17. Juli 2024
Finanzminister Lindner warnte kürzlich vor Anleihekäufen durch die EZB und hat sich damit den Spott der Zentralbanker eingehandelt. Dieser Konflikt offenbart, wie unterschiedliche Paradigmen des Krisenmanagements aufeinanderprallen.
Stieß mit seinen Warnungen vor Anleihekäufen nach der Frankreichwahl auf Unverständnis: FDP-Minister Christian Lindner.
Die Europäische Zentralbank (EZB) und Christian Lindner haben einiges gemeinsam. Ihren Glauben an den Kapitalismus zum Beispiel. Oder ihre Vorliebe für knallharte Austeritätspolitik. Kürzlich kam es jedoch zum Streit: Christian Lindner hat die EZB davor gewarnt einzugreifen, falls Frankreich aufgrund der Neuwahlen in eine Finanzschieflage geriete. Er würde gegebenenfalls prüfen, ob mit rechtlichen Schritten dagegen vorzugehen sei. Zentralbanker bezeichneten Christian Lindner daraufhin als »dämlich«. Im Kontext der Zentralbank Kommunikation, die auf Konfliktfreiheit und Optimismus bedacht ist, um Märkte nicht zu beunruhigen, ist das ein heftiger Affront. Im Versuch der Stabilisierung des Kapitalismus stehen sich die ordoliberale FDP und die pragmatische, expansive EZB gegenüber. Das hat ideologische, aber auch systemische Gründe.
Zentralbanker können Christian Lindner ohne große persönliche Konsequenzen beleidigen, da die Europäische Zentralbank eine unabhängige, technokratische Institution ist. Unabhängige Zentralbanken kamen erstmals in den 1980ern auf. Sie sollen verhindern, dass Regierungen kurz vor Wahlen Geld in Umlauf bringen, um die Wirtschaft und die Umfragewerte anzukurbeln, was langfristig wiederum Inflation begünstigt. Die EZB ist seit den frühen 2000ern für die monetäre Stabilität der Währungsunion zuständig. Ihr Vorbild ist die Deutsche Bundesbank, dementsprechend ist ihr im Maastricht Vertrag festgelegtes Mandat begrenzt und entstammt einer konservativen Tradition. Derzufolge soll die Europäische Zentralbank Preisstabilität ermöglichen. Ihr primäres Instrument ist dabei der Leitzins.
Andere Zentralbanken haben zusätzlich andere Ziele, die US-amerikanische Zentralbank FED soll etwa die Arbeitslosigkeit niedrig halten. Spätestens seit der Eurokrise wird das ordoliberale, an bestimmte Regeln gebundene Mandat der EZB jedoch breiter ausgelegt. Um die Währungsunion zu stabilisieren, gab es direkte Interventionen in Wertpapiermärkte und Liquiditätshilfen. Um den Fortbestand des Euros zu sichern, ergriff die EZB unkonventionelle Maßnahmen. Diese Maßnahmen haben sich verstetigt. Zuletzt ergänzte die EZB im Jahr 2022 ihren Werkzeugkoffer mit dem Transmissionsschutzinstrument (TPI). Dies ermöglicht den Ankauf von Staatsanleihen, sollte ein Staat der Währungsunion in finanzielle Engpässe geraten.
Genau daran entbrannte der Konflikt – Christian Lindner befürchtet, dass die EZB über ihr Mandat hinaus handelt, wenn sie im Falle von Finanzierungsproblemen mit TPI Staatsanleihen kauft. Lindner vermutet, dass Staaten ihre Haushaltslöcher stopfen könnten, indem die EZB ihre Staatsanleihen kauft, was als »monetäre Staatsfinanzierung« bezeichnet wird. Seine Sorgen scheinen bisher weitgehend unbegründet. Die EZB will dieses Instrument nur dann nutzen, wenn eine »solide und nachhaltige Finanz- sowie Wirtschaftspolitik« vorliegt. Die Eurokrise hat gezeigt, dass die EZB darunter radikale Austerität versteht und eine Finanzierung eines ambitionierten Sozialstaats eher ausschließt. Die Interessen von EZB und Lindner liegen also nah beisammen. Wie erklärt sich diese Differenz?
Lindner und die EZB nehmen in Bezug auf Finanzpolitik unterschiedliche Rollen ein. Christian Lindner besteht auf nationaler, wie auch auf europäischer Ebene auf Wirtschaftspraktiken im Stile der imaginierten (und sexistisch konnotierten) »schwäbischen Hausfrau«. Als Ordoliberaler pocht er auf die Einhaltung bestimmter Regeln, wie zum Beispiel der Schuldenbremse oder der engen Auslegung des EZB-Mandats. Die FDP billigte in der Eurokrise zwar die expansiven Maßnahmen der EZB und den Eurorettungsschirm, dies ging jedoch mit internen Konflikten einher. Im Jahr 2011 fand ein Mitgliederentscheid der Partei gegen den Euro-Rettungsschirm statt, blieb jedoch erfolglos. Die Kernwählerschaft war dennoch nicht begeistert, was schließlich zum Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag im Jahr 2013 beitrug.
