17. August 2025
Welche Architektur ist emblematisch für den Neoliberalismus? Der Historiker Christian Welzbacher zeigt, welche Räume in einer Gesellschaft entstehen, die nicht nur Elend hervorbringt, sondern dieses Elend auch noch profitabel macht.
Bauarbeiten am Grenzzaun zu Mexiko in El Paso, Texas, 12. August 2025.
Wenn über neoliberale Architektur und Stadtplanung gesprochen wird, geht es meist um Gentrifizierung oder um wuchernde Glaspalast-Skylines in den globalen Metropolen, wo die steigenden Bodenpreise die Bauten in die Höhe schießen lassen, während sie gleichzeitig Ausdruck von extrem konzentriertem Reichtum und Macht sind. Diese Entwicklungen sind Ergebnis einer Politik, die in den letzten Jahrzehnten viele Regulierungen für den Wohnungsmarkt aus der Nachkriegszeit beendete. Dazu zählen effektive Mietpreisbegrenzungen oder sozialer beziehungsweise kommunal verwalteter Wohnraum. Privatisierungen von öffentlichen Liegenschaften und Immobilien wurden zum Einfallstor einer investorengerechten Stadt, bei der Wohnen zunehmend kommerzialisiert wurde.
Auch in Deutschland drängten seit Ende der 1990er Jahre internationale Immobilienfonds und Investmentgesellschaften auf den Wohnungsmarkt. Globale Player wie Cerberus (verbunden mit der Bank Goldman Sachs), Deutsche Annigton (einem Ableger des Immobilientrusts Terra Firma, Teil der Citigroup) oder der Großinvestor Deutsche Wohnen (1999 von der Deutschen Bank gegründet) kauften mit Milliardensummen riesige Bestände oder ganze Wohnungsunternehmen auf. Die Auswirkungen lassen sich heute überall beobachten. In vielen Innenstädten ist bezahlbarer Wohnraum für die allgemeine Bevölkerung extrem knapp geworden, wenn er nicht gänzlich verschwunden ist.
Doch die neoliberale Wende hat noch einen anderen Effekt auf Architektur und Raumplanung gehabt. Diesem wendet sich der Historiker Christian Welzbacher in seinem Buch Mauern, Lager, Slums. Grundzüge eines neoliberalen Raumregimes zu. Es ist das große Verdienst des Buchs, die Architektur des Elends, die Ablagerungslogik für das globale Flucht- und Wohnprekariat ins Rampenlicht gestellt zu haben.
Welzbacher lenkt dabei den Fokus auf Flüchtlinge und Migranten und fragt, was mit ihnen passiert, wenn sie ihre Heimat verlassen müssen, tausende Kilometer hinter sich bringen und dann versuchen, irgendwo Asyl und Schutz zu erlangen. Wie wird mit ihnen umgegangen, was erwartet sie, wo werden sie untergebracht? Was besagt diese Architektur über die Gesellschaften, in denen sie entstehen?
»Allein die Zahlen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen sowie die Kaskade an Kriegen zeigen, wie sehr sich die Dimension des Problems ausgeweitet hat.«
Was er dabei vorfindet, ist die Blaupause eines neoliberalen Raumregimes, das die Ohnmächtigen, Elenden und Armen kaserniert, überwacht, marginalisiert. Diese Architektur der Mauern, Lager und Slums sind dabei der extremste Ausdruck für ein Phänomen der kapitalistischen Moderne, bei dem Bauplaner, Architekten, Sicherheitsfirmen und Investoren vom Elend profitieren. Und das global.
Drei Phasen durchziehen dabei die Analyse: vom Krieg im Globalen Süden geht es über die Transitzonen der Flucht bis zur Abwehr durch Sperranlagen und der Konzentrierung der Geflüchteten in Auffanglagern und Massenunterkünften. Dabei richtet Welzbacher das Augenmerk auf die jeweiligen Infrastruktur-Ökonomien, die sich über die Jahrzehnte hinweg herausgebildet haben.
