20. Juni 2024
Chiles Projekt Cybersyn sollte als ein Beispiel für meisterhaftes Branding erinnert werden – nicht als ein gangbarer Weg zum Sozialismus.
Der ikonische Kontrollraum von Cybercyn.
Der erste Tag der Arbeit in der Amtszeit von Salvador Allende sollte ein rauschendes Fest in ganz Chile und für die neue sozialistische Regierung werden. Stattdessen brach am Vorabend der Feierlichkeiten zum 1. Mai 1971 ein Konflikt aus, der die Regierung bald auf einen unumkehrbaren neuen Weg zwingen sollte. Ausnahmsweise war dieser Konflikt, der einen abrupten Kurswechsel in Chile auslöste, nicht auf die Machenschaften der heimischen Bourgeoisie oder deren Unterstützer in Washington zurückzuführen. Es handelte sich vielmehr um einen Arbeitskampf.
Ein Streik in der größten Textilfabrik Lateinamerikas, dem Yarur-Werk, sorgte für Entsetzen in Santiago. Die Arbeiterinnen und Arbeiter verlangten, dass die seit sieben Monaten amtierende Regierung handeln und den Standort verstaatlichen solle. Dadurch würden allerdings die bisherigen Pläne der sozialistischen Beamten in ihren Ministerien nur rund zehn Kilometer nördlich der Fabrik zunichtegemacht. Allendes Koalition, die Unidad Popular (UP), war in Aufruhr. Wenn Yarur der Anfang einer größeren Forderungswelle der Arbeiterschaft nach Beschlagnahme der Fabriken sein sollte, was würde das für die Strategie der Koalition bedeuten, die eigentlich einen geordneten Übergang zum Sozialismus innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens vollziehen wollte?
Im Chaos des Streiks schmiedete eine kleine, aber sehr ambitionierte Fraktion innerhalb der neuen Führung einen Plan: Sie beschloss, die unübersichtliche Lage und die Schockstarre der Regierung auszunutzen, um ihre eigene Position innerhalb der UP-Koalition zu stärken. So sollten die Streiks dazu genutzt werden, um ein esoterisches Projekt in den Mittelpunkt des Wirtschaftsprogramms der Regierung zu rücken: SYNCO beziehungsweise Cybersyn – ein Name, der sich aus den Substantiven »Kybernetik« und »Synergie« zusammensetzt.
Dieser schillernde Vorstoß in eine »planlose Planung« wurde auf dem Höhepunkt des Selbstvertrauens der Arbeiterklasse in der Geschichte Chiles unternommen – ein Selbstvertrauen, das vor allem darauf aufbaute, dass die Arbeiterschaft über Allendes Ministerien ernsthaft Einfluss auf den Staat nehmen konnte. Die Frage ist daher: Warum wurde Chiles berühmtes »sozialistisches Internet« in einem so vielversprechenden Kontext zu einem Fehlschlag – oder schlimmer noch, zu einem offenbar so untauglichen Abenteuer, dass einige in der Regierungskoalition es bald sogar als konterrevolutionär ansahen?
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Jack Chadwick ist Autor. Er lebt in Medellín, Kolumbien.