22. Oktober 2023
Der in Bulgarien geborene Christian Rakowski gehörte zu jenen Anführern der Russischen Revolution, die aus der Sowjetunion eine echte Partnerschaft der Nationen machen wollten. Als er Stalins Diktatur herausforderte, wurde er auf Grundlage erfundener Vorwürfe angeklagt und hingerichtet.
Christian Rakowski, fotografiert um 1920.
Wikimedia Commons / Krasnaja SvjetopisEs ist nahezu unmöglich, den Aufstieg und Niedergang der internationalen marxistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Schicksal einer einzelnen Person darzustellen. Dennoch steht das Leben von Christian Geogijewitsch Rakowski (1873–1941), wie fast kein anderes, für eine ganze Generation linker Intellektueller, die Teil der sozialistischen Arbeiterbewegung waren. Ein beharrliches Engagement hatte ihre Leben vom Anfang bis zum Ende geprägt.
Rakowski wurde durch seinen Henker Josef Stalin aus der Geschichte getilgt. Sein ganzer Lebensweg steht sinnbildlich für die dramatischen Umwälzungen auf dem eurasischen Kontinent dieser Jahrzehnte: Student, Arbeiter, Antikriegs-Aktivist, politischer Publizist, vielseitiger Autor in verschiedenen Sprachen, Arzt, bolschewistischer Anführer, Chef des jungen ukrainischen Staates, Anführer der Roten Armee, sowjetischer Diplomat, Antifaschist und Antistalinist.
Geboren in Bulgarien, war Rakowski der Zögling einer relativ wohlhabenden Familie, die in den 1860ern aktiv gegen das Osmanische Reich und für die bulgarische Unabhängigkeit gekämpft hatte. Die »nationale Frage« und die sozialen Belange dieser turbulenten Zeit haben sein Denken geprägt. Seine Politisierung führte zum Ausschluss aus dem bulgarischen Bildungssystem, weil der Fünfzehnjährige einen Schülerprotest anführte. Von da an wurden seine Bildung und sein politisches Engagement zunehmend multinational.
Ab 1889 war er in der sozialdemokratischen Bewegung in Bulgarien und Rumänien aktiv. 1891 verließ er Bulgarien Richtung Genf, ein Tummelplatz für linkspolitische Migrantinnen und Migranten. Dort schloss er sich einem sozialistischen Studierendenkreis an und veröffentlichte Texte im bulgarischen Magazin Sozialdemokrat. Er war als Medizinstudent eingeschrieben und mit marxistischen Köpfen wie Friedrich Engels, Georgi Plechanow und Rosa Luxemburg bekannt.
Er wurde bald zu einem produktiven Journalisten und einem energischen politischen Aktivisten. Im Jahr 1893 organisierte er den Zweiten Internationalen Kongress Sozialistischer Studenten und vertrat Bulgarien am Internationalen Sozialistenkongress in Zürich. Drei Jahre später wurde er Delegierter für den vierten Kongress der Zweiten Internationale in London. Das Treffen war geprägt von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Lenin und Luxemburg bezüglich der Frage der nationalen Selbstbestimmung.
Der junge Rakowski hat sich auch als Medizinstudent hervorgetan. Er promovierte 1897 an der Universität Montpellier mit einer provokanten, aber hoch angesehenen Dissertation. In dieser argumentierte er für einen sozioökonomischen Ansatz, um die »Gründe von Kriminalität und Degeneration« zu untersuchen und sprach sich gegen einen anthropologischen Ansatz aus. Seine wahre Berufung war jedoch nicht die Medizin, die er lediglich sechs Monate in der rumänischen Armee praktizierte. Ihn zog es zur Politik – zu einer riskanten noch dazu.
»Deportationen und Inhaftierungen wurden zum festen Bestandteil von Rakowskis Lebenslauf.«
1899 war er gezwungen aus dem zaristischen St. Petersburg zu fliehen, um einer Verhaftung zu entgehen. Er hatte sich dort über die Debatte zwischen den russischen Volkstümlerinnen und Volkstümlern (Narodniki) und den Marxistinnen und Marxisten geäußert. Erstere stützten ihre Hoffnung auf die traditionellen Bauernkommunen, wohingegen letztere die Arbeiterklasse als Träger der Revolution erachteten. Ein Jahr, nachdem er wegen »aufrührerischer Rede« aus der russischen Hauptstadt geflohen ist, reiste er nach Paris, um am Internationalen Sozialistenkongress teilzunehmen.
