25. November 2020
Chiles Votum für eine Verfassungsreform ist zugleich ein Votum für einen Systemwandel und einen Bruch mit dem neoliberalen Erbe der Pinochet-Diktatur. Doch rechtskonservative Kräfte versuchen, den Wandel zu blockieren.
Die sozialen Bewegungen Chiles mobilisieren seit über einem Jahr gegen den Neoliberalismus der Regierung.
Mit über 78 Prozent der Stimmen haben Chileninnen und Chilenen am 25. Oktober in einem Plebiszit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt. Über 78 Prozent sprachen sich ebenfalls dafür aus, die neu geschaffene verfassungsgebende Versammlung – die sogenannte Convención Constitucional – zu 100 Prozent aus gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung (insgesamt 155 Posten) zu besetzen. Damit wurde der im Land unbeliebten Politklasse eine deutliche Absage erteilt. Die Alternative wäre eine gemischte Versammlung aus 50 Prozent gewählten Bürgerinnen und Bürgern und 50 Prozent Parlamentsabgeordneten gewesen, eine Convención Mixta Constitucional. Im April 2021 sollen die Mitglieder der Versammlung gewählt und die neue Verfassung durch ein weiteres Plebiszit im Jahr 2022 ratifiziert werden. Die Wahlbeteiligung ist laut der Wahlbehörde Servel mit 50,9 Prozent gerade unter Berücksichtigung der Umstände der Corona-Pandemie relativ hoch.
Dieses starke Votum für eine neue Verfassung ist ein entscheidender Erfolg für die sozialen Bewegungen im Land. Während eine neue Verfassung nötig ist, damit der Wandel weitergehen kann, birgt der Weg dahin auch Gefahren der politischen Vereinnahmung und institutionelle Fallstricke. Auf der einen Seite versucht die rechte und konservative Elite im Land, den Prozess identitätspolitisch zu vereinnahmen sowie die institutionellen und formalistischen Hürden aufrechtzuhalten, um einen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel zu blockieren. Auf der anderen Seite fürchten Teile der sozialen, feministischen und Indigenen Bewegungen, dass ihre politische Schlagkraft in diesem Prozess institutionell eingehegt wird und sie letztendlich geschwächt werden. Diese Bewegungen stehen also vor der Herausforderung, ihre politische Handlungsmacht in diesem Spannungsverhältnis zwischen Rebellion und Unterordnung in institutionelle Teilhabe zu verwandeln ohne dabei ihre Autonomie zu verlieren. Das offensichtliche Dilemma ist, dass die Chileninnen und Chilenen mit den Zwängen des »alten« Chiles umgehen müssen, um es ins Wanken zu bringen.
Die Entscheidung für eine neue Verfassung ist der vorläufige Höhepunkt einer sozialen Revolte, die vor rund einem Jahr, am 19. Oktober 2019, mit den Protesten gegen eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr eingeleitet wurde. Seitdem ist die Rebellion in dem stark militarisierten Land trotz massiver Polizeigewalt, rechtlichen Repressionen und Ausgangssperren nicht abgeebbt. Die Strategie des rechten Präsidenten Sebastián Piñera, die Proteste zu isolieren und die Menschen auf der Straße als innere Feinde zu bekämpfen, ist dabei nicht aufgegangen. Das martialische Auftreten der Militärpolizei, der Carabineros, das 33 Tote und tausende Verletzte nach sich zog, erinnerte viele in der Bevölkerung an die Zeit der Militärdiktatur. Allerdings wird die gegenwärtige Rebellion hauptsächlich von einer Generation getragen, die die Diktatur nicht mehr selbst erlebt hat, und dadurch ihre politische Handlungsmacht unbefangener wahrnimmt. Der Widerstand und die Protestformen haben sich vervielfältigt, und auf dem Land und in den Barrios erleben scheinbar verloren gegangene Formen der solidarischen Selbstorganisation ein Revival.
Der landesweiten Rebellion ist gelungen, was während der 30 Jahre post-diktatorischer Demokratie nicht möglich war: die neoliberale Hegemonie gehörig ins Wanken zu bringen. Auch die letzten Versuche des Staates, sie über das Gewaltmonopol zu retten, sind gescheitert. Mit dem deutlich ausgefallenen landesweiten Referendum ist der erste Schritt eingeleitet, um die Verfassung zu ändern und dadurch das neoliberale Erbe der Diktatur zu kippen. Dazu gehören unter anderem die Forderungen nach einer Abschaffung des privatisierten Pensions- und Gesundheitswesens, einer Reform des Bildungssystems und ein Ende der hohen Kosten für Strom und öffentlichen Nahverkehr. Daneben wird fleißig an weiteren Eckpfeilern des neoliberalen Chiles wie der privatisierten Wasserversorgung, der Landkonzentration und dem extraktivistischen Ressourcenabbau gesägt.
