07. Juni 2022
Auslandsdeutsche gründen in Chile eine Sekte, deren Mitglieder gefoltert, missbraucht und versklavt werden. Diese Geschichte ist vielen geläufig. Weit weniger bekannt ist: Die chilenische Rechte war in die Verbrechen verstrickt.
Archivmaterial aus der »Serie Colonia Dignidad – eine deutsche Sekte in Chile«.
Die Netflix-Miniserie Colonia Dignidad – eine deutsche Sekte in Chile hat ein internationales Publikum mit der Geschichte der Colonia Dignidad bekannt gemacht. Diese von Auslandsdeutschen gegründete Sekte war seit 1961 in Chile aktiv und ihre Geschichte ist von grauenhaften Verbrechen gezeichnet, darunter Pädophilie, Mord und Folter. Die aufwendigen Recherchen der Regieführenden Wilfried Huismann und Annette Baumeister bieten einen Einblick in eine der dunkelsten Episoden der jüngeren chilenischen Vergangenheit.
Colonia Dignidad – eine deutsche Sekte in Chile zeichnet die Geschichte der Sekte von ihrer Gründung im Westdeutschland der 1950er bis ins Jahr 2005 nach, als Sektenführer Paul Schäfer verhaftet wurde und ins Gefängnis kam. In sechs Episoden wird das Publikum mit einer schier unfassbaren Kette von Ereignissen konfrontiert: Paul Schäfer floh 1961 mit ungefähr 300 Anhängerinnen und Anhängern nach Chile, nachdem er in Deutschland wegen sexuellen Missbrauchs von zwei Kindern angezeigt worden war. Am Fuß der Anden, etwa 400 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt, baute Schäfer eine landwirtschaftliche Siedlung auf. Diese befand sich nicht nur außerhalb der Reichweite der deutschen Behörden, sondern genoss auch in Chile extraterritorialen Status. Schäfer konnte dadurch ein alptraumhaftes »Pädophilen-Paradies für sich selbst« errichten, wie es eines seiner Opfer formuliert.
Doch die Geschichte wird noch bizarrer. Nach dem Putsch 1973 entwickelte Schäfer eine enge Beziehung zur Diktatur von Augusto Pinochet. Die Siedlung wurde zu einem geheimen Gefangenenlager, in dem das Regime chilenische Bürgerinnen und Bürger folterte und ermordete. Schäfer war nicht nur persönlich in die Morde involviert, er ordnete auch die Verbrennung und Vernichtung der Überreste der Opfer an – um sie für immer » verschwinden« zu lassen. Wie die Serie zeigt, gab es tatsächlich kaum ein Verbrechen, das Schäfers Kolonie nicht begangen hat: Korruption, Bestechung, illegaler Waffenhandel, Verschwörung gegen eine gewählte Regierung, Einschüchterung von Zeuginnen und Zeugen. Auch nach Chiles Rückkehr zur Demokratie (die sogenannte Transición) im Jahr 1990 blieb der extraterritoriale Status der Kolonie erhalten. Das wiederum erschwerte die Bemühungen, Schäfer vor Gericht zu bringen, enorm.
Archivmaterial aus der »Serie Colonia Dignidad – eine deutsche Sekte in Chile«.
Eine Deutsche Sekte in Chile erzählt diese Geschichte anhand von Interviews, die mit einem breiten Spektrum von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt wurden, darunter sind vor allem Bewohner der Siedlung und Betroffene. Auch bisher unveröffentlichtes Filmmaterial, das Huismann und Baumeister von einem der Kameraleute der Colonia Dignidad erhielten, wurde in die Serie eingearbeitet. Sie thematisiert auch die besondere psychologische Verfasstheit der Bewohnerinnen und Bewohner der Colonia Dignidad, die zugleich Opfer als auch ergebene Täter waren. Eine Deutsche Sekte in Chile zeigt, wie sie das Geschehene erinnern und ihre Taten Jahre später erklären.
Wirklich neue historische Perspektiven liefert die Serie nicht, allerdings sollte das auch nicht erwartet werden – Dokumentarfilmer sind schließlich keine Historiker, die über viele Jahre methodische Archivrecherchen betreiben. Was man jedoch erwarten kann, ist, dass Filmemacherinnen grundlegendere Fragen stellen. Eine Deutsche Sekte in Chile liefert im Grunde genommen eine relativ simple Interpretation: Paul Schäfer war ein Tyrann, der die Gemeinschaft der Colonia Dignidad mit sadistischen Methoden kontrollierte, weshalb er der alleinige Verantwortliche für die Verbrechen war. Die Führungsriege, die Schäfer loyal ergeben war – unter ihnen Kurt Schnellenkamp, Gerhard Mücke und Karl van den Berg – beteuert in Interviews, keine andere Wahl gehabt zu haben, als den Launen ihres Anführers zu folgen.