Einmal dort angekommen, nahm er Kontakt zur serbischen und bulgarischen Sozialdemokratie auf und vertrat diese beim Kongress der Zweiten Internationale in Amsterdam. Im darauf folgenden Jahr machte er sich nach Rumänien auf, wo er România Muncitoare gründete, die Zeitung der Sozialistischen Partei. Zur selben Zeit organsierte er eine Kampagne zur Unterstützung der Matrosen, die während der Russischen Revolution von 1905 auf dem Panzerkreuzer Potemkin gemeutert hatten und dann nach Rumänien geflohen sind.
Deportationen und Inhaftierungen wurden zum festen Bestandteil von Rakowskis Lebenslauf. Die rumänischen Behörden erklärten ihn zum sozialistischen Agitator und machten ihn für die Bauernaufstände verantwortlich, die über das Land gefegt sind. 1907 wurde er deportiert. Es benötigte eine fünf Jahre andauernde Massenkampagne zu seinen Gunsten, bevor ihm die Rückkehr erlaubt wurde.
Er hat die Jahre im Exil nicht verschwendet. Er vertrat die rumänischen Sozialistinnen und Sozialisten bei Kongressen in Stuttgart und Kopenhagen und im Büro der Sozialistischen Internationale bei der ersten Konferenz der sozialistischen Parteien des Balkans in Belgrad 1911. Indem er den Balkan-Krieg (1912–1913) als »niederträchtigen und kriminellen Eroberungskrieg« bezeichnete, demonstrierte er seine Antikriegs-Haltung. Für Rakowski war der einzig legitime Krieg der Klassenkrieg.
Seine erste Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs war zwiespältig. Er hat die Sozialdemokratie der kriegsführenden Länder, die für die Kriegskredite gestimmt hatten, nicht verurteilt. Während er sah, dass Serbien, Frankreich und Belgien von Deutschland und Österreich angegriffen wurden, setzte er sich gemeinsam mit der rumänischen Sozialdemokratie, entgegen der zwei pro-Kriegs Parteien – den Russophilen und den Germanophilen – für die Neutralität Rumäniens ein.
Die Gründung des Union Sacrée in Frankreich, durch den der altgediente Sozialist Jules Guesde Teil der Regierung wurde, der Einfluss der Diskussionen mit seinem Freund Leo Trotzki und die heftige Kritik Lenins haben jedoch Rakowskis Haltung schnell radikalisiert. Er hörte auf, die Neutralität zu propagieren, ging über zur Opposition gegen den imperialistischen Krieg und schloss sich Trotzkis Position eines »Frieden ohne Kontributionen und Annexionen, ohne Sieger und Besiegte« an.
Lenin rief aber dazu auf, »den imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg« umzuwandeln. Er verurteilte das Versäumnis, für dieses Ziel zu kämpfen, als opportunistisches, »kautskyanisches Übel«. Zwischen Rakowski und Lenin gab es starke Spannungen während der Zimmerwalder Antikriegs-Konferenz 1915, bei der Rakowski ein Hauptakteur war.
Rakowski unterstütze das von Trotzki geschriebene Zimmerwalder Manifest. Trotz Bedenken gegen das Manifest – wegen der fehlenden Analyse des Opportunismus und der fehlenden Antwort auf die Frage, wie gegen den Krieg gekämpft werden soll – stimmten Lenin und die Delegierten der Zimmerwalder Linken dem Dokument zu. Sie sahen es als einen Schritt hin zu einem Bruch mit dem sozialdemokratischen Opportunismus.
Bei der Kientaler Konferenz in Bern prahlte Rakowski damit, dass er »auf Lenins Seite« steht. Er lehnte die nationale Einheit während Kriegszeiten ab, unterstützte die Gründung einer Dritten Internationale, um die Zweite Internationale zu ersetzen und sprach sich für die Revolution als Mittel zur Beendigung des Krieges aus. Er war die »am meisten internationalistische Person der revolutionären europäischen Bewegung«, schrieb eine Berner Zeitung.
Nach seiner Rückkehr wurde Rakowski im September 1916 in Rumänien verhaftet. Dies war ein Monat nach dem Kriegseintritt der rumänischen Armee an der Seite der Entente. Die Februar-Revolution von 1917 im zaristischen Russland erwies sich als Rakowskis Rettung. Er wurde am 1. Mai 1917 »im Namen der Russischen Revolution« von einer in Rumänien stationierten russischen Garnison befreit.
