28. Oktober 2021
Hauptsache Klicks: Trackingtools drängen Journalisten dazu, möglichst profitable Inhalte zu produzieren. Das verschlechtert die Arbeitsbedingungen in der Branche und beschleunigt den Verfall unabhängiger Berichterstattung.
Je clickbaitiger ein Titel, desto erfolgreicher in der Aufmerksamkeitsökonomie.
Der Journalismus steckt in der Krise. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden bei Zeitungen unzählige Stellen gestrichen. Mit Blick auf das Zeitungssterben spricht man in den USA inzwischen von »News Deserts« (Nachrichtenwüsten) – Gemeinden, die über keine eigene lokale und regionale Berichterstattung mehr verfügen. Die Kommerzialisierung untergräbt und verzerrt den Medienbetrieb auf immer gefährlichere Weise. Trotz besorgniserregender Anzeichen bleibt häufig unklar, was an dieser Transformation eigentlich neu ist. Schließlich haben profitorientierte Medien schon immer große Teile der Gesellschaft unterversorgt und falsch repräsentiert. Die sozioökonomische Spaltung unserer Gesellschaft spiegelt sich auch im Zugang zu Information. Diesen zu beschränken, liegt in der DNA der kommerziellen Presse, die Profite über Menschen stellt.
Der werbeabhängige, marktgesteuerte Journalismus ist gegenwärtig in den letzten Stadien seines Verfalls. Die Plattformmonopole, die unersättlich Werbeeinnahmen verschlingen; die Hedgefonds, die ganze Mediengruppen übernehmen; und die rechten Propagandisten, die Nachrichtenlücken zur Verbreitung von Fehlinformationen ausnutzen, sind dabei nur opportunistische Parasiten, die die Krise verschärfen, nicht aber ihre eigentliche Ursache. Die gesamte kommerzielle Struktur verrottet – und die weitreichenden Folgen dieser Zersetzung, insbesondere für diejenigen, die sich für eine demokratischere Zukunft stark machen, sind noch nicht abzuschätzen.
Die Symptome dieser strukturellen Pathologie sind zahlreich. Eines darunter wird jedoch immer sichtbarer und ist noch kaum erforscht: nämlich wie der verzweifelte Kampf um die immerzu schwindenden Einnahmen in einer Art Kettenreaktion die Arbeitsbedingungen, das Wohlbefinden der Journalistinnen und Journalisten, die von ihnen produzierten Inhalte und letztlich die Gesellschaft im Allgemeinen beeinträchtigt.
Die Mediensoziologin Caitlin Petre hat kürzlich eine wichtige Arbeit vorgelegt, die diese Umwälzungen anschaulich macht. Ihr Buch All the News That's Fit to Click: How Metrics Are Transforming the Work of Journalists behandelt eine besonders eklatante Erscheinungsform des verstärkten kommerziellen Drucks im Nachrichtenbetrieb: die vermehrte Verwendung von Metriken, die messen und bewerten, wie Leserinnen mit digitalen Nachrichteninhalten interagieren. Die Fetischisierung dieser Publikumsanalysen bewegt Journalisten dazu, ihre Inhalte für Klicks zu optimieren, was letztlich zu einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen führt.
Anhand akribischer ethnografischer Untersuchungen bei der New York Times, dem auf die Medienindustrie konzentrierten New Yorker Online-Nachrichtenportal Gawker und der Analysefirma Chartbeat legt Petre offen, wie dieser wachsende Druck die Redaktionen umstrukturiert und die journalistische Arbeit auf zutiefst beunruhigende Weise verzerrt. Sie erklärt, wie die hinter diesen Metriken stehende Logik die Gewinne maximiert, indem sie den Angestellten mehr Produktivität abverlangt und zugleich den kommerziellen Wert der produzierten Inhalte steigert.
Nachrichtenmedien nutzen diese Daten zunehmend, um laufend Feedback über die Online-Performance ihrer Inhalte geben zu können. Bei Gawker war sogar ein für alle sichtbares, »Big Board« genanntes, großformatiges Daten-Dashboard montiert, auf dem permanent die Traffic-Metriken bestimmter Artikel angezeigt wurden. Wie Petre anmerkt, bestand die Spezialität von Chartbeat darin, nicht nur die Seitenaufrufe zu berechnen, sondern ebenso zu quantifizieren, wie viel Zeit die Leserschaft mit den jeweiligen Inhalten verbrachte oder ob ein Artikel auf den Sozialen Medien geteilt wurde. Durch das zwanghafte Verfolgen von Echtzeit-Analysen, die auf ihren Bildschirmen aufblitzen, sind viele Journalistinnen und Journalisten von solchen Metriken regelrecht besessen. Diese Fixierung, so Petre, führt zu einer »Umgestaltung des journalistischen Arbeitsprozesses«.
