sie darstellt.
Man muss da in die Diskussion gehen und das mit alltäglichen Beispielen belegen. Ich sage immer, wenn alle migrantischen Personen die Arbeit niederlegen, dann funktioniert nichts mehr in dieser Gesellschaft. Das muss den Leuten einfach klar sein, dass die Migration für uns eine Chance ist. Das Thema wurde jetzt emotional hochgepuscht, um damit Stimmung zu machen im Wahlkampf. Was das bringt, haben wir gesehen: Alle Leute gehen nach rechts, die anderen Parteien haben nichts davon.
Ich will aber dazusagen, dass man das Thema sachlich behandeln muss. Man muss darüber sprechen. Man kann es nicht wegignorieren. Man muss aber realistisch darüber sprechen. Man muss sagen: Wir brauchen europäische Lösungen, wir brauchen eine Integration in den Arbeitsmarkt. Wir müssen den Menschen die Chance geben, sich hier zu entfalten. Sie müssen in Lohn und Arbeit kommen.
Bei den ukrainischen Geflüchteten hat das super geklappt. Die sind hergekommen, haben eine Arbeitserlaubnis bekommen, Unterstützung bekommen, konnten sich in der Mitte dieser Gesellschaft integrieren. Und keinem Menschen ist aufgefallen, dass wir 1 bis 2 Millionen ukrainische Geflüchtete aufgenommen haben – manche, die hier bleiben wollen, manche, die wieder zurückwollen. Das ist aber denen selbst überlassen.
Das ist genau die Diskussion, die wir führen müssen. Wir müssen den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu integrieren. Wir müssen den Leuten aufzeigen, welche Vorteile das bringt. Irgendwann wird der Tag kommen, da wird um migrantische Menschen gebuhlt, damit die Infrastruktur in diesem Land weiter funktioniert. Und bis zu diesem Tag müssen wir diesen Kampf durchhalten und immer wieder in die Diskussion gehen und sagen, wir brauchen Migration – nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern wir brauchen auch die Kulturvielfalt. Wir brauchen die verschiedensten Menschen in diesem Land. Deutschland ist ein Land mit Einwanderungsgeschichte, schon seit vielen Jahren. Und da müssen wir einfach immer wieder gegenhalten.
Auch mit Blick auf Deine eigene Biografie und Familiengeschichte, meinst Du, dass Gewerkschaften eine besondere Rolle bei dieser Integration spielen können?
Auf jeden Fall. Es gibt keine Organisation, in der so viele Menschen mit Migrationshintergrund organisiert sind wie in der IG Metall. Wir haben beispielsweise den Ortsmigrantenausschuss in vielen Geschäftsstellen, wo sich Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch deutsche Kolleginnen und Kollegen treffen, um sich zu dem Thema auszutauschen. Es gibt noch weitere Gremien, wie den Bundesmigrationsausschuss, wo sich bundesweit Kolleginnen und Kollegen treffen und über die Probleme im Alltag sprechen. Wir waren vor Kurzem in Hanau zum fünfjährigen Gedenktag des rassistischen Angriffs.
»Die Friedensfrage muss aus der Sicht der arbeitenden Klasse betrachtet werden, denn diese leidet am meisten darunter.«
Das sind genau die Begegnungen, die wir brauchen. Wir müssen in Kontakt kommen und einfach voneinander lernen, und die Gewerkschaften wie die IG Metall bieten den Raum dafür.
Vor unserem Gespräch habe ich mir Deine Rede zur Listenaufstellung angesehen, und war da überrascht zu sehen, dass Du als Erstes nicht über Arbeitskämpfe oder Antirassismus gesprochen hast, sondern über den Krieg in Gaza. Dieses Thema war bei anderen Parteien sowieso nicht, aber bei der Linken auch nur begrenzt präsent im Wahlkampf. Dabei verkauft die Bundesregierung immer weiter Waffen an Israel und bereitet sich jetzt auf ein massives Aufrüsten vor. Muss die Linke in Zukunft das Thema Krieg stärker thematisieren, oder beißt sich das mit dem Fokus auf Brot-und-Butter-Themen wie Miete, Löhne und so weiter?
Es ist eine menschliche Katastrophe, was im Gazakrieg alles zugelassen wurde. Immer mehr Waffen werden geliefert, es gibt immer mehr Rüstungsexporte, und immer mehr Investitionen in die Rüstung. Man hätte mit dem Geld auch eine Offensive bei der Bahn machen können. Man hätte eine Bildungsoffensive starten können. Man hätte so viel verbessern können für die Menschen, die in diesem Land leben, hat aber beschlossen, dass man stattdessen wieder kriegstüchtig werden will.
Die Friedensfrage, die soziale Frage und viele andere Themen gehören zusammen. Man kann sich nicht wegducken vor der Friedensfrage und nur Mieten und Lebensmittelpreise bespielen, denn seit wann sind denn die Lebensmittelpreise so gestiegen? Seit dem russischen Angriffskrieg. Wir müssen Friedensinitiativen stärken.
Man muss sagen, wir stellen uns als Friedenspartei klar gegen Waffenlieferungen, wir sind für Frieden auf der Welt, denn ohne Frieden ist alles nichts. Das ist ein schöner Satz, den man immer sagt, aber das ist halt Fakt. Wir können noch so viel über Umweltschutz reden, über gutes Zusammenleben, das wird alles nichts bringen, wenn parallel ein paar Kilometer weiter Panzer rollen und ganze Länder wie die Ukraine angegriffen oder Städte wie Gaza ausgelöscht werden. Man muss die Kriege stoppen. Die Friedensfrage muss aus der Sicht der arbeitenden Klasse betrachtet werden, denn diese leidet am meisten darunter.
Cem Ince ist Mitglied des Bundestages für Die Linke und Vorsitzender der Linken Salzgitter.