12. September 2025
Charlie Kirks Ermordung droht die US-Rechte weiter aufzuwiegeln und die Hoffnung auf sozialen Fortschritt zu erlöschen. Denn dass politische Kämpfe mit Worten und nicht Patronen ausgetragen werden, ist eine Überlebensfrage für die Demokratie und die Linke.
Charlie Kirk spricht auf der Republican National Convention im Juli 2024.
Charlie Kirk wurde auf den Seiten von Jacobin nie mit großer Herzlichkeit empfangen. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Seine Ermordung ist eine Tragödie. Moralisch ist sie nicht zu rechtfertigen. Politisch gibt sie Anlass zu großer Besorgnis. Eine weitere Eskalation der politischen Gewalt wäre eine Katastrophe für die amerikanische Linke. Während wir diesen Artikel schreiben, sind weder die Ideologie noch die Motive des Schützen bekannt. Einige wichtige Punkte sind dennoch klar.
Niemand sollte als Strafe für seine politische Meinungsäußerung getötet werden, egal wie verwerflich diese auch sein mag. Neben unserer grundsätzlichen Ablehnung von Gewalt sind wir auch Verfechter der Demokratie, die auf freier Meinungsäußerung und offener Diskussion beruht. Ohne diese ist kollektive Selbstregierung unmöglich und Tyrannei unvermeidlich. Politischen Gegnern mit brutaler Gewalt Schweigen aufzuzwingen, sei es in Form von staatlichen Repressionen gegen Dissidenten oder durch Attentate einzelner Personen auf führende Politiker, untergräbt ein Prinzip, das demokratischen Sozialisten seit jeher am Herzen liegt.
»Wir Linke sagen ständig Dinge, die andere als äußerst anstößig empfinden, und wir erwarten, dass wir auf heftige Gegenargumente stoßen – nicht auf gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen.«
Darüber hinaus ist die Aussicht auf eine Eskalation politischer Gewalt eine gefährliche Entwicklung, die den Raum für sinnvolle politische Aktionen einzuschränken droht. Dies ist ein schlechtes Omen für die politische Kultur im Allgemeinen und insbesondere für die Linke. Wir sagen ständig Dinge, die andere als äußerst anstößig empfinden, und wir erwarten, dass wir auf heftige Gegenargumente stoßen – nicht auf gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen. Obwohl es am Rande schon immer politische Gewalt gegeben hat, hat sich diese Erwartung meist als vernünftig erwiesen. In der ansonsten außerordentlich gewalttätigen Kultur der USA blieben politische Führungsfiguren und Kommentatoren weitgehend unversehrt. Nun scheint sich dieser Konsens aufzulösen, mit furchterregenden Folgen.
Versuchte und erfolgreiche Attentate auf politische Anführer nehmen zu, ebenso wie politisch motivierte Morde an weniger bekannten Personen. Diese Art von Gewalt geht zwar aus dem gesamten politischen Spektrum hervor, jedoch ist die Rechte seit mehreren Jahrzehnten für weitaus mehr davon verantwortlich als die Linke. In den letzten Jahren scheinen die Angreifer zunehmend aus den politisch verwirrten, psychisch gestörten und schwer bewaffneten Teilen der amerikanischen Bevölkerung zu stammen, deren allgemeine Paranoia und Desorientierung mit einer inkohärenten, aber bösartig polarisierten politischen Kultur verflochten sind. Selbst die herkömmliche Waffengewalt in den USA hat zunehmend eine politische Dimension: Waren Schul-Amokläufer früher einem allgemeinen entpolitisierten Nihilismus verfallen, schreiben sie heute widersprüchliche politische Slogans auf ihre Waffen.
Die Ermordung von Charlie Kirk stellt einen weiteren Beweis dafür dar, dass die gewalttätige Manie der USA nun mit dem entmenschlichenden Tribalismus der amerikanischen politischen Kultur zusammentrifft. Diese giftige Kombination droht, die demokratischen Normen schwer zu untergraben und jede Hoffnung auf sozialen Fortschritt zunichtezumachen.
Charlie Kirk betrieb eine gut finanzierte politische Propagandamaschine, die eine einfache Botschaft verbreitete: »Liberale«, »Radikale« oder »Sozialisten« – er machte sich selten die Mühe, feinere Unterscheidungen zu treffen – ruinierten das Land. Hochschulen seien heimtückische Fabriken der linken Indoktrination. Amerika würde von gewalttätigen Einwanderern überwältigt. Frauen sollten sich der Hausarbeit widmen. Die USA seien eine christliche Nation und sollte dies auch bleiben. Und Donald Trump sei eine Kraft des Guten.