Der nun Vierundvierzigjährige begab sich sofort nach der Oktoberrevolution ins revolutionäre Russland und schließ sich Lenins Bolschewiki an. Im Namen des rumänischen Volkes pries Rakowski »den Triumph der Arbeiter- und Bauernrevolution in Russland«. Die Bolschewiki ihrerseits begrüßten ihr neues Mitglied, den »berühmten rumänischen Anführer« und »angesehenen Internationalisten«.
»Rakowski war zunehmend besorgt über die Zunahme der Regierungsbürokratie in der UdSSR, die sowohl die nationale Unabhängigkeit der Republiken als auch die Sowjetdemokratie ersticken würde.«
Die noch junge Sowjetunion wurde von deutschen Truppen bedroht, die im Frühling 1918 die Ukraine besetzten. Rakowski wurde mit der Aufgabe betraut, mit Pawlo Skoropadskyj zu verhandeln, um mögliche Feindseligkeiten zu entschärfen. Dieser wurde, durch einen von Deutschland unterstützen Putsch, zum Staatsoberhaupt der Ukraine, um mögliche Feindseligkeiten zu entschärfen. Die deutsche November-Revolution von 1918 setzte dieser unmittelbaren Bedrohung ein Ende.
In seiner neuen Rolle als Abgesandter der gesamtrussischen Sowjets beim Berliner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte wurde Rakowski vom deutschen Militär gefangengenommen. Nach seiner Freilassung beauftragte Lenin ihn mit einer weitaus herausfordernden Aufgabe. Er wurde zum Anführer der Bolschewiki in der Ukraine gemacht, die zu diesem Zeitpunkt das Hauptschlachtfeld im Bürgerkrieg der Weißen gegen die Rote Armee war.
In diesem Hexenkessel hatte Rakowski mehrere Funktionen für die Bolschewiki inne: Vorsitzender des ukrainischen Sowjets der Volkskommissare, Präsident des Verteidigungsrats, Kommissar für ausländische Angelegenheiten und Mitglied des Politbüros des Kommunistischen Partei (Bolschewiki) der Ukraine (KP(B)U). Aufgrund seines multiethnischen Lebenslaufs, nicht zu vergessen seines Mutes, seiner Energie und seiner politischen Erfahrung, war Rakowski die richtige Wahl für die ihm auferlegten Aufgaben.
Die am 10. März 1919 in Charkiw gegründete Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) wäre fast eine Totgeburt gewesen. Die Rote Armee hatte mit einer ganzen Reihe grausamer Widersacher zu kämpfen, darunter Symon Petljuras Ukrainische Volksarmee, Anton Denikins Weiße Truppen, als auch französische und polnische Interventionisarmeen. Der Verlauf der Schlacht wie die politisch-militärischen Allianzen haben sich einige Male dramatisch verändert. Ebenso die politisch-militärischen Allianzen, bis 1921 der polnisch-sowjetisch Vertrag vom März 1921 [Friedensvertrag von Riga die Kämpfe beendete.
Die sozialen Bedingungen waren 1919–21 zum Nachteil für Rakowskis ukrainische Sowjetregierung. Der brutale Bürgerkrieg, die drakonische Politik der Bolschewiki des »Kriegskommunismus« und die landwirtschaftlichen Requirierungen, haben die Wirtschaft erschüttert und die Bevölkerung verärgert. Das betraf vor allem die Bauernschaft, die 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten und hauptsächlich Ukrainerinnen und Ukrainer waren.
Rakowski hielt nichts vom ukrainischen Nationalismus. Angesichts der seiner Meinung nach »Schwäche und Anämie« des ukrainischen Proletariats verurteilte er die Idee einer unabhängigen Ukraine als gefährliche Zugeständnis an die Konterrevolution und den westlichen Imperialismus. Zu diesem Zeitpunkt lehnte er jegliche ethnografische Unterscheidung zwischen ukrainischen und russischen Menschen ab. Bedenken über die Gefahr einer Russifizierung wischte er beiseite.
Laut Rakowski sei der ukrainische Nationalismus eine künstliche Erscheinung, die von der Intelligenzija geschaffen wurde. Aus seiner Sicht waren die Imperative des Klassenkampfs und der internationalen sozialistischen Revolution entscheidend. Er bezeichnete den ukrainisch-revolutionären Kampf als »den entscheidenden Faktor in der Weltrevolution«.
