01. Mai 2023
Der Soziologe Claus Offe ist einer der renommiertesten Analysten kapitalistischer Gesellschaften weltweit. Im JACOBIN-Interview spricht er über die Zukunft von Arbeit und Wohlfahrtsstaat, über die Fallstricke der Arbeitszeitverkürzung und über das falsche Freiheitsversprechen von Arbeitsverträgen.
Claus Offe veröffentlichte 1973 die »Strukturprobleme des kapitalistischen Staates«.
Claus Offe ist einer der wichtigsten politischen Soziologen der Nachkriegszeit. Seine Studien zu Strukturproblemen im Spätkapitalismus sowie seine jüngeren Interventionen zur europäischen Politik sind maßgebend für soziologische Aufklärung und linke Politik. »Ihre kritische Funktion ist es, die die Soziologie interessant macht«, schreibt Offe in einem seiner berühmtesten Aufsätze. In einem hier wieder abgedruckten Gespräch sprach Sozialwissenschaftlerin Maya Razmadze mit Offe über die Widersprüche kapitalistischer Arbeit, über das ambivalente Verhältnis von Kapitalismus und Sozialstaat und die Zukunft der Arbeitsgesellschaft.
Die Philosophin Hannah Arendt zeigt, dass es ein spezifisches Merkmal der Moderne war, die Arbeit als menschliche Grundtätigkeit aufzuwerten. Zugleich beklagt sie, dass dies im vergangenen Jahrhundert dazu geführt habe, dass sich die Gesellschaft als Ganze in eine »Arbeitsgesellschaft« verwandelt habe. Auch Sie haben in Ihren Arbeiten von einem »arbeitszentrierten Gesellschaftsmodell« gesprochen. Wodurch zeichnet sich diese Gesellschaft aus?
Das hat niemand besser dargestellt als Max Weber. Er zeigt, wie es heute zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit geworden ist, dass voll funktionierende Menschen Berufsmenschen sind. Also Menschen, die lebenslänglich und ohne Alternative eine Berufstätigkeit ausüben – eine Berufstätigkeit, die sich im Rahmen von Arbeitsverträgen abspielt. Eine solche Festlegung auf Erwerbsarbeit wäre akzeptabel, wenn wirklich jeder und jede zu jeder Zeit und mit einer gewissen Verlässlichkeit und Sicherheit die Chance hätte, eine solche Erwerbsarbeit tatsächlich zu erwerben und die Rolle des Arbeitnehmers zu übernehmen. Das ist aber nicht der Fall, weil aus konjunkturellen und sekundären Gründen immer mehr ungewiss wird, dass man gegen Geld arbeiten kann. Es hängt von Umständen ab, die der Arbeitnehmer selbst nicht zuverlässig kontrollieren kann. Selbst wenn der potenzielle Arbeitnehmer alles tut, um die eigene Arbeitskraft zu qualifizieren und damit für potenzielle Vertragspartner attraktiver zu machen, werden alle anderen das auch tun. Dann gilt der schöne Spruch: »Wenn alle auf den Zehenspitzen stehen, kann keiner besser sehen«.
Zu dem kommt die Abwertung von Arbeit außerhalb der Erwerbssphäre: Wer im fortgeschrittenen Kapitalismus keine Erwerbsarbeit erbringt, ist minderwertig, und zwar im wörtlichen Sinne. Er oder sie kann es sich nicht leisten, an der gesellschaftlichen Produktion in gleichem Maße teilzuhaben, befindet sich oft in einer Abhängigkeitsbeziehung vom Ehegatten oder von anderen Familienmitgliedern. Reproduktionsarbeit, Erziehungsarbeit, Kinderarbeit und so weiter ist natürlich auch Arbeit, aber eben oft nicht Erwerbsarbeit. Diese Tätigkeiten werden nicht bezahlt und führen nicht zu Geldeinkommen. Die Nobilisierung der Erwerbsarbeit, also ihre Hervorhebung als zentrale oder gar alleinige Quelle von Auskommen und Lebenssinn, ist ein durchgängiger kultureller Zug unserer Gesellschaft.
Sie erwähnen schon die Rolle von Arbeitsverträgen. Einige Ihrer Studien beschreiben, wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Vertragsverhältnissen zwar formal gleichgestellt sind, sich in der Realität aber in einem Herrschaftsverhältnis befinden. Können Sie das erläutern?
