14. Dezember 2020
Im Gespräch mit Christa Luft, der letzten sozialistischen Wirtschaftsministerin Deutschlands.
Christa Luft in ihrem Wohnzimmer in Ostberlin.
Christa Luft arbeitete in der DDR als Ökonomin an der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) in Berlin und am Internationalen Institut für ökonomische Probleme des sozialistischen Weltsystems in Moskau. Im November 1989 wurde sie in das Übergangskabinett von Hans Modrow berufen, in dem sie als Wirtschaftsministerin tätig war. Ihre Aufgabe bestand darin, eine großangelegte Wirtschaftsreform auszuarbeiten und das sozialistische Wirtschaftssystem zu modernisieren. Zu einer Umsetzung ihrer Ideen kam es nicht mehr. Die Regierung musste zurücktreten, nachdem die CDU-dominierte Allianz für Deutschland in der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 eine deutliche Mehrheit errungen hatte.
Von 1994 bis 2002 saß sie als direkt gewählte Abgeordnete für die PDS im Bundestag. Nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik hat sie sich weiterhin öffentlich für ostdeutsche Interessen eingesetzt und das Zeitgeschehen kommentiert. Mit Jacobin sprach sie über ihre Erfahrungen in Ost und West und Potenziale sozialistischer Politik für die Zukunft.
Als DDR-Wissenschaftlerin hast Du auch im Ausland gearbeitet. Welche Eindrücke hast Du von Deinen Reisen mitgenommen?
Ich hatte von Moskau aus Gelegenheit, in alle sozialistischen Länder zu fahren und dort viele Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen. Auch konnte ich von dort aus – das Internationale Institut war bei der UNO akkreditiert – nach New York, nach Washington, nach Genf reisen, was ich von zu Hause aus wahrscheinlich nicht gekonnt hätte.
Ich möchte die Erfahrung nicht missen, als ich das erste Mal nach New York kam. Ich steige aus dem Taxi vor meinem Hotel und das erste, was ich sehe, ist ein Bettler mit einem riesigen Schild: »Please, help me, I am hungry!« In Moskau war das auch nicht üppig mit der Esserei, aber Menschen auf der Straße, die um ein Stück Brot bettelten, habe ich keine gesehen. Das war die Zeit, als New York völlig pleite war. Die Müllberge ragten fast bis an den ersten Stock der Gebäude. Aber der Fahrstuhl im Empire State Building, der rauschte in Sekunden bis nach oben. Da habe ich verstanden: Sozial ist das hier ganz schön trist, aber technisch sind die uns um Welten voraus.
Solche Erfahrungen hätte ich vielen Menschen gewünscht. Denn so lernt man zu schätzen, was man zu Hause hat, aber sieht zugleich, wo man nicht nur nachholen, sondern besser werden muss als die anderen. Das war dann auch mein Anspruch, als ich wieder nach Hause an die Hochschule kam.
Die sozialistischen Staaten verfügten mit dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), auch »Comecon« genannt, über ein Instrument zur ökonomischen Integration. Hätte es die Möglichkeit gegeben, die wirtschaftlichen Probleme des Sozialismus in der DDR über den RGW zu lösen?
Es gab eine organisierte Arbeitsteilung zwischen den sozialistischen Staaten, die ich allerdings für kaum tragfähig hielt. Der RGW setzte sich zusammen aus bereits weit entwickelten Ländern, wie der DDR und der Tschechoslowakei, dann welchen, die sich auf mittlerem Niveau befanden, wie Polen und Ungarn, und aber auch Ländern wie Rumänien und Bulgarien und später noch der Mongolei, Vietnam und Kuba. Diese Länder passten vom ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Potenzial überhaupt nicht zusammen – vom Lebensstandard nicht, von den Mentalitäten zum Teil auch nicht. Es war ein politisch, nicht ökonomisch begründeter Block. Aber der Gedanke war, dass alle Gelegenheit bekommen sollten, nicht nur Rohstofflieferanten zu sein, sondern auch Fertigerzeugnisse mit zu produzieren. So wurde die Idee der Baugruppenkooperation geboren.
Beim Mähdrescher zum Beispiel: Da haben die einen das Chassis gebaut, die anderen den Motor, die dritten die Räder und wieder andere die Sensen. Gut gedacht! Am Ende passte das alles aber nicht richtig zusammen. Keiner wollte einen Mähdrescher »made in Comecon« kaufen, alle wollten Mähdrescher »made in GDR«. Ich finde, die EU macht heute etwas Ähnliches. Ihre Ausweitung ist politisch begründet. Diese Länder, die vom ökonomischen Potenzial, von der Mentalität, von der Geschichte und vom Lebensstandard her überhaupt nicht zusammenpassen, nur über Geld zusammenzubinden, das birgt Schwierigkeiten.