Mit Ende des Bürgerkriegs, der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) im März 1921 und den Verhandlungen zur Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) 1922–23 hat sich Rakowskis Blick auf den ukrainischen Nationalismus grundlegend verändert. Im Laufe dieser Diskussionen geriet er mit Stalin aneinander, der entschlossen war, eine zentralisierte UdSSR zu schaffen, in der mit Russland die größte Republik dominant sein sollte. Stalin ignorierte die Befürchtungen des sterbenden Lenin bezüglich der Rückkehr der großrussischen Vorherrschaft.
Als Chef der Sowjetukraine setzte sich Rakowski vehement für eine föderale Gleichstellung der Gründungsrepubliken der UdSSR (Ukraine, Russland, Belarus und Transkaukasien) ein. Er verurteilte Stalins »Sackgasse des Zentralismus« und seine »Kaltschnäuzigkeit« gegenüber Nichtrussen und -Russinnen und bäuerlichen Nationalitäten als eine Gefahr für die »Sowjetmacht«.
Der neue sowjetische Anführer siegte schlussendlich über Rakowski in dieser Frage: Während Stalin formell das Prinzip der sowjetischen Föderation gleichgestellter Nationen akzeptierte, begann er in Wahrheit eine hyperzentralisierte UdSSR mit Moskau an der Spitze zu schaffen. Stalin hat Rakowski nie vergeben und ließ ihn im Juli 1923 als Chef der ukrainischen Regierung absetzen.
Rakowski wurde zum sowjetischen Botschafter im Vereinigten Königreich (1923–25) ernannt und anschließend zum Botschafter in Frankreich (1925–27). Er schrieb Stalin, dass diese Beförderungen lediglich eine Ausrede sein, »um mich von meiner Arbeit in der Ukraine zu vertreiben«. Das war nicht Rakowskis letztes Mal im Exil.
Rakowski war zunehmend besorgt über die Zunahme der Regierungsbürokratie in der UdSSR, die sowohl die nationale Unabhängigkeit der Republiken als auch die Sowjetdemokratie ersticken würde. Kurz bevor er als Chef der ukrainischen Regierung entfernt wurde, warnte Rakowski vor dem Aufstieg eines »separaten Stands von Beamten, die ihr Schicksal mit der Zentralisierung selbst verbanden«.
Rakowskis Opposition zu Stalins Projekt der Zentralisierung trieb ihn dazu, die von Trotzki angeführte Linke Opposition zu unterstützen, der er sich im August 1927 öffentlich anschloss. Kurz darauf erklärten die französischen Behörden Rakowski zur unerwünschten Person in ihrem Land, woraufhin er in die UdSSR zurückkehrte. Sofort schloss er sich der Kampagne der Linken Opposition im Vorfeld des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution und dem Allunionskongress der Kommunistischen Partei an, der im Dezember 1927 stattfinden sollte.
Während dieser Zeit sprach Rakowski bei Fabrik- und Parteitreffen, insbesondere in der Ukraine, trotz der Schikanen und des unverblümt rücksichtslosen Vorgehens von Stalins Regime. Er wurde alsbald im Dezember 1927 aus dem Zentralkomitee der Sowjetischen Kommunistischen Partei, dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen und schlussendlich auch aus der Kommunistischen Partei selbst ausgeschlossen.
Im Nachgang der Niederlage der Linken Opposition wurde Rakowski verhaftet und nach Südrussland und Sibirien verbannt. Während seines Exils vertiefte er seine Überlegungen über die stalinistische Bürokratisierung in der bahnbrechenden Analyse mit dem Titel »Die Ursachen der Entartung von Partei und Staatsapparat«, die 1929 im geheimen Blatt der Linken Opposition erschien. Laut seinem Biografen Pierre Broué, war dies »der erste ernsthafte Versuch der Opposition, sich historisch und theoretisch mit dem Phänomen der bürokratischen Entartung auseinanderzusetzen«.