Eine vertragliche Beziehung bedeutet, dass sie formell freiwillig eingegangen wird und nicht etwa in feudalen Abhängigkeitsverhältnissen stattfindet, in die man hineingeboren wird. Ein Vertrag ist eine übereinstimmende Willenserklärung von formal freien und gleichen Parteien; und sobald der Wille nicht mehr da ist, kann der Vertrag gekündigt werden. Was für mich interessant ist und Marx glasklar herausstellt, ist, dass dieser formell freie Vertrag eigentlich auf einer Machtbeziehung beruht. Damit ist eine Beziehung gemeint, in der eine Seite stärker von der anderen abhängig ist, als die andere. Denn die schwächere Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat ja gar nicht die Option, solche Verträge nicht einzugehen. Der Freiheit des Vertragsabschlusses steht also eine Realität asymmetrischer Abhängigkeit entgegen.
Eine weitere Besonderheit des Arbeitsvertrages ist, dass er ein Doppeleigentum begründet: Der Arbeitgeber, als Käufer der Arbeitskraft, hat einen vertraglichen Anspruch darauf, aus der Arbeit der Arbeitnehmer Nutzen zu ziehen. Andererseits gehört die Arbeitskraft dem Arbeiter, der seine intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten einbringen muss. Der Arbeiter muss nicht nur arbeiten müssen, sondern auch arbeiten wollen. Wenn er dies nicht will, dann darf er sanktioniert werden. Es besteht also neben der asymmetrischen Abhängigkeit auch ein innerbetriebliches Herrschaftsverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, das durch das Direktionsrecht zum Ausdruck kommt.
»Es gibt eine doppelte Machtbeziehung: ein Machtverhältnis auf dem Arbeitsmarkt und ein Machtverhältnis in der Arbeitsorganisation.«
Deshalb spreche ich von einer doppelten Machtbeziehung: Es gibt ein Machtverhältnis auf dem Arbeitsmarkt und ein Machtverhältnis in der Arbeitsorganisation. Zum einen stehen Arbeitnehmerinnen de facto unter einem Zwang zum Abschluss eines Arbeitsvertrages – das ist die ungleiche Ausgangssituation. Und zum anderen sagt der Boss den Arbeitern, je nach Auftragslage, was heute getan werden muss.
Die Kritik daran findet sich übrigens nicht nur bei Marx, sondern auch bei Max Weber. Er beschreibt, wie die Tatsache, dass der Berufsmensch die Pflichten des Arbeitsvertrags gewissenhaft erfüllen muss, zu einer vollkommenen „Fellachisierung“ des Geistes führen kann, eine geistlose und sinnlose Routine des Vollzugs der Arbeitsaufgaben, eine vollkommene Sinnentleerung. Er muss eben funktionieren und hat keine Alternative dazu. Da sind sich die Webersche Formulierung und die Marxsche Wendung des Begriffs der Entfremdung durchaus nahe.
Zudem ergeben sich aus dieser ungleichen Lage auch Konflikte.
Genau. Die ganze Dynamik des Klassenkonflikts kann letztlich aus diesem Herrschaftsverhältnis verständlich gemacht werden. Die Arbeitskraftanbieter versuchen, das Machtverhältnis einzuebnen, das sie in eine Abhängigkeits- und Unterlegenheitsposition bringt, indem sie sich kollektiv organisieren – in den Gewerkschaften. Denn auf die Arbeitskraft als Ganze sind die Arbeitgeber natürlich ebenso angewiesen wie die Arbeitnehmer auf ihr Gehalt. Die Gewerkschaften versuchen so, die strukturelle Entmächtigung der schwächeren Seite rückgängig zu machen oder zumindest zu modifizieren. Die Arbeitgeber dagegen wollen ihre überlegene Stellung sichern und ausbauen. Das ist ein ständiges Mikro- und Makro-Tauziehen, unter Einsatz von Ressourcen, kollektivem Handeln, aber auch durch Appelle an Normen der Gerechtigkeit und so weiter.
Auch der Sozialstaat ist ein Werkzeug, mit dem die Abhängigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von ihren Arbeitgebern verringert werden kann. Stellt er gewissermaßen eine Alternative zur Arbeitsgesellschaft dar?