Die aktuelle Verfassung wurde während der Diktatur Pinochets 1980 unter Federführung von Jaime Guzmán, dem Gründer der rechtskonservativen Partei Unión Democrática Independiente (UDI) beschlossen. Sie zementierte die neoliberale und gleichermaßen autoritäre Staats- und Wirtschaftsordnung Chiles und sichert der oligarchischen Elite die Ausbeutung von Land, natürlichen Ressourcen und Arbeitskraft per Gesetz zu. Es wurde also nicht etwa eine bereits bestehende demokratische Verfassung neoliberal unterwandert, sondern vielmehr der Neoliberalismus als Staatsraison verfassungsrechtlich festgeschrieben und autoritär-militärisch abgesichert.
Mobilisierung und Proteste gegen dieses System haben in Chile Tradition. Der kontinuierlichste Widerstand geht dabei von der Indigenen Bevölkerung der Mapuche aus, die sich bereits in den 1980er Jahren in sogenannten Kulturzentren, Centros culturales, organisierten. Seit der Rückkehr zur formalen Demokratie in den 1990ern werden vor allem die autonomistischen Sektoren der Mapuche unter dem Vorwand der Terrorabwehr massiv kriminalisiert und verfolgt. Weitere soziale Bewegungen, wie etwa die Schul- oder Frauenstreiks haben zwar an der neoliberalen Ordnung gekratzt, doch sie vermochten nicht das zu vollbringen, was nun erreicht wurde: die etablierte Politik in eine Legitimationskrise zu stürzen und das Fundament des chilenischen Neoliberalismus – die Verfassung – in Frage zu stellen.
Zentrale Figuren aus den Schülerstreiks von 2006, die sich zu landesweiten Bildungsprotesten ausweiteten – der sogenannte »Revolución Pingüina«, wie man die Bewegung wegen der schwarz-weißen Schuluniformen nannte –, wurden eher parteipolitisch kooptiert, weshalb es ihnen nicht gelang, neue Ideen im Kongress umsetzen. Die alte Verfassung macht Änderungen beinahe unmöglich und stützt die mächtige Gruppe um den aktuellen Präsidenten Piñera, der weiterhin in klientelistischer Manier Staatsämter mit rechten Pinochet-Verehrern besetzt.
Das Signal des Referendums ist klar: Das Land gehört nicht der Elite oder den Politikerinnen und Politikern. Und ein wahrer Wandel wird im Rahmen der gegenwärtigen Verfassung nicht umsetzbar sein. Vielmehr sind der Straßenkampf, der Widerstand der Frauen, die Proteste der Mapuche auf dem Land und die nachbarschaftliche Selbstorganisation entscheidend.
Obwohl das Ergebnis des Plebiszits zunächst ein eindeutiges Mandat darstellt, gilt nun, die zentralen Forderung der Proteste auch durchzusetzen. Diese forderten unter anderem sicherzustellen, dass die Versammlung auch wirklich frei und souverän ist und mit Abgesandten der Basisorganisationen besetzt ist.
Während eine paritätische Verteilung nach Geschlecht bereits abgesichert ist, wird die Forderung nach festen Plätzen für die Indigene Bevölkerung, die einen Anteil von 12,8 Prozent der landesweiten Bevölkerung stellt, kontrovers diskutiert. Gerade in der Debatte um eine Indigene Quote wird eine mögliche Sollbruchstelle des gesamten Prozesses deutlich. Während einige Indigene Vertreterinnen, wie die Parlamentsabgeordnete und Mapuche Emilia Nuyado, die Quote begrüßen, lehnen Teile der Indigenen Autonomiebewegung die Quote ab. Wie der Mapuche-Historiker Fernando Pairicán, darlegt, rührt das daher, dass durch eine solche Quotenregelung abermals der institutionelle Rahmen der alten Verfassung bestimmt, welche Gruppen an der Ausarbeitung der neuen Konstitution beteiligt werden und wer ausgeschlossen bleibt. Und all das während die sozialen Bewegungen, die diesen Prozess angestoßen haben, von massiver Repression ausgesetzt sind. Die Diagnose des chilenischen Anthropologen Rolf Foerster, dass sich die Mapuche im ständigen Spannungsfeld zwischen Rebellion und Unterordnung befänden, findet hier ihren Widerhall. Dabei lässt sich diese Analyse treffend auf die generellen Widersprüche des verfassungsgebenden Prozesses übertragen, denn es besteht die Gefahr, dass die parteipolitischen Eliten diesen kooptieren werden, sein transformatorisches Potential verwässern, die Repression ausweiten und die institutionellen Logiken über die Inhalte stellen.