»Der Krieg und die schrecklichen ökonomischen Bedingungen hatten ihren Tribut verlangt. Rakowski glaubt aber den Hauptfehler darin zu sehen, dass die kommunistische Partei es verpasst hatte, die neu entstandene Arbeiterklasse im Sinne des sowjetischen Sozialismus zu erziehen.«
Seine Arbeit ist eine eingehende Analyse der Degenerierung und der Bürokratisierung der kommunistischen Partei und des sowjetischen Staates. Rakowski beginnt seine Ausführung mit der Passivität und der Entpolitisierung der sowjetischen Arbeiterklasse. Er argumentiert, dass diese Klasse nicht dieselbe soziale Kraft gewesen sei, die im Oktober 1917 die Macht übernommen hatte. Der nachrevolutionären Arbeiterklasse war nicht die Feuertaufe widerfahren, die sie zuvor vereinigt und zur Revolution geführt hatte.
Der Krieg und die schrecklichen ökonomischen Bedingungen hatten ihren Tribut verlangt. Rakowski glaubt aber den Hauptfehler darin zu sehen, dass die kommunistische Partei es verpasst hatte, die neu entstandene Arbeiterklasse im Sinne des sowjetischen Sozialismus zu erziehen. Diesen Fehler schreibt er dem Bankrott der Partei und der Staatselite zu, deren privilegierte Lebensverhältnisse weit von denen der Arbeiterklasse entfernt gewesen seien:
»Wenn eine Klasse zur Macht kommt, wird ein Teil dieser Klasse der Vertreter dieser Macht. Dadurch entsteht Bürokratie. In einem sozialistischen Staat, wo die Kapitalakkumulation durch die Mitglieder der herrschenden Partei verboten ist, ist diese Unterscheidung zunächst nur eine funktionale; später wird sie eine soziale. […] Bestimmte Funktionen, die vorher durch die gesamte Partei bereitgestellt wurden, von der Klasse als Ganzes, sind nun zu Attributen der Macht geworden, das heißt, nur für eine bestimmte Anzahl Personen in der Partei und dieser Klasse.«
Das Ergebnis war ein »Machtrausch«, schreibt Rakowski, den französischen Anführer der Revolution Maximilien Robespierre zitierend. Als Heilmittel für dieses Problem soll die Linke Opposition vorschlagen, den Parteiapparat gründlich zu säubern und die Parteimitglieder sowie die breite Bevölkerung umzuerziehen.
Rakowski deutet bescheiden an, dass dies lediglich eine vorläufige Analyse der Schieflage der Revolution sei. Dennoch hatte sein Verbündeter Trotzki das Essay enthusiastisch gepriesen und drängte darauf, es so weit wie möglich zu streuen. Später bildete es den Ausgangspunkt von Trotzkis eigener berühmten, antistalinistischen Abhandlung Verratene Revolution, die 1936 veröffentlicht wurde.
Die Ausschlüsse aus der Partei, Exil und die brutalen Inhaftierungen haben den bolschewistischen Oppositionellen schwer zugesetzt. Einige wollten in den Schoß der Partei zurückkehren, insbesondere nachdem Stalin ab 1928 einige ihrer wichtigsten politischen Ansätze übernommen hatte, wie zum Beispiel die beschleunigte Industrialisierung. Für sich lehnte Rakowski eine »Kapitulation« auf Grundlage partieller Zugeständnisse Stalins an die Oppositions-Plattform ab. Er verlangte eine vollständige Wiederherstellung der Demokratie in der Partei, den Sowjets und den Gewerkschaften.
Nachdem Trotzki im Januar 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde, sah man Rakowski als Anführer der Linken Opposition im Land an. Trotz der Isolation und des sich verschlechternden Gesundheitszustandes schrieb Rakowski 1929–30 einige unverblümte Erklärungen direkt an das Zentralkomitee, in denen er die notwendigen Vorbedingungen darlegte, unter welchen die Opposition wieder am politischen Leben teilhaben könnte. Das von Rakowski verfolgte Hauptziel war eine umfassende Demokratisierung.
»Internationalismus und partizipative Demokratie haben Rakowskis Sozialismus ausgemacht. Das drückte sich nicht nur in seinem Bekenntnis zur Oktoberrevolution aus, sondern auch in seiner unbeirrbaren Entschlossenheit, diese Prinzipien bis zum Ende zu wahren.«
Faktisch waren diese Erklärungen Annäherungsversuche für eine Wiederaufnahme in die Partei, sowie ein Aufruf zu einer Allianz mit Stalins »gemäßigter« Fraktion gegen Persönlichkeiten der »Rechten« wie Nikolai Bucharin. Diese Herangehensweise löste bei einigen Oppositionellen Besorgnis aus, inklusive Trotzki, der Rakowski seine Vorbehalte heimlich mitteilte.