»Schäfer spielte eine wichtige Rolle in der Vereinigung der chilenischen Rechten gegen die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende.«
Nun ist es nicht überraschend, dass diese Männer die Schuld ausschließlich bei Schäfer verorten. Weitgehend ungeklärt bleibt jedoch, wie es Schäfer gelungen war, die Siedlung so effektiv zu kontrollieren – und zwar selbst aus der Entfernung, als sich Schäfer etwa sieben Jahre lang in Argentinien versteckt hielt. Selbst wenn man akzeptiert, dass die Schuld ausschließlich bei Schäfer liegt, muss man sich fragen, wer dafür verantwortlich dafür war, dass die Colonia Dignidad ohne größere Einschränkungen in Chile bestehen konnte und wer heute die Verantwortung dafür trägt, Schäfers Opfer zu entschädigen.
Es ist mittlerweile ein historisches Klischee geworden, Südamerika als Basis für Nazis und Faschisten zu beschreiben. Die Produktion Eine deutsche Sekte in Chile vermeidet diese Art von Generalisierung, liefert aber Anstöße, um Schäfers Verbindungen zum Nationalsozialismus zu reflektieren. Die Schlussfolgerungen sind jedoch wenig überzeugend. In Chile und Nordamerika ist Schäfer schon länger als »Nazi« und »Hitler-Enthusiast« bekannt. Ihn als solchen zu bezeichnen, ist jedoch etwas überzogen. Schäfer wurde 1921 geboren und war weder Mitglied in der NSDAP, noch Offizier in der SS. Schäfer war im gleichen Maß ein Nazi wie jeder andere Deutsche, der 1945 in Deutschland lebte.
Mitglieder der Sekte blockieren eine Zufahrtsstraße zum Gelände der Colonia Dignidad. 25. Oktober 1989, Chile.
Mitglieder der Sekte blockieren eine Zufahrtsstraße zum Gelände der Colonia Dignidad. 25. Oktober 1989, Chile.
Eine deutsche Sekte in Chile handelt die Frage der Beziehung der Colonia Dignidad zum Nationalsozialismus allerdings zu schnell ab. Man weiß heute, dass die Colonia Teil eines Netzwerks von ehemaligen NS-Funktionären war, zu denen auch die SS-Männer Gerhard Mertins und Walter Rauff gehörten. Hinzu kommt, dass sich die Ideologie der Colonia Dignidad nicht gänzlich vom Nationalsozialismus unterscheiden lässt. Schäfer, Schnellenkamp und Mücke gehörten zu einer Generation junger Männer, die nicht nur die Schrecken des Kriegs gesehen hatten. Sie hatten auch erlebt, wie die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« – in der sie den »Neuen Menschen« verkörpern sollten – zusammengebrochen war. Die totalitäre Lebensweise der Colonia wurde zwar in einer religiösen Sprache vermittelt, weist aber Überschneidungen mit nationalsozialistischen Vorstellungen von Gemeinschaft und sexueller Reinheit auf. Wie die Audioschnipsel in der Serie zeigen, war Schäfers Sprache von rassistischen Anspielungen durchdrungen.
Der chilenischen Regierung kann man kaum unterstellen, wissentlich erlaubt zu haben, dass sich Nazis auf ihrem Staatsgebiet frei ausleben können. Dennoch stellt sich die Frage, wie ein flüchtiger Pädophiler aus Deutschland in so kurzer Zeit einen extraterritorialen Status und eine solche Machtfülle erlangen konnte. 1966 erfuhr die chilenische Öffentlichkeit erstmals von Schäfers Praktiken, als ein junger Bewohner der Colonia namens Wolfgang Kneese (damals Wolfgang Müller) aus der Siedlung floh und der Presse seine Geschichte erzählte. Obwohl die Colonia in einen großen Skandal verwickelt war und Schäfer polizeilich gesucht wurde, konnte sie zahlreiche einflussreiche öffentliche Personen davon überzeugen, ihn zu verteidigen. Das Gericht fällte infolgedessen eine Entscheidung zu seinen Gunsten und aus dem Ankläger Müller wurde ein Angeklagter. Fünf Jahre nach der Gründung der Siedlung war ihr politischer Einfluss erstaunlich.