Im November 1989 bist Du direkt von der Hochschule ins Ministeramt gewechselt. Welche Erwartungen hattest Du angesichts der sich überschlagenden Ereignisse im Herbst 1989? Was dachtest Du bewegen zu können?
Du kannst mir glauben, ich habe nicht zu Hause gesessen und gewartet, dass mich hoffentlich jemand anruft. Hans Modrow wurde von der Volkskammer beauftragt, eine neue Regierung zu bilden. Ich hatte ihm im Namen der Hochschule dazu gratuliert und ihm gesagt, dass wir bereitstehen, wenn er Hilfe braucht.
Anderthalb Tage später kriege ich einen Anruf von der Kader-Abteilung des Ministerrates. Ich wurde gebeten, mich mit Hans Modrow zu treffen. Der ging davon aus, dass die nächsten Wahlen in der DDR im Mai 1990 stattfinden und die politische Konstellation danach eine andere sein würde als die, in die ich eintreten sollte. Aber dass das Wahlergebnis nachher so unerhört für die Allianz für Deutschland ausfallen würde – die erreichten fast 50 Prozent damals – das hatten wir nicht erwartet. Also wir wussten, dass wir nicht jahrelang Zeit haben würden, aber dass es nur drei Monate gehen würde, das ahnten wir nicht.
Hast Du das Gefühl, trotz der kurzen Amtszeit etwas bewirkt zu haben?
Ich denke, wir konnten allein durch die Art und Weise liefern, wie wir uns präsentiert haben, und mit den Menschen in den Dörfern, in den Städten, in den Kommunen umgegangen sind. Das war schon ein Plus für uns, dass wir überhaupt zugehört und versucht haben, die ersten Schrauben zu stellen.
Ich war schockiert gewesen, als Günter Mittag, der Chef des Wirtschaftsressorts im ZK der SED, im Jahr 1972 die noch privaten und halbstaatlichen kleinen und mittleren Betriebe enteignete und in die Kombinate einschloss. Das hat so viel Produktivität, so viel Elan, so viel Innovationsgeist eingeschränkt oder sogar abgetötet. Das war schon ein Sargnagel damals für die DDR-Wirtschaft.
Das rückgängig zu machen war dann eine meiner ersten Handlungen: Wo die Eigentümer dieser früheren Betriebe noch lebten, oder ihre Erben, da sollten sie diese zurückbekommen. Das fiel auf großen Zuspruch. Außerdem habe ich mich für die Gewerbefreiheit eingesetzt: Wer es sich zutraut und auch bereit ist, das unternehmerische Risiko zu tragen, sollte sich selbstständig machen dürfen.
Man könnte also sagen, Du hast als Ministerin die ersten Privatisierungen zugelassen. Was unterscheidet dann Deine Vorstellungen von denen der Regierung Kohl?
Was wir nicht wollten, war eine Privatisierung von Kombinaten in Schlüsselbereichen wie Schwerindustrie, Energiewirtschaft, Wasserwirtschaft und Elektroindustrie. Dort wollten wir Bereiche herauslösen, die nicht zum Kerngeschäft gehörten. Damals brauchte jedes Kombinat eine Bauabteilung, eine Transportabteilung und so weiter. Denn wenn es vorhatte, etwas zu bauen, dann konnte es nicht an den Markt gehen und Kapazitäten kaufen. Stattdessen musste man alles unter einem Dach haben. Das war unproduktiv und das wollten wir verändern.
Vor allen Dingen wollten wir die Betriebe modernisieren. Aber wir wollten sie nicht privatisieren und schon gar nicht auf Hauruck. Auch Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wie das Gesundheits- und das Bildungswesen sollten nicht dem Profitprinzip unterworfen werden. Dann kam am 6. Februar 1990 die Meldung, dass Bundeskanzler Kohl der DDR-Bevölkerung anbietet, alsbald die D-Mark zu übernehmen und damit im Ausland nicht mehr als Deutsche zweiter Klasse angesehen zu werden. Die DDR-Bevölkerung war mehrheitlich – mehrheitlich beginnt ja schon ab 51 Prozent – begeistert. Sie unterlag nämlich dem Irrtum, dass wir alles, was uns am DDR-Alltag recht und lieb war, behalten, und die harte D-Mark noch dazu kriegen würden. Dann wären wir die Kings.