Allein die Zahlen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen – heute sind es 123 Millionen gewaltsam Vertriebene, vor zehn Jahren waren es noch rund 60 Millionen – sowie die Kaskade an Kriegen zeigen, wie sehr sich die Dimension des Problems ausgeweitet hat. Zugleich habe sich auch die Flucht-Ökonomie gewandelt, so Welzbacher. Private Projektentwickler hätten mehr und mehr das Ruder übernommen, wenn es um die Entwicklung von Auffanglagern in Krisengebieten, Abschreckungsanlagen und Asylunterkünften gehe. Staaten, Länder und Kommunen seien kaum noch als Bauherren aktiv. Und mit der Übernahme der privaten Akteure kamen die Missstände: »Überteuerung, Erpressung, Verwahrlosung, Outsourcing, Steueroptimierung, Briefkastenfirmen, organisierte Verantwortungslosigkeit, politische Geheimhaltung sind ständig wiederkehrende Themen.«
Ein Beispiel »ausgelagerter Verantwortung« für die Versorgung der Wohnungslosen, das Welzbacher anführt, ist die Realisierung von Flüchtlingsunterkünften in der deutschen Hauptstadt. Architekten, Projektentwickler, Bauingenieure und -firmen mit guten Kontakten in die Landespolitik nutzten ausgiebig das »Saisongeschäft« mit den Geflüchteten. Projekte wurden in intransparenten Public-Private-Partnerships realisiert, wobei Paketlösungen von der öffentlichen Hand erworben oder gänzlich von privaten Firmen umgesetzt wurden.
So schloss der Immobilienunternehmer Wolfgang Penz schon in den 1990er Jahren, als im Zuge der Jugoslawienkriege Menschen nach Westeuropa flohen, mit dem Berliner Senat Verträge für 4.000 Betten in Massenunterkünften ab, die ihm nach eigenen Angaben pro Jahr 12 Millionen D-Mark einbrachten. Auch heute mischt der gut verdrahtete Projetentwickler weiter bei Flüchtlingsheimen mit. Die Profitmethode ist die gleiche wie vor dreißig Jahren: satte Einnahmen mit Schrottimmobilien inklusive Baumängeln und Überbelegung für die Schutzsuchenden, wobei er die Firma schnell für insolvent erklärte, um nicht für die Schäden aufkommen zu müssen. Die Steuerzahler dürfen dank des Berliner Immobilienfilzes dann für die Sanierung aufkommen.
Aber auch die Erzeugung von Fluchtursachen ist ein lukratives Geschäft, nicht nur für Rüstungsunternehmen wie den deutschen Waffenhersteller Rheinmetall. So legt unter anderem der jüngste UN-Bericht der Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas, Francesca Albanese, dar, wie 48 Unternehmen von Logistikern über IT-Konzernen bis zu Finanzinstituten mit ihren Produkten und Dienstleistungen am israelischen Völkermord im Gazastreifen beteiligt sind.
»Architekten, Projektentwickler, Bauingenieure mit guten Kontakten in die Landespolitik nutzten ausgiebig das ›Saisongeschäft‹ mit den Geflüchteten.«
In Palästina zeigten sich dabei die Umrisse eines geostrategischen, durchmilitarisierten Raumregimes, so Welzbacher in Anlehnung an die Studie des britisch-israelischen Architekten Eyal Weizman mit dem Titel: »Hollow Land. Israel’s Architecture of Occupation«. Man habe die öffentlichen Räume und Landschaften »als antizipierte Kampfzonen vollkommen ausgehöhlt«. Unter Mithilfe von Architekten sei eine Art »totalitärer Idealstaat des ›militärisch-industriellen Komplexes‹« vorangetrieben worden. Das Ergebnis sei eine »gebaute Postapokalypse, in der Mauern, Lager und Slums zu konstituierenden Elementen der planerischen Gestaltung des staatlichen Gemeinwesens gehören«.
Das Buch bleibt aber nicht beim Einzelfall stehen, sondern sieht in militarisierten Sperrzonen allgemeinere Tendenzen wirken. So finde man innerhalb nationalstaatlicher Rahmen »ungewöhnliche Rechtsräume, anormale Territorien und eigentümliche Zuständigkeitsbereiche« wie Steueroasen, Enklaven, Freihäfen, Zollfreibezirke, Briefkastenfirmen, künstliche Inseln, Flüchtlingsstädte, abseits der normalen Regulierungen und menschenrechtlichen Verpflichtungen.