Warum ließ die chilenische Regierung diese rechtliche Anomalie zu? Eine deutsche Sekte in Chile präsentiert mehrere Antworten auf diese Frage. Nach dem verheerenden Erdbeben von Valdivia im Jahr 1960 empfing Chile »Wohltätigkeits«-Organisationen aus dem Ausland mit offenen Armen. Es gab sogar einen entsprechenden Vertrag zwischen Chile und der Bundesrepublik, um solche Aktivitäten zu fördern. Außerdem erfährt man, dass Schäfer durch den Bau eines Krankenhauses die Unterstützung der lokalen Gemeinden im Umland der Colonia gewinnen konnte. Insgesamt impliziert Eine deutsche Sekte in Chile, dass Chile als Nation gegenüber allem »Deutschen« von Ehrfurcht ergriffen war. Der Kulturkritiker Ilan Stavans hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass weiße Europäerinnen und Europäer in Lateinamerika als » bevorzugte Neuankömmlinge« gelten würden.
»Man erfährt wenig über das heutige Leben in der Siedlung. Unklar bleibt ebenso, wer ihr Vermögen kontrolliert.«
Diese Erklärungsansätze sind zwar wichtig, lenken aber auch von einem zentralen historischen Aspekt ab: Für die Existenz der Colonia Dignidad und ihre kriminellen Akte ist letztlich beinahe die gesamte chilenische Rechte verantwortlich. Es mag nachvollziehbar sein, dass die Regieführenden vor einer solchen politischen Aussage zurückschrecken, aber die Tatsachen lassen wenig Interpretationsspielraum: Der rechte Präsident Jorge Alessandri und sein Botschafter in Deutschland, Arturo Maschke, die chilenische Unternehmerelite, das Justizsystem, die Neo-Faschisten von Patria y Libertad, die Streitkräfte und so gut wie jeder Regierungsfunktionär unter Pinochet tragen die Verantwortung für das Bestehen der Colonia Dignidad – das ist praktisch das gesamte rechtskonservative Spektrum Chiles.
Innerhalb dieser breiten Palette von Gruppen sticht die rechtsgerichtete Partei Unión Demócrata Independiente (UDI) besonders hervor. Deren verstorbener Parteiführer Jaime Guzmán nutzte die Colonia Dignidad als Basis für seine » Indoktrinierungs«-Treffen. Andrés Chadwick und Hernán Larraín Fernández – zwei UDI-Politiker und Mitglieder von Sebastián Piñeras letztem Kabinett – unterstützten Schäfer noch in den 1990er Jahren. Diejenigen, die heute behaupten, dass Sexualerziehung »zu Pädophilie anstiftet«, haben also die Taten von einem der verbrecherischsten Pädophilen der modernen Geschichte ermöglicht; diejenigen, die vorgeblich die »christliche Familie« verteidigen, haben einer Sekte zum Aufstieg verholfen, die ihre Mitglieder systematisch davon abgehalten hat, selbst Familien zu gründen; diejenigen die fordern, Chiles Nationalstolz wieder herzustellen, haben das Image des Landes international beschädigt.
Warum Chiles Konservative Schäfer duldeten, kann nicht so leicht beantwortet werden. Die Sympathien für die deutschen Siedlerinnen und Siedler hatten ihre Wurzeln zweifellos in rassistischen und kulturellen Vorstellungen, doch es gab vermutlich auch profanere Motive. Letztlich war Schäfer ein Stratege, dem es in einer Zeit, in der die chilenische Rechte dramatisch an Unterstützung verlor, gelang, Wählerstimmen auf dem Land zu mobilisieren. Die Colonia Dignidad war außerdem nur eine von vielen christlichen Gruppen, die in diesen Jahren nach Chile kamen. Gemeinschaften wie Opus Dei, die Schönstattbewegung, Tradição Família e Propriedade wollten die einfache Bevölkerung zunächst gegen Eduardo Freis christdemokratische Partei und später gegen Salvador Allende mobilisieren. In diesem Sinne spielte Schäfer eine wichtige Rolle in der Vereinigung der chilenischen Rechten gegen Chiles gewählte Regierung.