Der Sozialstaat ist eine unglaublich komplexe, im steten Wandel begriffene, historische Errungenschaft gesellschaftlicher Entwicklung. Man kann sich das vorstellen wie ein Gebäudes, das ein Keller hat, einen ersten Stock, einen zweiten Stock und so weiter. Im Keller ist die vormoderne Fürsorge für Arme, die oft auf der Ebene der Gemeinde angesiedelt war und eher Sachleistungen beinhaltete. Auf der ersten Etage gibt es die Lizenzierung von Gewerkschaften, die streikberechtigt sind. Dann gibt es im zweiten Stockwerk Versicherungen, das heißt man zahlt Beiträge, die dazu dienen, im Notfall Transferleistungen zu beziehen, zunächst im Alter und bei Krankheit, später auch im Falle von Arbeitslosigkeit und noch viel später bei Pflegebedürftigkeit. In der dritten Etage kommen dann Transferleistungen hinzu, zum Beispiel Kindergeld, die nicht an das Arbeitsverhältnis geknüpft und relativ neu sind. Hinzu kommen auch Dienstleistungen, von denen die wichtigsten die Bildungsleistungen sind. Auch diese sind nicht an Arbeitsverhältnisse geknüpft, sondern an den Status als Bürger.
Die Funktionsfähigkeit des Sozialstaats hängt von all diesen Systemen ab, die alle laufend im Umbau begriffen sind. Es kommt aber auch darauf an, dass das Dach auf diesem Gebäude dicht ist. Das bedeutet, es muss eine annähernde Vollbeschäftigung bestehen. Vollbeschäftigung ist nicht nur deshalb wichtig, weil der Reichtum des Landes durch die Verausgabung von möglichst viel Arbeitskraft gesichert werden muss, sondern deshalb, weil der Sozialstaat selbst finanziell zum großen Teil auf Beiträgen aus Erwerbsarbeit beruht, und nur zum geringeren Teil auf Steuern. Diese Beiträge können nur aufgebracht werden, wenn es so etwas wie Vollbeschäftigung gibt. Wenn es keine Vollbeschäftigung gibt und kein kontinuierlich wachsendes reales Einkommen aus Vollbeschäftigung, dann kommt es zu Problemen. Deshalb kann man sagen, dass der Sozialstaat zwar einerseits ein Korrektiv zur kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ist, gleichzeitig aber von ihrem Funktionieren abhängt.
Sie sagen, dass für die Entstehung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg die Systemkonkurrenz zwischen Ostblock und kapitalistischem Westen maßgeblich war. Können Sie das erläutern?
Ja, das sehen die Historiker auch so. Es gab natürlich auch in Skandinavien ab den 30er Jahren sozialstaatliche Einrichtungen, in den USA gab es den New Deal, das war alles vor dem Kalten Krieg. Aber der Kalte Krieg war eine hauptsächliche Triebkraft für Aufbau und Expansion des westlichen Wohlfahrtsstaats.
Auch in Deutschland hätte sich der Wohlfahrtsstaat wohl nicht so entwickelt, wie er es tat, wenn Konrad Adenauer nicht die – im Nachhinein völlig falsche – Hypothese gehabt hätte, dass es drüben im Osten mal attraktiv werden könnte; sowohl vom Einkommen, als auch von der sozialen Sicherheit. Er hat befürchtet, dass die Kommunisten dort eine Gesellschaft aufbauen, der viele den Vorzug geben würden, und dachte deshalb, dass der Westen darauf vorbereitet sein und vorsorgen müsste. So kam es 1957 zu einem vorher unerhörten Ereignis, nämlich eine Dynamisierung der Renten. Die Renten wurden nicht nur nach geleisteten Arbeitsjahren und dabei erzielten Arbeitseinkommen berechnet, sondern nach dem gegenwärtig erzielten Arbeitseinkommen. Damit hat er den Wahlkampf im Jahr 1957 mit absoluter Mehrheit gewonnen. Nachdem es mit den Kommunisten vorbei war, hörte man damit auf.
Die Aufbauphase des Wohlfahrtsstaates in der Nachkriegszeit im deutschen Fall dauerte circa 30 Jahre, genau genommen von 1949 bis 1974. Diese erste Phase war beherrscht durch die Idee der Sozialen Marktwirtschaft im Namen der Gerechtigkeit: Wohlstand für alle, aber auch Sicherheit für alle, unter den motivierenden Rahmenbedingungen des Kalten Krieges. Dann kam eine zweite Phase, in der das Kapital und die konservativen Regierungen, die in den USA und Großbritannien an der Macht waren, zu dem Ergebnis kamen: Das wird uns zu teuer. Anschließend gab es eine Entwicklung, die als investive Sozialpolitik bezeichnet wurde. Hier kommt es nicht mehr darauf an, dass gerechte Ansprüche bedient werden sollen, sondern dass wir Investitionen tätigen, die sich später auszahlen. Also zum Beispiel Bildungsinvestitionen, aber auch Wohnungsbau und arbeitsfördernde Maßnahmen. „Investiv“ heißt, dass die Sozialpolitik nicht auf die Befriedigung sozialer Bedürfnisse ausgerichtet ist, sondern der Steigerung der Effizienz der Volkswirtschaft insgesamt dient.