Neben der rechtlichen Form, in die die Forderungen nun gepresst werden, birgt der institutionelle Rahmen für die Ausarbeitung der neuen Verfassung eine weitere Hürde, allen voran die Zweidrittelmehrheit, mit der der Verfassungskonvent eine neue Verfassung verabschieden müsste. Durch diese Regelung hat eine rechte Sperrminderheit aus konservativen Wirtschaftsvertretern die Chance, wichtige Forderungen aus den sozialen Bewegungen trotz Mehrheit zu blockieren.
Auch die personelle Zusammensetzung, das interne Regelwerk, sowie die Inhalte des Verfassungskonvents und die Prozesse durch die Ideen Eingang in den Verfassungskonvent finden werden, sind noch nicht abschließend ausdiskutiert. Damit die Krise der Repräsentation sich nicht weiter verschärft, dürfen Räume für Mitbestimmung nicht von parteipolitischen Logiken und Wahlambitionen vereinnahmt werden, warnt Claudio Fuentes, Politologe an der Universidad Diego Portales. Die parteipolitische Linke stand dem Referendum zunächst kritisch gegenüber, aber schloss sich letztendlich dem Vorschlag von Präsident Piñera an, die Verfassungsänderung zur Wahl zu stellen. Dies wurde vor allem von der Protestbasis als Zugeständnis an die Macht interpretiert. Auch Teile der breiten sozialen und Indigenen Bewegungen sehen den Prozess also durchaus ambivalent. Die gesamtgesellschaftliche Rebellion hat nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die politischen Institutionen in eine nachhaltige Repräsentations- und Legitimationskrise gestürzt. Und der Ausgang dieser Krise ist noch offen.
Aber welche Möglichkeiten bietet der verfassungsgebende Prozess und wo liegen seine Grenzen? Wie kann dieser so partizipativ wie möglich gestaltet werden? Und welche Wege gibt es, um Forderungen in die Versammlung hineinzutragen?
Der chilenische Historiker Sergio Grez Toso schlägt vor, dass die sozialen Bewegungen simultan zu der nun beschlossenen Versammlung eine Volksversammlung – Asamblea Popular Constituyente oder Constituyente Chica – gründen sollten. Die zahlreichen regional gegründeten Räte, Cabildos, bieten eine ideale Struktur, um diese Volksversammlungen zu besetzen und Beschlüsse zu fassen. Damit könnte die Verfassungsgebung auch die historischen und aktuellen Erfahrungen der solidarischen und gemeinschaftlichen Selbstorganisation in Chiles Städten und auf dem Land (re-)aktivieren. Wie allerdings können diese Ideen dann in die Institutionen hineingetragen und umgesetzt werden? Plebiszite zu zentralen Änderungen, die in der Verfassung verankert werden sollen und nur eine Ja-Nein-Option anstatt einer Diskussion zulassen, scheinen dazu wenig geeignet. Wer in der Versammlung an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligt wird, ist daher von fundamentaler Bedeutung.
Doch Repräsentation bedeutet nicht nur (Volks-)Vertretung. Auf einer anderen Bedeutungsebene gilt es danach zu fragen, wen oder was die neue Verfassung darstellen soll. Mit anderen Worten, wer oder welche Gruppe wird das politische Subjekt des neuen Chiles? Diese Frage ist insofern wichtig, da der rechte Flügel des politischen Spektrums versuchen wird, die Verfassung nationalistisch einzurahmen. Dies folgt dem Gründungsmythos Chiles als weiße, männliche und europäische Nation. Die Tatsache, dass eine überwältigende Mehrheit für eine Annahme des Plebiszits stimmte, lässt sich als erstes Warnzeichen für eine solche Einrahmung deuten – schließlich hatten auch Teile des rechten Spektrums dafür mobilisiert.
Demgegenüber steht die gesellschaftliche Realität eines multiethnischen und multikulturellen Chiles. Es bleibt zu hoffen, dass durch den verfassungsgebenden Prozess endlich auch der Kampf um die Plurinationalität eines neuen Chiles Eingang in die politischen Institutionen findet. Die Indigenen Bewegungen orientieren sich dabei sowohl an regionalen Vorbildern in Ecuador oder Bolivien als auch am plurinationalen Neuseeland.