Dennoch sind Rakowskis Erklärungen kompromisslose und wütende Kritiken der »Autokratie des Apparats« und der »gewaltsamen« politischen Repression, die dieser betrieben hatte. Ein Kommuniqué verlangt provokativ die »Abschaffung des Postens des Generalsekretärs« – der Position, die Stalin selbst innehatte.
Stalins Vorstellung von einem »Sozialismus in einem Land«, die aufgezwungene landwirtschaftliche Kollektivierung und Industrialisierung sowie der großrussische bürokratische Zentralismus, der die nationalen Republiken der UdSSR erdrückte, wurden von Rakowski und seinen Mitunterzeichnenden bloßgestellt. Sie betonten die Notwendigkeit, die »Partei- und Arbeiterdemokratie« wiederherzustellen und die erloschene »revolutionären Initiative der Massen« wiederzubeleben.
Schlimmeres sollte kommen. Am 23. Februar 1934 veröffentlichte die russische Zeitung Izvestiia den Text von Rakowskis Kapitulation gegenüber der Partei. Als Grund für die Unterstützung von Stalins Herrschaft wies er auf die Machtübernahme der Nazis einige Wochen zuvor hin: »Konfrontiert mit dem Aufstieg der internationalen Reaktion, die sich letztendlich gegen die Oktoberrevolution richtet, betrachte ich es als Pflicht eines bolschewistischen Kommunisten, sich vollständig und ohne zu Zögern der allgemeinen Linie der Partei unterzuordnen.«
Rakowskis Kapitulation war ein vernichtender Schlag für die angeschlagene Linke Opposition und Trotzki persönlich: »Rakowski war nahezu mein letzter Kontakt zur alten revolutionären Generation,« schrieb er in seinem Tagebuch, »nach seiner Kapitulation ist keiner mehr übrig.« Jedoch verurteilte er Rakowski nicht persönlich, sondern machte den außerordentlichen politischen Druck verantwortlich, dem er erlag: »Man kann sagen, dass Stalin Rakowski mit [Adolf] Hitlers Hilfe bekommen hat.«
Vier Jahre später, im März 1938, wurde Rakowski auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors, beim dritten Moskauer Schauprozess gegen die alten Bolschewisten, als Mitglied des sogenannten »trotzkistischen Zentrums« angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, mit ausländischen Geheimdiensten konspiriert zu haben, um die Sowjetregierung zu stürzen. »Der alte Kämpfer, vom Leben gebrochen,« schrieb Trotzki, als er von den Anschuldigungen hörte, »geht unaufhörlich seinem Schicksal entgegen.«
Und so kam es, wenngleich Rakowskis Exekution erst am 11. September 1941 stattfand. Aufgrund von »Täuschung, Erpressung, psychologischer und psychologischer Gewalt« hat Rakowski erfundene Verbrechen gestanden, heißt es in einer Resolution des Obersten Sowjets vom April 1988, mit der Rakowski posthum rehabilitiert und wieder in die Kommunistische Partei aufgenommen wurde.
Rakowskis Lebensweg fiel mit der heroischsten Periode der internationalen, marxistischen Arbeiterbewegung sowie ihrer Niederlage im zwanzigsten Jahrhundert zusammen. Sie wurde zwischen dem faschistischen Hammer und dem stalinistischen Amboss zerschlagen. Die Auswirkungen verfolgen uns auch weiterhin, nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit.
Rakowskis Vermächtnis ist beides, historisch und gegenwärtig. Beeinflusst vom Hexenkessel der Balkankriege und der Katastrophe des Ersten Weltkriegs geben seine Werke einen umfassenden Einblick in die Befindlichkeiten der nationalen Unterdrückung und die Gefahren eines nationalen Chauvinismus, wenn sie von kriegerisch–räuberischen imperialen Mächten missbraucht werden. Internationalismus und partizipative Demokratie haben Rakowskis Sozialismus ausgemacht. Das drückte sich nicht nur in seinem Bekenntnis zur Oktoberrevolution aus, sondern auch in seiner unbeirrbaren Entschlossenheit, diese Prinzipien bis zum Ende zu wahren.
Roger Markwick ist Ehrenprofessor für moderne europäische Geschichte an der Universität von Newcastle, Australien.