Vor vier Jahren führte einer von uns (Ben) mit Kirk eine Debatte unter dem Titel »Demokratischer Sozialismus vs. konservativer Populismus«. Seither entwickelte sich Kirks Politik in eine noch schlimmere Richtung. So flirtete er mit immer hässlicheren Formen des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit. Doch auch im Jahr 2021 war der Inhalt von Kirks Argumentation schon nicht zu verteidigen. Während er sich den Mantel des »Populismus« überzog, vertrat er in Wahrheit eine Reihe von Positionen, die auf der Meinungsseite des Wall Street Journal gut aufgehoben gewesen wären. So lehnte er selbst kleinste Schritte in Richtung einer gerechteren Gesellschaft – wie die Einführung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung und den Aufbau einer stärkeren Arbeiterbewegung – entschieden ab.
Allerdings ließ er sich dabei nicht zu persönlichen Angriffen hinreißen. Er hielt sich an die Substanz der Argumente, vermied weitgehend billige rhetorische Tricks und gab Ben den Raum, um die Widersprüchlichkeit zwischen Kirks populistischer Rhetorik und der anti-egalitären Substanz seiner Politik deutlich zu machen. In einem Land, in dem leider sehr viele Menschen Kirks Sichtweise teilen, sind solche Diskussionen absolut notwendig. Das Attentat auf ihn hingegen weist den Weg in eine viel hässlichere Richtung, die unmöglich auf den Ort hinauslaufen kann, wo wir als Linke hinwollen.
»Der Attentäter wurde noch nicht identifiziert, und es wurde noch kein Motiv bestätigt, aber das hinderte Donald Trump nicht daran, die gesamte Linke für den Mord an Kirk verantwortlich zu machen und Vergeltung zu schwören.«
Die grundlegende Prämisse linker Politik lautet, dass gewöhnliche Menschen in der Lage sind, sich selbst zu regieren – am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft insgesamt. Dieses Ziel ist nur dann schlüssig, wenn wir darauf vertrauen, dass unsere Mitbürger sich in Anbetracht aller möglichen, auch den schlimmsten politischen Standpunkten, eine eigene Meinung bilden können. Auch lassen sich unsere demokratischen Ziele nur mit demokratischen Mitteln erreichen. Wir wollen tiefliegende Strukturen ungleicher Reichtums- und Machtverteilung umstürzen. Es gibt keinen realistischen Weg, dies zu erreichen, außer die große Mehrheit der Bevölkerung auf unsere Seite zu bringen. Was für unsere Chancen spricht, ist genau die Tatsache, dass die arbeitende Klasse, die von unserem Programm profitieren würde, den Großteil der Bevölkerung ausmacht. Mit anderen Worten: Sowohl überzeugende Ideen als auch die Zahlen sprechen für uns.
Breitet sich jedoch Gewalt nach dem Prinzip »Auge um Auge« in der Politik aus, dann ist die unvermeidliche Folge, dass beide Faktoren dramatisch an Bedeutung verlieren. In Szenarien, die von blutigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Fraktionen geprägt sind, spielt es keine Rolle mehr, wer das attraktivste politische Programm oder die größte potenzielle Wählerschaft hat – sondern nur noch, wer über die militantesten und am schwersten bewaffneten Ideologen verfügt, die am wenigsten vorm Töten zurückschrecken. Diesen Kampf wird die Linke nicht gewinnen.
Darüber hinaus wird Kirks Ermordung mit ziemlicher Sicherheit auch in anderer Hinsicht gegen die Linke wirken. Erstens könnte die Trump-Regierung sie sehr wohl als Vorwand nutzen, um gegen linke Aktivisten vorzugehen. Unmittelbar nach der Erschießung von Kirk begann die Rechte, genau diese Reaktion zu fordern. Ihre Forderungen nach einer Säuberung und Zensur der gesamten Linken als Vergeltung für den Mord an Kirk waren schnell, allgegenwärtig und scharf.
Noch in der Nacht nach dem Attentat hatte Donald Trump in einer Ansprache an die Nation gesagt: »Seit Jahren vergleichen die Radikalen der Linken wunderbare Amerikaner wie Charlie mit Nazis und den schlimmsten Massenmördern und Verbrechern der Welt. Diese Art von Rhetorik ist direkt verantwortlich für den Terrorismus, den wir heute in unserem Land erleben, und sie muss sofort aufhören.« Der Attentäter wurde noch nicht identifiziert, und es wurde noch kein Motiv bestätigt, aber das hinderte den Präsidenten nicht daran, die gesamte Linke für den Mord an Kirk verantwortlich zu machen und Vergeltung zu schwören.
Wenn die Geschichte uns als Anhaltspunkt dienen kann, dann stehen der Linken aufgrund dieser Entwicklung ernsthafte Gefahren bevor. Die Theorie, dass einzelne politische Gewalttaten irgendwie Massenbewegungen für Gerechtigkeit auslösen könnten (die früher als »Propaganda der Tat« bezeichnet wurde), ist über Jahrhunderte unter verschiedenen Umständen auf der ganzen Welt getestet worden. Dabei hat sie sich durchweg als katastrophal erwiesen und fast immer zu einer verstärkten Unterdrückung der Linken und zu Angriffen auf die Demokratie im Allgemeinen geführt.