Aber das war ein Riesenirrtum, denn wie aus der Geschichte bekannt ist: Wer das Geld gibt, hat das Sagen. Und daran ließ der Westen keinen Zweifel.
Wie hat sich das konkret geäußert?
Finanzminister Waigel sagte im Bundestag ganz offen: Liebe Landsleute im Osten! Wir geben euch das Beste, was wir haben – die harte D-Mark und die soziale Marktwirtschaft. Aber ihr müsst einsehen, dass das was kostet. Wir müssen dafür Kredite aufnehmen und dazu brauchen wir Pfänder. Und ein solches Pfand ist das Volkseigentum – das muss privatisiert werden.
Die Privatisierung des Volkseigentums war der Preis für die Währungsunion. Ohne das hätten die im Westen das nicht gemacht. Kohl machte dieses Angebot ja nicht aus Liebe zu seinen »Brüdern und Schwestern« im Osten. Dem Kohl stand das Wasser bis zum Hals. Auch nach geöffneter Grenze gingen ja weiter jeden Tag Hunderte Menschen in die alten Bundesländer. Und das stieß bei der Westbevölkerung nicht gerade auf Zustimmung. Das konnte Kohl nicht verkraften. Er wusste, wenn das so bleibt, war seine Wiederwahl gefährdet.
Mit diesem Währungsangebot an die Ostbevölkerung hat Kohl also erstens seine Westler befriedet. Die konnten aufatmen, denn er gab ihnen zu verstehen: Wenn die im Osten die D-Mark haben, dann bleiben die zu Hause und ihr seid eure Sorgen los. Und den Ostlern versprach er blühende Landschaften.
Was hätte die Treuhand vor diesem Hintergrund anders machen können?
Es hätte andere Möglichkeiten der Entstaatlichung gegeben als die Hauruck-Privatisierung. Das sage nicht nur ich, sondern auch viele prominente westdeutsche Ökonomen. Dass nicht alles verstaatlicht bleiben musste, das war auch unsere Überzeugung.
Wenn in einer Kleingartenanlage die Äpfel alle in einer Woche reif werden und verkauft werden müssen, was gibt es da für Möglichkeiten? Am Ende werden fast alle verschenkt, weil sich nicht genug Käufer finden. Bei einem Zusammenprall von großem Angebot und mangelnder Nachfrage sinken die Preise. So war das auch mit den Ost-Betrieben. Das hätte sich verhindern lassen.
Beim Volkseigenen Betrieb (VEB) Carl Zeiss Jena ist das zum Beispiel anders gelaufen. Das aus ihm hervorgegangene Unternehmen Jenoptik blieb das erste Jahrzehnt nach der Wende in thüringischem Landeseigentum. Der Betrieb hat auch Federn lassen müssen, aber insgesamt hat er den Transformationsprozess viel besser als andere überstanden, weil sich die Landesregierung in der Verantwortung sah, für den Erhalt und die Neugewinnung von Märkten zu sorgen. Die Treuhand-Präsidentin Birgit Breuel sah sich für solche Dinge nicht verantwortlich. Sie meinte, die Märkte seien zusammengebrochen. Aber die waren nicht zusammengebrochen, sondern durch den gewählten Währungskurs kaputt gemacht worden. Daraufhin nahmen Westunternehmen diese Märkte ein. Wie in Thüringen hätten in jeder Region Unternehmen ausfindig gemacht werden müssen, die weltweit gefragte Produkte herstellen, beschäftigungsintensiv sind und für Ausbildungsplätze sorgen. In jeder Region hätte man wenigstens einen solchen Leuchtturm erhalten können, indem man das Unternehmen zumindest befristet zu Landeseigentum macht.
Es wäre möglich gewesen, die Industrie in der DDR, die auf die Lieferung von Öl- und Gasausrüstungen an die Sowjetunion spezialisiert war, zu erhalten. Diese Werke waren zum Beispiel in Sachsen und Sachsen-Anhalt konzentriert. Da gab es immer noch Kapazitäten, da gab es Spezialisten, die unter Bedingungen ewigen Eises und ewigen Frostes die Technik montiert und gewartet haben. Aber Vorschläge, Ausrüstungen zu liefern gegen Öl- und Gasbezug, also befristete Tauschgeschäfte zu machen, hatten keine Chance. Man hätte auch die Mitarbeiterkapitalbeteiligung forcieren und in bestimmten Bereichen genossenschaftliches Eigentum ausweiten können. Es gab viele Möglichkeiten, aber alle wurden abgelehnt. Man sah die Chance, mit einem Federstrich im Osten das zu machen, was im Westen Praxis war. Das Alte des Westens wurde das Neue im Osten.