»Die Maßnahmen der EZB schützen mittelfristig das aktuelle Wirtschaftssystem, das der überproportional reichen FDP-Wählerschaft nutzt.«
Diese Vorgeschichte zeigt, dass die FDP ein klientelpolitisches Interesse an regelbasierter Politik hat. Als Partei geht es ihr darum, das Wirtschaftsverständnis ihrer Kernwählerschaft zu bedienen und die von ihnen als wichtig empfundenen Regeln durchzusetzen. Es geht um politischen Machterhalt, unabhängig davon, ob die proklamierten Regeln das System erhalten oder nicht.
Die Europäische Zentralbank hat zwar eine ordoliberal geprägte Struktur, musste jedoch ihre Handlungsspielräume maximieren, um möglichst flexibel auf ökonomische Krisen reagieren zu können. In der Eurokrise gipfelte diese Dynamik in der Aussage des EZB Präsidenten Mario Draghi: »Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird genug sein.« Um die Preisstabilität, und implizit den Euro, zu erhalten, maximierte die EZB ihren Handlungsspielraum und beruhigte so die Finanzmärkte. Daran hatte die EZB ein institutionelles Interesse. Sollte der Euro scheitern, würde dies das Ende der EZB selbst bedeuten.
Die Eurorettung war für beide Parteien notwendig. Es handelte sich dabei nicht um Almosen Deutschlands an den Rest Europas. Deutschland profitiert überproportional vom Handels- und Währungsraum und verdiente zudem an den Krediten. Auch die von der EZB angestrebte Absicherung durch TPI ist, sollte sie funktionieren, im Interesse der deutschen Wirtschaftselite. Die Maßnahmen der EZB schützen mittelfristig das aktuelle Wirtschaftssystem, das der überproportional reichen FDP-Wählerschaft nutzt. Gemeinsame materielle Interessen werden jedoch von machtpolitischem Kalkül überschattet, was zu Reibereien führt.
Christian Lindner handelt also gemäß den wirtschaftlichen Vorstellungen seiner Wählerschaft. Das heißt aber nicht, dass die EZB im Gegenzug die wirtschaftliche Stimme der Vernunft verkörpert. Beide Akteure verteidigen den kapitalistischen Status quo – mit verheerenden Folgen für weite Teile der Bevölkerung. Die expansive Politik der EZB lässt Asset-Werte in die Höhe schnellen, was zu Rekorden an Aktienmärkten aber auch bei Wohnraumpreisen führt. Menschen, die für ihr Geld arbeiten müssen und keine Immobilie besitzen, werden im Umkehrschluss ärmer. Jenseits einer expansiven Geldpolitik steht die EZB zudem für Austeritätspolitik ein, die sie auch weit jenseits ihres Mandats politisch durchsetzt. Als Teil der Troika war sie in der Eurokrise für die weitgehende Streichung des griechischen Sozialstaats verantwortlich. Die Ziele von Christian Lindners Politik sind ebenfalls bekannt: Reiche sollen noch weniger besteuert werden während bei den Ärmsten gespart werden soll. Beide Akteure machen schlussendlich Politik, von der Reiche profitieren.
»Die EZB muss verschleiern, dass die monetäre Politik, die sie betreibt, hochpolitisch ist und nicht das Ergebnis mathematisch neutraler Lösungsansätze.«
Die EZB agiert zwar nicht nach einem starren Regelwerk, das bedeutet jedoch nicht, dass ihre zugrunde liegende Theorie evidenzbasiert ist. Die Modelle, die die EZB nutzt, um die Wirtschaft darzustellen, haben die Finanzkrise nicht vorhergesagt. Das hat die Makroökonomie in eine tiefe Sinnkrise gestürzt, von der sie sich bisher nicht erholt hat. Es gibt zahlreiche Probleme in der Theorieproduktion der Zentralbank. Die EZB beruft sich auf hochkomplizierte mathematische Modelle, die nicht funktionieren und ständig angepasst werden. Der Ökonom Paul Romer bezeichnete die Modelle sogar als »post-real«.
Die EZB ist als Institution zentral für die makroökonomische Forschung. Um weiter finanziert zu werden, haben Forschende Interesse daran, im Sinne der EZB Politiken zu erforschen. Das resultiert unter anderem in einer ausgesprochen positiven Bewertung der EZB-Politik und in einer thematischen Verengung. Sogar die aktuelle EZB-Präsidentin Lagarde beklagte den »blinden Glauben« an Modelle, die wenig mit der Realität zu tun hätten. Nach außen muss die EZB jedoch um jeden Preis verschleiern, dass die monetäre Politik, die sie betreibt, hochpolitisch ist und nicht das Ergebnis vollkommen technischer, mathematisch neutraler Lösungsansätze. Denn sonst wäre ihre Unabhängigkeit und somit das gesamte institutionelle Set-Up gefährdet.
Die EZB betreibt diese Art der Krisenverwaltung, um sich selbst und den kapitalistischen Status quo zu schützen. Neutrale Lösungsansätze gibt es letztlich nicht. Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft – alle Verweise auf naturgesetzartige Regeln und mathematische Modelle können daran nichts ändern. Dämlich sind die, die das nicht anerkennen.
Caroline Rübe ist Politökonomin und arbeitet im Konzeptwerk Neue Ökonomie.