Petre macht die Beobachtung, dass diese Metriken Teil einer Managementstrategie sind, die zur Disziplinierung der Arbeit in den Newsrooms eingesetzt wird. Diese neue Art des Taylorismus dringt allmählich in die sogenannte Kreativ- und Wissensarbeit vor – Berufsfelder, die üblicherweise von größerer Autonomie geprägt sind als die Arbeit in der Industrie. Auch wenn diese Erwartung immer schon verfehlt gewesen sein mag – schließlich sind auch Kulturschaffende prinzipiell Arbeiterinnen, die vom Kapitalismus ausgebeutet werden –, ist das Gefühl von Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit bei Journalisten besonders ausgeprägt. Und gerade deshalb werden sie von dieser Veränderung ihrer Arbeitsbedingungen besonders empfindlich getroffen.
Indem Petre den Journalismus vordergründig als eine Form der Arbeit betrachtet – eine Dimension, die in der Journalismusforschung häufig ignoriert wird –, gewinnt sie wichtige Erkenntnisse über die Machtverhältnisse in der Nachrichtenindustrie. Sie stellt fest, dass Metriken über Nachrichten einer »Form von Arbeitsdisziplin dienen, die sowohl die Organisation als auch die gelebte Erfahrung journalistischer Arbeit im Kapitalismus prägt«. Petre stützt sich dabei auf Harry Braverman, der in seinem Klassiker Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß gezeigt hat, wie der Taylorismus die Arbeitenden »entfähigt« hat, und zeigt zugleich mit Bezug auf die soziologischen Analysen von Michael Burawoy, wie dieses Regime von den Arbeitenden verlangt, dass sie »willige Teilnehmer an der Intensivierung ihrer eigenen Ausbeutung« werden.
Damit diese Managementstrategie fruchten kann, müssen die Arbeitenden demnach während des gesamten Prozesses eine gewisse selbstständige Handlungsfähigkeit behalten. Den Journalistinnen und Journalisten wird das alles durch die spielerische Dimension der Nutzung von Publikumsanalysen schmackhaft gemacht. Die Arbeitenden versuchen ständig, das »Traffic Game« zu gewinnen, um es mit Petres Worten zu sagen – ein impliziter Wettkampf um die beste Performance, der eine gewisse suchterzeugende Qualität hat. Petre argumentiert, dass diese gewohnheitsbildende Benutzeroberfläche mit Echtzeit-Metriken als »Regime der Überwachung durch das Management« funktioniert.
Nachdem Petre viele Wochen damit verbracht hat, die täglichen Aktivitäten der Journalistinnen und Journalisten vor Ort zu studieren, stellt sie fest, dass sich die Strategie von Chartbeat bezahlt gemacht hat: Die Journalistinnen und Journalisten sind wie besessen von der Frage, wie sie die Zugriffszahlen ihrer Artikel erhöhen können, und sie drängen sich selbst dazu, immer härter zu arbeiten und den Interessen des Managements mehr zu dienen als ihren eigenen – ohne dass man direkten Zwang auf sie ausüben müsste. Bereits vor über einem Jahrzehnt machte Dean Starkman auf die »Hamsterisierung des Journalismus« aufmerksam. In Anlehnung an diese Beobachtung zeigt Petre auf, wie angeschlagene Nachrichtenorganisationen ihre Beschäftigten dazu zwingen, unter zunehmend prekären Bedingungen mehr Arbeit für weniger Geld zu leisten.
Petres Analyse lenkt die Aufmerksamkeit implizit auf eine Monströsität, an der mittlerweile niemand mehr vorbeikommt: Facebook (ein Thema, dem das Buch vielleicht mehr Aufmerksamkeit hätte widmen können). Angesichts der Gatekeeper-Position der Plattform als Fenster zu einer riesigen globalen Leserschaft haben Journalistinnen ein fast schon instinktives Bewusstsein dafür entwickelt, welche Art von Inhalten Aufmerksamkeit erregen und im Facebook-Newsfeed gut abschneiden. Diese Dynamik schafft Anreize für Journalisten – von denen viele mit großer Beschäftigungsunsicherheit konfrontiert sind –, ihre Berichterstattung nach Clickbait-Kriterien zu gestalten. Sie versuchen also Kontroversen, Konflikte, Sensationen und dergleichen ins Zentrum zu stellen, um so mehr Werbeeinnahmen zu generieren.