Was hätte aus der DDR übernommen werden sollen?
Es gab viel volkseigenen Grund und Boden in der DDR. Wenigstens den hätte man nicht privatisieren sollen. Denn wie schon John Stuart Mill gesagt hat: »No man made the land«, keiner hat das Land gemacht. Obwohl das Grundgesetz den Titel »Gemeineigentum« kennt und schützt, fanden hier bevorzugt Privatisierungen statt. In der Zeit nach der Wende war Grund und Boden das grüne Gold – und das ist es ja bis heute. Es durfte nichts übernommen werden vom Leben in der DDR.
In der Folge wird aus Ackerland Bauland gemacht – mit riesigem Gewinn für die Besitzer. Und wenn gebaut wird, geht der explodierende Preis von Bauland in die Miete ein. Es gibt Untersuchungen, wonach 80 Prozent der Mietsteigerungen der letzten zehn Jahre auf Bauland-Preiserhöhung zurückgehen. Das ist inzwischen eines meiner Lieblingsthemen. Ich bin auch ein bisschen auf die Linken sauer, dass sie das nicht stärker aufgreifen. Man kann Mietpreisdeckel machen, noch und nöcher. Irgendwann wird der wieder durchlöchert und bei Neubauten hilft er sowieso nicht. Ich sage: Grund und Boden darf kein Spekulationsobjekt sein!
Würdest Du von einer Kolonialisierung Ostdeutschlands im Zuge der Wiedervereinigung sprechen?
Ich lehne das Wort Kolonialisierung in diesem Zusammenhang ab. Nicht weil es nicht Merkmale gibt, die einer Kolonialisierung entsprechen, wie den Austausch von Eliten, die Aufhebung von Gesetzen und so weiter. Sondern weil die Menschen in der DDR eine Wahl hatten. Sie konnten wählen und haben sich so entschieden. Die Kolonien in Afrika und Asien hatten keine Wahl, das ist der Unterschied. Aber dass man sich im Westen für Götter hielt und den Osten für eine Art Hölle, das war ähnlich. Und wenn wir das nicht überwinden, dann wird es mit der deutschen Einheit überhaupt nichts.
Wo siehst Du heute Chancen? Welche Lösungsmöglichkeiten siehst Du zum Beispiel für das Problem der ungünstigen demographischen Entwicklung im Osten?
Was heißt Chancen? Was gemacht werden müsste, ist natürlich alles teuer. Da wäre zum Beispiel das System der Besteuerung, das ist seit der Deutschen Einheit unverändert geblieben. Nach wie vor müssen Konzernfilialen, die sich hier im Osten befinden, ihre Gewinne in den Mutterländern der Konzerne versteuern. Das heißt, wenn hier Gewinn erwirtschaftet wird, aber das Mutterunternehmen sitzt in Nordrhein-Westfalen, dann geht das Steueraufkommen dorthin und wird dann mit einer großzügigen Geste als Transfer hierher zurückgegeben. So etwas gehört geändert!
Wenn wir uns den ländlichen Raum ansehen: Im Grunde bleiben dort nur die Alten. Die Jungen sind weggegangen, der Arbeit wegen. Dann wird noch die letzte Buslinie eingestellt. Die Zuglinien wurden ausgedünnt. Die Arztpraxen sind weg, die Geschäfte sind weg. Da braucht man sich doch nicht wundern, wenn keiner mehr dort bleiben will, und dass das ein Eldorado wird für diejenigen, die die Ländereien rundherum schon besitzen und jetzt noch den Rest billig aufkaufen wollen. Zumeist sind das agrarferne »Investoren« wie Versicherungen, Kaufhausketten, Stiftungen und so weiter. Die schaffen keine Arbeitsplätze vor Ort. Sie kommen im Frühjahr mit eigenen Maschinen auf Tiefladern und ebenso im Herbst zur Ernte. Sie brauchen für den Traktor einen Fahrer und vielleicht noch einen, der ein bisschen aufpasst, dass alles funktioniert.
Das demografische Problem ist also auch eines der Deutschen Einheit. Das Steuersystem verändern, mehr im Osten sozialisierte Menschen in Führungspositionen berufen, Unternehmenszentralen im Osten ansiedeln und die ländlichen Räume pflegen, sodass sie attraktiv werden für Menschen, die nicht so mobil sind, aber dennoch ihre Heimat lieben. Das wären zum Beispiel Chancen.