Chilenische Konservative wie etwa das Opus-Dei-Mitglied Joaquín Lavín haben Schäfers Verbrechen zwar lautstark verurteilt. In der Serie kommt sogar der Anführer der Patria y Libertad, Roberto Thieme, zu Wort, der die Brutalität der Diktatur missbilligt. Dennoch ist niemand unter ihnen bereit, Verantwortung zu übernehmen oder die eigene Mitschuld einzugestehen.
Paul Schäfer starb 2010 in einem chilenischen Gefängnis. Für seine Opfer endete die Geschichte damit allerdings nicht. Eine deutsche Sekte in Chile behandelt die aktuellen Lebensumstände der ehemaligen Angehörigen der Colonia Dignidad leider nur sehr oberflächlich. Man erfährt wenig über das heutige Leben in der Siedlung, die mittlerweile den Namen Villa Baviera trägt. Unklar bleibt ebenso, wer ihr Vermögen kontrolliert (der Besitz der Colonia wurde auf eine undurchsichtige Holding übertragen, die heute in der Hand der Kinder des Führungszirkels ist). Es bleibt anzumerken, dass die meisten Bewohnerinnen und Bewohner die Villa Baviera verlassen haben. Einige sind in Chile geblieben, andere nach Deutschland und Österreich zurückgekehrt. Da sie keine formelle Bildung erhalten haben, leben viele unter prekären ökonomischen Bedingungen. Beim Eintritt in die Rente erhalten sie nur eine minimale Pension, da die Colonia Dignidad erst Ende der 1990er Jahre Steuern und Sozialabgaben an den chilenischen Staat gezahlt hat. Die Vernachlässigung staatlicher Pflichten durch Deutschland und Chile belastet diese Menschen bis heute schwer.
Über drei Jahrzehnte unternahm die Bundesrepublik nichts um ihre Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vor sexuellem Missbrauch, Zwangsarbeit und Folter zu schützen – eine Tatsache, die der deutsche Außenminister 2016 öffentlich einräumte. Die deutsche Regierung hat in den letzten Jahren teilweise zu ihrer Verantwortung gestanden und seit 2018 Hilfsgelder an mehr als hundert Opfer der Colonia Dignidad ausgezahlt. Dabei hat die Regierung allerdings auch betont, dass diese Zahlungen keineswegs als offizielle Entschädigung für die jahrelange Vernachlässigung zu betrachten sind, sondern als humanitärer Akt. Die deutsche Justiz weigert sich außerdem, eine Gefängnisstrafe gegen Schäfers Stellvertreter Hartmut Hopp durchzusetzen, der 2011 in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war. Der Fall Colonia Dignidad ist also auch in Deutschland alles andere als abgeschlossen.
Insgesamt vermittelt Eine deutsche Sekte in Chile dem Publikum nicht, wie sehr die Colonia Dignidad zu einem Erinnerungsort und kulturellen Symbol geworden ist. In den letzten sechs Jahren sind ein halbes Dutzend Serien und Filme erschienen – Dokumentarfilme und fiktionale Produktionen –, und es existieren zahlreiche künstlerische Werke und Publikationen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Villa Baviera ist im Zuge dessen selbst zu einem Tourismusziel geworden – eine weitere erschreckende Facette dieser Geschichte über Kriminalität und Vernachlässigung.
Daniel G. Kressel ist Fellow der Minerva-Stiftung am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sein in Kürze erscheinendes Buch Hispanic Technocracy: Turning Fascism into Catholic Authoritarianism in Spain, Argentina, and Chile untersucht die Frühphase der neoliberalen Wende in Lateinamerika.
Philipp Kandler koordiniert das Projekt »Colonia Dignidad: Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv« (cdoh.net) an der Freien Universität Berlin. In seiner Doktorarbeit hat er sich mit der Reaktion der Diktaturen in Argentinien und Chile auf die internationale Menschenrechtskritik beschäftigt.
Daniel G. Kressel ist Fellow der Minerva-Stiftung am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sein in Kürze erscheinendes Buch Hispanic Technocracy: Turning Fascism into Catholic Authoritarianism in Spain, Argentina, and Chile untersucht die Frühphase der neoliberalen Wende in Lateinamerika.
Philipp Kandler koordiniert das Projekt »Colonia Dignidad: Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv« (cdoh.net) an der Freien Universität Berlin. In seiner Doktorarbeit hat er sich mit der Reaktion der Diktaturen in Argentinien und Chile auf die internationale Menschenrechtskritik beschäftigt.