»Auch in Deutschland hätte sich der Wohlfahrtsstaat nicht so entwickelt, wie er es tat, wenn Konrad Adenauer nicht die Hypothese gehabt hätte, dass es drüben im Osten mal attraktiv werden könnte.«
Die dritte Phase der Sozialstaatsentwicklung setzt dann nach dem Ende des Staatssozialismus ein.
Richtig. Nun wurde gesagt, dass wir die Bedürftigen selbst zur Mitwirkung ihrer eigenen Sicherheit heranziehen müssen. »Aktivierung« war der Schlüsselbegriff. Ein extrem neoliberaler Sozialökonom, Lawrence Mead, zählte etwa eine Reihe von Pflichten auf, die jeder Mensch – als Staats- und Wirtschaftsbürger – einhalten muss. Ansonsten kann er ruhig vor die Hunde gehen. Das bedeutet in der milderen Version, dass der Bürger nicht nur für die Aufrechterhaltung der eigenen Erwerbsfähigkeit zuständig ist, sondern auch für die eigene Sicherheit privat vorsorgen, also sparen muss. Man kann sich nicht mehr auf die Rente verlassen, weil diese sozusagen gesockelt wird. Es sind nur 40 Prozent des Einkommens, das man im Alter bezieht und der Rest beruht auf Sparleistungen, auf Familiensubsidiarität, auf Erbschaften und so weiter. Außerdem solle es auch mehr Eigenbeteiligung bei der Krankenversicherung geben, und Gebühren für Schulen, Universitäten, aber auch für Kindergärten. All das bedeutet eine sekundäre Kommodifizierung: das heißt Leistungen der Daseinsfürsorge, die der Staat bisher als Transferleistungen oder soziale Rechte bereitgestellt hat, werden wieder zu Waren gemacht, für die jeder einzelne privat aufkommen soll. Das ist es, was letztlich im Begriff der Aktivierung zum Ausdruck kommt: Du musst selbst vorsorgen und selbst deine fortgesetzte Arbeitsfähigkeit sicherstellen. Das sind die drei Phasen der Nachkriegsentwicklung und die dritte Phase ist wesentlich befördert durch das Ende des Staatssozialismus. Die Adenauerschen Befürchtungen haben sich verflüchtigt, das staatssozialistische Denken jegliche Hegemonie verloren.
Ein Ausdruck dieser dritten Phase in Deutschland waren die Hartz-Reformen. Sie wurden damit begründet, dass eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, eine Verschiebung vom Fördern zum Fordern und ein Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit geeignet seien, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und so auch die finanzielle Grundlage für den Sozialstaat zu sichern. Dass sich Deutschland seither wirtschaftlich besser entwickelt hat als europäische Nachbarländer, wird als Beleg angeführt, dass die Reformen richtig waren. Was denken Sie dazu?
Ich war damals sehr skeptisch und bin es auch heute noch. Die relative wirtschaftliche Stabilität der Bundesrepublik im Gegensatz zu anderen EU-Mitgliedstaaten lag ganz zentral nicht an den Reformen, sondern an einem Exportüberschuss, der durch die Begünstigungseffekte des Euro entstanden ist. Davon hängt ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze ab. Eine Wirtschaftspolitik, die Wachstum nur auf Export und nicht auf inländische Nachfrage stützt, ist aber nicht nur riskant und abhängig von globalen Konjunkturen, sie ist auch unmoralisch, weil man von den Exportschwächen der anderen Länder profitiert.
Außerdem ist gar nicht gesagt, dass die vermeintlich günstige Arbeitsmarktentwicklung tatsächlich eine positive Entwicklung war. Sie wird oft daran gemessen, dass wir innerhalb von zehn Jahren eine Steigerung der Erwerbsbevölkerung sahen, also Menschen, die am Erwerbsleben teilnehmen. Von 38 Millionen auf fast 45 Millionen: mehr als die Hälfte der deutschen Wohnbevölkerung ist erwerbstätig. Fantastisch! Oder man könnte auch sagen, pathologisch. Denn das ist ja genau das schon erwähnte Berufsmenschentum, das alle anderen Lebensbezüge und Tätigkeitssphären an den Rand gedrängt hat.