Im autoritären Fahrwasser versuche man nun nicht nur den Raum nach außen nationalistisch abzuschirmen, sondern auch nach innen aufzuspalten. Im Dunstkreis des Wagniskapitalgebers und Trump-Anhängers Peter Thiel (PayPal, Palantir) wird etwa über Privatstädte für Superreiche gesprochen. Während die US-Regierung den modernen Staat aushöhlt, zirkulieren in den USA Ideen, ihn komplett zu zerschlagen und die Souveränität zu dezentralisieren – wobei am Ende nur noch eine Art Netzwerk von privaten Enklaven beziehungsweise modernen Lehensgütern entstehen würde, in die man sich »einkaufen« kann wie in eine Gated Community. Der reaktionäre Blogger und US-Philosoph Curtis Yarvin, auf den sich Vize-Präsident JD Vance immer wieder bezieht, nennt sie »sovcorps« – ein Portemanteau aus den Begriffen »sovereignty«, also Souveränität, und »corporations«, also Konzernen.
Gleichzeitig wachsen an der gesellschaftlichen Peripherie die Slums weiter, die Zonen »informellen« Wohnens und Lebens der Elenden, oft Orte für Geflohene und Wohnungslose, von denen sich die Gesellschaft mit Mauern abschirmt. Das ist längst kein Problem mehr des Globalen Südens, wie Welzbacher betont. In den USA, aber auch zunehmend in Europa wuchern die informellen Lebensräume. Auch wenn für den EU-Raum kaum offizielle Daten erhoben werden, geht man davon aus, dass etwa allein in Österreich 350.000 Menschen in Slums wohnen – das sind 4 Prozent der Bevölkerung. Die Deutsche Welle stellt in einem Bericht fest, dass insgesamt über 30 Millionen Europäer Slumbewohner sind.
Die Ausgegrenzten sind dabei nicht einmal in ihren Slums vor weiterer Ausgrenzung sicher. Das Buch führt den Stadtteil Sadr City in Bagdad als Beispiel an. Während der US-Invasion in den Irak ab 2003 besetzten amerikanische Streitkräfte die Stadt. Das zentrumsnahe Viertel, Ort verarmter und unterdrückter Schiiten, verwahrloste unter dem Druck der Besatzung immer weiter, wobei sich der Unmut über die erodierenden Lebensverhältnisse in Widerstand gegen die Okkupation ausdrückte. Das US-Militär reagierte 2007 mit Abriegelung, Checkpoints, Überwachung und Ausgangskontrollen. Ein Jahr später kam es zum Aufstand, was einen Häuserkampf nach sich zog, dem der Flächenabriss folgte.
2010 erhielt ein türkischer Generalunternehmer den Auftrag für den Neubau von Sadr City als »Gartenstadt« für die Reichen. Investitionsvolumen: 10 Milliarden Dollar. »Gentrifizierung durch Bomben« nennt das Welzbacher. Die »Säuberung« des Bagdader Stadtviertels im Zuge von Häuserkampf und Militärbesatzung zeigt zugleich, an welche Vorbilder Israels aktuelles Vorgehen im Gazastreifen anknüpfen kann. Der »Riviera-Plan« von US-Präsident Donald Trump für die zerstörte palästinensische Enklave wirkt wie eine Kopie des Gartenstadt-Projekts für Sadr City.
»Unternehmen haben längst erkannt, dass Zerstörung ein lukratives Geschäft ist. Ein Beispiel dafür ist der britische Konzern Serco, der die ganze Wertschöpfungskette von Kriegen und ihren Folgen für sich ausschöpft.«
Das Buch dokumentiert eindrücklich, wie weit die intellektuelle Komplizenschaft der Architektenzunft im Dienst kriegerischer Operationen zurückreicht. So habe der Architekturtheoretiker Fronçois Blondel bereits im 17. Jahrhundert die perfide Verwertungslogik von Zerstören und Bauen im Anschluss an den antiken Theoretiker Vitruv propagiert. Als Angriffskrieger entwarf Blondel in einer seiner Schriften effiziente Bomben, als Stratege der Verteidigung in einer anderen die optimale Belagerungsarchitektur gegen Angriffe.