Kritische Stimmen merken seit langem an, dass metrikgeleiteter Journalismus qualitativ hochwertige Nachrichten benachteiligt und Journalistinnen darauf konditioniert, das Publikum als ein Kollektiv unpolitischer Konsumenten zu behandeln anstatt als engagierte Beteiligte eines demokratischen Systems. Indem sie Konsumentscheidungen und demokratische Bedürfnisse in einen Topf werfen, reduzieren diese marktorientierten Werte das Engagement des Publikums auf eine kommerzielle Transaktion. Zugleich werten sie andere, weniger leicht messbare Anliegen ab – etwa die Frage, wie dienlich die Presse der Demokratie ist.
Es ist Petre hoch anzurechnen, dass sie bei ihren Beschreibungen des Umgangs von Journalisten mit diesen Dynamiken auch immer wieder auf solche normativen Bedenken zurückkommt. Eine der von ihr aufgeworfenen Metafragen – die auch als die übergreifende Fragestellung ihres Buches verstanden werden kann – lautet: »Kann der Imperativ des Profits der kommerziellen Nachrichtenproduktion mit dem staatsbürgerlichen Auftrag des Berufsstands koexistieren?« Die Recherchen, die in diesem Buch und anderswo aufgeführt werden, legen nahe, dass diese Ziele zunehmend unvereinbar sind.
Frühe Befürworterinnen von Metriken vertraten die Ansicht, sie würden Journalisten in die Lage versetzen, besser auf die Wünsche ihres Publikums einzugehen und so die Nachrichten demokratisieren. Letztendlich stellte die Metrifizierung der journalistischen Arbeit aber in erster Linie einen weiteren Schlag gegen die Würde und die Lebensqualität der Beschäftigten in der Nachrichtenbranche und zunehmend auch in anderen kreativen und wissensbasierten Arbeitsbereichen dar.
Petre zeigt auf, dass die Verwendung von Metriken viele Nachteile mit sich bringt – und wie stressig und demoralisierend sie für Journalisten sein kann –, aber sie argumentiert auch, dass sie durchaus positive Folgen haben kann, und widerspricht damit einer allzu simplen Darstellung, die Metriken lediglich als bloße Ausbeutung durch das Management betrachtet. Mit ihrer nuancierten Aufmerksamkeit für »interpretative Ambiguität« skizziert Petre ein dialektisches Verhältnis zwischen der Kontrolle des Managements und der Autonomie der Arbeitenden, in der »Journalisten und Analysetools sich gegenseitig formen«.
Petre zeigt auch, wie Journalistinnen sich bemühen, ethische Grenzen zwischen problematischer und unbedenklicher Nutzung von Daten zu ziehen, und dass sie einen gewissen Spielraum haben, wenn es darum geht, die ihnen permanent zugespielten Metriken zu interpretieren. Unter Bezug auf Erik Olin Wrights »widersprüchliche Positionen innerhalb der Klassenbeziehungen« verweist sie auf die doppelte Loyalität der Redaktion, die sich mal auf die Seite der Mitarbeitenden und mal auf die des Managements schlägt. Auch stellt sie erhebliche Unterschiede im Umgang mit Metriken zwischen der New York Times und Gawker fest.
Ein kontraintuitiver potenzieller Nutzen von Metriken, den Petre herausarbeitet, besteht darin, dass sie »unbeabsichtigt ein Gefühl der geteilten Unzufriedenheit, der kollektiven Identifikation und des Klassenbewusstseins unter den Wissensarbeitern kultivieren können«. Gawker Media war im Jahr 2015 das erste große digitale Medienunternehmen, dessen Beschäftigte sich gewerkschaftlich organisierten. Die damalige Gewerkschaftsgründung in Zusammenarbeit mit dem Verband Writers Guild of America, East (WGAE) gab den Startschuss zu einer ganzen Reihe von Erfolgen in den vergangenen sechs Jahren.