Außerdem muss man sagen, dass trotz dieser hohen Zahl von Erwerbstätigen die Zahl der gearbeiteten Stunden pro Jahr konstant bleibt. Das bedeutet, dass pro Arbeitnehmer eine geringere Anzahl an Stunden geleistet wurde, weil Teilzeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung und so weiter zugenommen haben. Es ist zudem eine Prekarisierung der Arbeit eingetreten, also eine Zwangsflexibilisierung, die sich auf Arbeitsort, Arbeitsaufgaben, Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und so weiter erstreckt. Viele Leute können buchstäblich nicht sagen, was sie in zwei Monaten tun werden, wovon sie leben werden. Das ist ein Stressfaktor, der sozialmedizinische Auswirkungen hat. Und die Arbeit ist sehr ungleichmäßig verteilt. Viele Leute sind unter Dauerstress, weil sie nicht wissen, was sie in fünf Jahren tun werden.
Kommen wir zuletzt zur Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Wir beobachten heute widersprüchliche Entwicklungen: Einerseits gesicherte, gut bezahlte Arbeit und erfolgreiche Vorstöße in Richtung der Arbeitszeitverkürzung, etwa von Seiten der IG Metall – andererseits prekäre, unsichere, nicht existenzsichernde Arbeit. Wohin geht der Weg?
Um mit der Arbeitszeitverkürzung zu beginnen: Einer der erfolgreichsten politischen Slogans in der Geschichte der Bundesrepublik war ein Plakat mit einem Arbeiter und einem kleinen Mädchen an der Hand und das kleine Mädchen sagt: »Samstags gehört Papa mir!« Das war die Erfindung des Wochenendes! Jüngere Erfolge der IG Metall in Sachen Zeitpolitik reihen sich hier ein und sind natürlich von größter Bedeutung. Man kann Arbeitnehmer entschädigen, indem man höhere Löhne zahlt oder man kann, wie Marx und Keynes es sich vorgestellt haben, die Dauer der Erwerbsarbeit reduzieren. Man kann die Arbeiter also mit Geld oder mit Zeit bezahlen oder eine Kombination von beidem.
Zugleich stellt sich jetzt überraschenderweise heraus, dass die Arbeiter gar nicht immer auf mehr Zeit Wert legen, sondern meist viel mehr auf Geld. Warum ist das so? Einmal deshalb, weil man Zeit nicht sparen kann. Denn 20 Minuten mehr heute und 20 Minuten mehr morgen ergeben keine 40 Minuten mehr am Wochenende. Die Zeit ist sozusagen »sticky« und zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich wertvoll. Mittwochvormittag ist sie weniger wertvoll, weil alle anderen arbeiten und es langweilig wird, wenn man als einziger frei hat. Das Wochenende hingegen ist eine sehr viel wertvollere Zeit. Zweitens, die Zeit an sich ist nur attraktiv, wenn man Geld hat, etwas Interessantes zu tun, zu verreisen, ins Restaurant zu gehen und so weiter. Dazu braucht man Geld. Es muss also immer um eine Kombination von Geld und Zeit gehen.
Sehr viel allgemeiner gesprochen kann man zur Zukunft der Arbeitsgesellschaft wohl sagen, dass wir Vollbeschäftigung im Sinne einer dauerhaften, sicheren, vollzeitigen und nach den geltenden Standards angemessen entschädigten Berufstätigkeit nie wieder haben werden. Und zwar zu 20 Prozent, weil die Produktion woanders stattfindet und nicht hier. In Indien und in China wird billiger und auf dem gleichen technischen Niveau produziert wie hier. Damit müssen wir uns abfinden. Die hauptsächlichen 80 Prozent liegen aber an der Automatisierung, also daran, dass wir künstliche Intelligenz haben, dass wir Vorgänge digitalisieren und so arbeitssparenden technischen Wandel herbeiführen können. Die technischen Möglichkeiten, Arbeit zu substituieren, sind gewaltig.
Zugleich bewegen wir uns auf eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation hin. Je reicher die Volkswirtschaften sind, desto geringer ist ihr weiteres Wachstum. Das heißt, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch Arbeitsverträge und Arbeitslöhne ist ein Modell, das nicht mehr ausreicht. Deshalb muss es andere Modelle geben, nämlich Grundeinkommen, Transfer, nationale Dividenden, also die Verteilung gesamter volkswirtschaftlicher Leistungen und Erträge an Bürgerinnen und Bürger – und nicht nur an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Das Interview erschien zuerst 2018 beim JACOBIN-Vorgängerprojekt Ada. Zum Zwecke der Aktualisierung und besseren Lesbarkeit wurde es hier gekürzt und bearbeitet.
Claus Offe ist einer der bekanntesten deutschen Soziologen und Politikwissenschaftler. Eine Auswahl seiner Aufsätze erschien 2018 bei Springer VS.