Unternehmen haben im Geist Blondels heute längst erkannt, dass Zerstörung ein lukratives Geschäft ist. Ein Beispiel dafür ist der britische Konzern Serco, der die ganze Wertschöpfungskette von Kriegen und ihren Folgen für sich ausschöpft. Einerseits ist das Unternehmen, das in den 1940er Jahren als Teil des »militärisch-industriellen Komplexes« Großbritanniens erfolgreich wurde, bis heute mit dem Kriegsgeschäft verbunden: Es stellt die Logistik von Waffenlieferungen bereit, setzt Söldnertruppen ein und trainiert Militärpersonal. Andererseits hält es auch für diejenigen, die vor den Kriegen fliehen, Dienstleistungen parat. So betreibt der Konzern in Europa Flüchtlingsheime – seine in Essen angesiedelte Tochterfirma European Homecare (EHC) verwaltet in Deutschland allein 55.000 und in anderen EU-Ländern 80.000 Asylsuchende. Zudem bietet das Unternehmen Integrationskurse für Flüchtlinge an und betreibt Gefängnisse, während es auch an der Organisation von Abschiebungen verdient.
Im Hintergrund arbeitet dabei die neoliberale Verwertungsmaschine des Elends abseits öffentlicher Aufmerksamkeit und reibungslos: die geheime Vergabe von Aufträgen, um die inhumane Abschottungsmauer rund um die spanische Enklave Melilla aus Imagegründen für die beteiligten Firmen zu verschleiern, oder die EU-Schreibtischtäter, beflissenen Architekten und das auf endlose Lagerverwaltung reduzierte Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die die Verdrängung und Verwaltung des Elends zum Status quo erheben – und damit normalisieren.
Welzbachers Buch verdichtet sich zu einem aufrüttelnden Kaleidoskop, das die Heuchelei der westlichen Welt, insbesondere Europas, vor dem Hintergrund von Kriegen und Massenflucht aus unterschiedlichsten Perspektiven ins Visier rückt.
Er legt dabei gekonnt den Finger in die Wunde und liefert eine Art Architekturführer von unten. Die Bauten der Ausgrenzung, Abschottung und Ablagerung für die entwerteten »Bullshit-Menschen« werden dabei als Marker für einen moralischen Niedergang dekodiert. Welzbachers Bilanz: »Mauern, Lager und Slums kennzeichnen den petrifizierten, architekturgewordenen Endzustand einer in sich zerstörten gesellschaftlichen Ordnung ohne Moral.« Eine solche Gesellschaft sei »(m)oralisch gescheitert, weil sie die proklamierten Standards der Menschenrechte schändet … Innerlich gescheitert, weil sie soziale Spaltung institutionalisiert, statt das gemeinschaftliche Projekt sozialen Fortschritts durch Ausgleich zu verfolgen. Politisch gescheitert, weil sie sich als unfähig erweist, ihre Probleme konstruktiv zu lösen, und sie stattdessen auf die Betroffenen selbst abwälzt.«
Bleibt die Frage: Gibt es Auswege aus der Mechanik neoliberaler Inwertsetzung des Elends? Das Buch ist, was die aktuelle Lage angeht, eher skeptisch. Es erzählt vom bürgerschaftlichen Engagement von Architekten und Raumplanern in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16. Die Ambition, Menschen angemessen unterzubringen, blieb aber weitestgehend politisch folgenlos. Welzbacher will seine Leserinnen und Leser offensichtlich nicht mit beruhigenden Heftpflastern und abstrakten Lösungen in die Realität entlassen. Er gibt ihnen am Ende vielmehr einen umfassenderen Auftrag mit: Um Raum für echte Lösungen zu schaffen, muss der Geist des Neoliberalismus überwunden werden.
David Goeßmann ist Journalist und Buchautor. Er hat für verschiedene Medien gearbeitet, darunter Deutschlandfunk, Spiegel Online, ARD und ZDF. Seine Artikel erscheinen unter anderem bei »Truthout«, »Common Dreams«, »CounterPunch«, »The Progressive« sowie bei »Telepolis« und »Junge Welt«. In seinen Büchern analysiert er Klimapolitik, internationale Beziehungen, globale Gerechtigkeit und die Medienberichterstattung.