Die Folgen von Kirks Ermordung könnten leicht diesem bekannten, düsteren Muster folgen. Unabhängig davon, ob sich der Schütze als linksgerichtet herausstellt oder nicht, gibt es gute Gründe zu befürchten, dass das Attentat als Vorwand für neue Unterdrückungsmaßnahmen gegen abweichende Meinungen genutzt werden könnte. Immerhin hat die Trump-Regierung bereits gezeigt, dass sie zu einem Ausmaß an Autoritarismus bereit ist, wie wir es in der jüngeren amerikanischen Geschichte noch nicht gesehen haben.
In den letzten acht Monaten wurden Green-Card-Inhaber inhaftiert, weil sie an Protesten teilgenommen oder auch nur Kommentare geschrieben hatten, in denen sie Israel kritisierten. Entgegen dem Willen von Bürgermeistern und Gouverneuren wurden Truppen in Städte entsandt, um auf kleinere Ausschreitungen oder sogar Straßenkriminalität zu unterdrücken. Und Einwanderer, die lediglich einer Straftat verdächtigt wurden, wurden ohne jegliches Gerichtsverfahren in Kerker in El Salvador geworfen. Die Vorstellung, dass alles, was auch nur im Entferntesten nach linker Gewalt aussieht (was auch immer die Motive des Schützen sein mögen), zu extremen Repressalien seitens der Trump-Regierung gegen die Linke führen könnte, ist alles andere als abwegig.
In den Jahren seit Bernie Sanders’ zweiter und entscheidenderer Niederlage im Jahr 2020 hat die amerikanische Linke große Rückschläge erlitten. Wo sie vor wenigen Jahren noch um die politische Macht kämpfte, ist sie heute oft weitgehend verdammt, ohnmächtige Wut über die Verkommenheit der Trump-Regierung, die mangelnde Entschlossenheit der Opposition der Demokraten und den Völkermord in Gaza zu äußern.
In letzter Zeit gab es hoffnungsvolle Zeichen dafür, dass die Linke wieder in der amerikanischen Politik Fuß fassen könnte – vor allem durch die inspirierende Kampagne von Zohran Mamdani in New York. Im Moment ist dieser Funke wiederbelebter demokratisch-sozialistischer Politik kostbar und zerbrechlich. Eine neue Welle politischer Repression könnte besonders verheerend sein, gerade jetzt, wo die Linke ihre Kräfte erst wieder aufzubauen beginnt.
»Der größte Teil der Linken hat die Tat zu Recht verurteilt. Eine nicht unerhebliche Anzahl hat jedoch mit einem Mangel an Empathie reagiert, das fast schon mit der Rechten mithalten kann.«
Kirks Ermordung wird die Überzeugungen der extremen Rechten wahrscheinlich nicht schwächen, sondern bestärken. Es besteht kein Zweifel, dass sie ihn zu einem Märtyrer für ihre Sache machen wird. Tatsächlich haben Vertreter der rechten Presse bereits begonnen, diesen Begriff zu verwenden. Kirk ist für eine solche Mythosbildung bestens geeignet, da er nie jemanden körperlich angegangen hat und kaltblütig erschossen wurde, während er seine politischen Ansichten artikulierte.
Kirk selbst hat eine führende Rolle dabei gespielt, die Gen Z, insbesondere junge Männer, nach rechts zu drängen. Sollte der Mörder gehofft haben, mit seiner Tat diesen Einfluss auszuschalten, werden seine Handlungen mit ziemlicher Sicherheit den gegenteiligen Effekt haben. Kirks Ermordung im Alter von 31 Jahren wird zweifellos viele seiner Millionen Zuschauer und Zuhörer davon überzeugen, sich seiner Sache völlig zu verschreiben, und so die Verfestigung eines militanten rechten politischen Blocks beschleunigen, der das Projekt der Linken über Jahrzehnte erschweren wird.
In der kurzen Zeit seit Kirks Ermordung hat der größte Teil der Linken die Tat zu Recht verurteilt. Eine nicht unerhebliche Anzahl hat jedoch mit einem Mangel an Empathie reagiert, das fast schon mit der Rechten mithalten kann. Ihre antimoralische Haltung dürfte nicht nur viele normale Amerikanerinnen und Amerikaner abschrecken, die politische Gewalt verabscheuen, sondern ist auch politisch fehlgeleitet und strategisch naiv. Hier gibt es nichts zu feiern. Es gibt aber durchaus viel zu befürchten.
Ben Burgis ist Kolumnist bei Jacobin, Autor des Buches Give Them an Argument: Logic for the Left und Host des gleichnamigen Podcasts Give Them an Argument.
Meagan Day ist Redakteurin bei Jacobin und Co-Autorin des Buches Bigger than Bernie: How We Go from the Sanders Campaign to Democratic Socialism.