Doch die symbolische Wirkung reicht weit über die Zwänge, die der Prozess mit sich bringt, hinaus. Die chilenische Gesellschaft war nie repräsentiert durch die Regeln, die Pinochet mit den Chicago Boys ausgearbeitet hatte. Im Gegenteil: Erst durch das kollektive Trauma des Putsches und die institutionalisierte Repression konnte der Neoliberalismus durchgesetzt werden. Kippt man eine seit 40 Jahren zementierte neoliberale Wirtschaftsordnung durch eine Verfassungsänderung? Nein. Die neoliberale Hegemonie im Land ist aber ins Taumeln geraten. Dass sowohl das politische Establishment als auch die Oligarchie in der Defensive sind, zeigt sich auf nationaler Ebene an der autoritären und mitunter gewaltsamen Reaktion auf die Rebellion. Auf internationaler Ebene wird derzeit versucht, das Handelsabkommen mit der EU so schnell wie möglich neu auszuhandeln. Dieses Abkommen könnte für eine neue Verfassung bereits vorher zur ökonomischen »Zwangsjacke« werden, wie sogar der chilenische Chefunterhändler Felipe Lopeandía zugibt.
Dass sich der zivile Ungehorsam, die massive und anhaltende Mobilisierung und die breite Solidarisierung mit den brutal niedergeschlagenen Protesten miteinander verbunden haben – totz aller Zwänge und Gegenwehr –, ist dennoch einmalig. Die Revolte und die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der verfassungsgebenden Versammlung in Chile sind auch vor dem Hintergrund der autoritären Wende in der Region als positives Beispiel für eine Antwort auf die Krisen der Repräsentation und der Institutionen zu betrachten. Aufgrund ihrer medialen Wirkung, der internationalen Vernetzung sowie ihrer innovativen Demonstrationstaktiken, hat die Rebellion bereits jetzt schon Vorbildcharakter beispielsweise für die Proteste im Nachbarland Peru. Gleichzeitig lernen die Chileninnen und Chilenen von anderen Verfassungsgebungsprozessen, wie denen in Ecuador und Bolivien. Dort haben sich die neuen Verfassungen der durch soziale und Indigene Bewegungen ins Amt gebrachten Regierungen nach einem anfänglichen Hype letztendlich auch als autoritär und kapitalfreundlich herausgestellt. Damit die Hoffnung vieler Chileninnen und Chilenen auf einen tiefgreifenden Wandel erhalten bleibt, werden sich die sozialen Bewegungen Chiles der Herausforderung stellen müssen, aus diesen Erfahrungen ihre Lehren zu ziehen.
Es ist also nicht absehbar, ob eine Verfassungsänderung eine befriedigende Antwort auf die Systemfragen liefern kann. Letztendlich sind es die alten Institutionen und vorerst auch die alten Repräsentantinnen und Repräsentanten, die den Weg zu einer neuen Verfassung einleiten müssen.
Fest steht allerdings: Die verfassungsrechtlichen Barrikaden des »alten« Chiles, die einen systemischen Wandel bisher behindert haben, beginnen zu fallen. Durch Druck von der Straße wird jetzt eine Neuauflage der Verfassung möglich – diese kann nicht nur die zentralen Forderungen der Rebellion in neuen Rechten festschreiben, sondern womöglich die Kräfteverhältnisse in den Institutionen langfristig verändern und ein neues plurinationales und inklusives Staatsverständnis durchsetzen. Die Revolte in Chile ist mehr als verfassungsrechtliche Revolution. Es ist eine Revolte, welche die Regeln des Zusammenlebens im Land von Grund auf verändern möchte. Dazu gehört die alte Verfassung, die bisher die Privilegien der Oligarchie und die strukturelle Verkäuflichkeit von Land, Ressourcen und Biodiversität absicherte. Dazu gehören aber auch die patriarchalen und autoritären Gesellschaftsnormen. Der verfassungsgebende Prozess wird die Protestformen und die Forderungen verändern – die sozialen Bewegungen und die Rebellion aber haben die Gesellschaft und das Land bereits auf Jahre verändert.
Sebastian Garbe ist Soziologe an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er forscht und lehrt zu post- und dekolonialer Theorie und sozialen Bewegungen.
Julia Liebermann ist Politikwissenschaftlerin und promoviert an der TU Darmstadt zu Gewaltenteilung, Justizsektorreformen und dem Verhältnis von Recht und Politik.
Julia Liebermann ist Politikwissenschaftlerin und promoviert an der TU Darmstadt zu Gewaltenteilung, Justizsektorreformen und dem Verhältnis von Recht und Politik.
Sebastian Garbe ist Soziologe an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er forscht und lehrt zu post- und dekolonialer Theorie und sozialen Bewegungen.