In ihrer Schlussfolgerung hebt Petre diesen Hoffnungsschimmer in einer ansonsten düsteren Landschaft der journalistischen Arbeit hervor. Als Beweis für ein verstärktes Gefühl des gemeinsamen Kampfes und der Solidarität unter den Zeitungsangestellten verweist sie auf die zunehmenden gewerkschaftlichen Organisierungsbestrebungen in den traditionellen und neuen digitalen Redaktionen in den USA. Diese sind notwendig, um den Missständen am Arbeitsplatz und den Zwängen des Kapitalismus entgegenzuwirken. Letztendlich, so Petre, erinnern Metriken Journalistinnen daran, dass sie Arbeitende sind, egal wie »kreativ, glamourös und autonom [ihre Arbeit] erscheinen mag und mit welcher Leidenschaft sie ihr nachgehen«.
Das Buch von Petre ist ein Gegengift für den überschwänglichen Enthusiasmus, mit dem in den 2010er Jahren über die vermeintlich großartigen Potenziale des datengesteuerten Journalismus gesprochen wurde. Die Verhältnisse, die es in den Fokus rückt, sind ein weiteres erschreckendes Beispiel dafür, wie die Kommerzialisierung unsere Nachrichten- und Informationssysteme auf allen Ebenen untergräbt. Doch wie auch andere, sichtbarere Probleme – vom Verlust von Arbeitsplätzen über die Verbreitung von Desinformation bis hin zu der in den USA vor allem mit Fox News assoziierten politischen Instrumentalisierung der Berichterstattung – sind auch die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Journalisten nur eine Begleiterscheinung einer tieferen institutionellen Korrumpierung des Medienbetriebs.
Indem Petre die Machtverhältnisse am Arbeitsplatz in den Fokus rückt, liefert sie gewissermaßen eine Analyse der Mesoebene zwischen der Makroebene einer politisch-ökonomischen Kritik der Eigentumsstrukturen von Unternehmen und der kapitalistischen Ideologie in der Medienbranche und der Mikroebene einer Betrachtung der journalistischen Routinen und Wertvorstellungen. Sie verbindet diese Ebenen geschickt miteinander und stellt dabei fest, dass die von ihr untersuchten Phänomene Symptome größerer struktureller Veränderungen sind, die mit der ungebremsten Durchsetzung des Neoliberalismus einhergehen. Petres Forschungsarbeit ist ein wichtiger Beitrag zu einer wachsenden Zahl von Untersuchungen, die sich kritisch mit dem profitorientierten Journalismus auseinandersetzen und den notwendigen Kontext liefern, um sich systemische Alternativen zu den gescheiterten kommerziellen Medienmodellen vorstellen zu können, in denen die Mitarbeiter über die redaktionelle Linie mitentscheiden würden.
Vonseiten der Linken werden die Konzernmedien zwar immer wieder angeprangert, doch selten wird ein neues, alternatives Mediensystem skizziert, das sich in öffentlicher Hand befände und unter wirklicher demokratischer Kontrolle stünde. Diese Diskrepanz ist durchaus überraschend, wenn man bedenkt, dass das geschriebene Wort für die Linke stets ein entscheidendes Terrain ihres Kampfes gewesen ist. Soziale Bewegungen haben sich seit jeher journalistischer Mittel – mitunter auch der Präsenz innerhalb der Mainstream-Medien – bedient, um progressive Anliegen voranzutreiben. Ein vertrauenswürdiger Journalismus und ein funktionierendes Nachrichtensystem sind wesentliche Bestandteile jeder Anstrengung für einen fortschrittlichen sozialen Wandel, vom Kampf gegen den Faschismus bis hin zur Eindämmung des Klimawandels.
Kurz gesagt: Wenn wir ignorieren, wie die Nachrichtenmedien an der Metrifizierung zugrunde gehen, dann tun wir das zu unseren eigenen Lasten. Die unheilige Verbindung zwischen Kapitalismus und Journalismus bröckelt schließlich unter dem Gewicht ihrer Widersprüche. Die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen in der Branche sind Teil dieser umfassenderen Problemlage, deren Ausmaß Petres Buch vor Augen führt. Zugleich ermutigt es uns dazu, die Krise des kommerziellen Journalismus als Chance zu begreifen, um etwas völlig Neues zu versuchen.
Victor Pickard lehrt an der Annenberg School for Communication an der University of Pennsylvania. Er ist Co-Autor des Buches »After Net Neutrality« und Autor von »Democracy Without Journalism?«.
Victor Pickard lehrt an der Annenberg School for Communication an der University of Pennsylvania. Er ist Co-Autor des Buches »After Net Neutrality« und Autor von »Democracy Without Journalism?«.